Achtsamkeit in der Schule üben: Wie das funktioniert und was es bringt
Welchen Einfluss Meditationsübungen in der Klasse haben können – und wer besonders von ihnen profitiert

Meditation und Achtsamkeit fördern Aufmerksamkeit, Resilienz und das Klassenklima – oft schon durch einfache Übungen. Dr. Annika Schramm erläutert, wie diese Ansätze den Schulalltag bereichern, welche Herausforderungen bestehen und welche Schüler:innen besonders profitieren.
Redaktion: Frau Dr. Schramm, Sie haben zum Thema Achtsamkeit und Meditation in der Schule geforscht. Können Sie zunächst beschreiben, was diese Ansätze ausmacht und wie sie in den Kontext Schule passen?
Dr. Annika Schramm: Meditation kennen die meisten Menschen als Übungen, bei denen man beispielsweise sitzt und sich in Ruhe auf etwas konzentriert. Es ist so etwas wie „Zähneputzen fürs Gehirn“. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Meditation nicht immer entspannend ist, sondern auch viel Arbeit bedeuten kann. Man versucht, die Konzentration bewusst auf etwas zu richten, etwa den Atem, und sich liebevoll wieder darauf zu fokussieren, wenn die Gedanken abschweifen. Das ist eine anspruchsvolle Übung und quasi die „Meisterklasse“ unter den Achtsamkeitsübungen. Im schulischen Kontext gehen wir über Meditation hinaus und sprechen von Achtsamkeit, einem Begriff, der breiter gefasst ist. Achtsamkeit, wie sie Professor Jon Kabat-Zinn definiert hat, bedeutet, auf eine bestimmte Art und Weise aufmerksam zu sein: absichtsvoll, im gegenwärtigen Moment und ohne zu bewerten. Da längere Sitzmeditationen für die meisten Kinder und Jugendlichen ungeeignet sind, ist es wichtig, ein breiteres Spektrum an Achtsamkeitsübungen anzubieten."
Redaktion: Können Sie Beispiele für solche Achtsamkeitsübungen geben, die besonders für Schülerinnen und Schüler geeignet sind?
Schramm: Ein Beispiel ist achtsames Essen, etwa die sogenannte Rosinen- oder Zitronenübung. Dabei richtet man die Aufmerksamkeit nacheinander auf alle Sinnesempfindungen: das Aussehen der Rosine, das Geräusch, wenn man sie zwischen den Fingern reibt, ihren Geruch, das Gefühl an den Lippen und letztlich ihren Geschmack. Eine andere schöne Übung ist achtsames Gehen, beispielsweise barfuß über den Schulhof oder durch Gras. Oder man schließt draußen einfach für fünf Minuten die Augen und fokussiert sich nur auf das, was man hört. Es gibt eine Vielzahl von Programmen, die mit solchen Übungen arbeiten. Das bekannteste ist MBSR – Mindfulness-Based Stress Reduction, das für Erwachsene entwickelt wurde, aber auch für Kinder und Jugendliche adaptiert wird. Die Grundidee bleibt gleich: Übungen wie achtsames Gehen, Atmen oder Kommunizieren werden entsprechend der Zielgruppe angepasst. In der Grundschule sind die Übungen kürzer und spielerischer gestaltet, während man in der Oberstufe längere und tiefere Einheiten durchführen kann. Entscheidend ist, dass die durchführenden Personen die Zielgruppe gut kennen und die Inhalte flexibel an deren Bedürfnisse und Fähigkeiten anpassen. Nur so können die Übungen ihre volle Wirkung entfalten.
Redaktion: Was haben Sie im Rahmen Ihrer Forschung in der Schule durchgeführt?
Schramm: Die Versuchsgruppe von Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren hat wöchentlich an einer Schulstunde des zehnwöchigen Programm MAIDS (Meditation und Achtsamkeit in der Schule, Anm. d. Red.) teilgenommen. Dies beginnt in jeder Schulstunde mit einigen aktivierenden Körperübungen. Das Kernstück bildet eine Achtsamkeitsmeditation mit Fokus auf den natürlichen Atem, etwa 5 bis 15 Minuten. Zudem findet sich in jeder Stunde ein inhaltliches Thema mit Bezug zu Meditation und Achtsamkeit wie beispielsweise Impuls- und Emotionsregulation. Abgerundet wird der rhythmisierte Stundenaufbau durch eine Achtsamkeitsübung wie Bodyscan, achtsames Essen oder einen achtsamen Dialog. Bedürfnisse und Fähigkeiten anpassen. Nur so können die Übungen ihre volle Wirkung entfalten.
„Die Kinder und Jugendlichen profitierten durch das Mediations- und Achtsamkeitsprojekt besonders von Entspannung, Ruhe, Bei-sich-sein und innerer Ruhe.“
Dr. Annika Schramm
Redaktion: Welche Effekte haben Sie in Ihrer Forschung bezüglich Achtsamkeitsübungen im Unterricht feststellen können?
Schramm: In meiner Forschung konnte ich eine deutliche Verbesserung der Aufmerksamkeit bei den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern feststellen, gemessen durch einen Computertest, der wie ein kleines Spiel aufgebaut war. Dabei mussten die Kinder und Jugendlichen schnell und präzise reagieren, während sie gleichzeitig durch Störfaktoren abgelenkt wurden. Die Versuchsgruppe schnitt signifikant besser ab als die Kontrollgruppe, was zeigt, dass Achtsamkeitsübungen gezielt die Konzentrationsfähigkeit stärken können. Diese Fähigkeit ist natürlich nicht nur für das Lernen wichtig, sondern auch für ein störungsfreieres Klassenklima.
Die Schülerinnen und Schüler sowie deren Lehrkräfte berichten in der qualitativen Befragung von gesteigerter Konzentration, besseren Schulnoten sowie verbessertem Wohlbefinden und Klassenklima. Die Kinder und Jugendlichen profitierten durch das Mediations- und Achtsamkeitsprojekt besonders von Entspannung, Ruhe, Bei-sich-sein und innerer Ruhe. Sie genossen, dass es leiser in der Klasse wurde und sie sich besser konzentrieren konnten. Einige berichten von mehr Konfliktlösekompetenz und Selbstregulationsfähigkeit. Als angenehm wurde die Rhythmisierung und Abwechslung im Schulalltag durch die Stunde Meditation und Achtsamkeit erlebt. Besonders geeignet für die Durchführung erwies sich die Mittagszeit oder der Nachmittag, und als Ort kein spezieller Ruheraum, sondern das Klassenzimmer. Insgesamt empfanden die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler sowie deren Lehrkräfte das Projekt zu 80 Prozent positiv, und drei Viertel aller Befragten würde auch ein Schulfach „Meditation und Achtsamkeit“ sehr begrüßen. Ein Großteil der Lehrkräfte gab an, dass sie sich vorstellen könnten, ähnliche Übungen selbst in ihren Klassen umzusetzen, besonders wenn sie dafür geeignete Materialien oder eine entsprechende Fortbildung erhalten. Gleichzeitig äußerten einige den Wunsch nach externer Unterstützung, etwa durch speziell geschulte Achtsamkeitslehrerinnen und -lehrer.
Redaktion: Welche weiteren Effekte wurden in der Meditations- und Achtsamkeitsforschung festgestellt?
Schramm: Vielfach bestätigte Effekte von Meditations- und Achtsamkeitspraxis sind eine Reduktion von Stress, Schlafstörungen, Depressionen und Angst. Gesteigert werden hingegen Aufmerksamkeit, Wohlbefinden, Selbstwertgefühl, Kreativität, Immunfunktion sowie Emotionsregulation, Impulsregulation und Empathie.
Redaktion: Wie sind solche Effekte zu erklären?
Schramm: Der Schlüssel sind Konzentration sowie eine achtsame und freundliche Haltung sich selbst und den eigenen inneren Prozessen gegenüber. Während einer Achtsamkeitsmeditation die Konzentration auf dem natürlichen Atem zu halten, dabei andere Gedanken und Emotionen weiterziehen zu lassen und sich bei Ablenkung immer wieder sanft auf den Atem zu fokussieren, trainiert Ihre Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit. Auch negative Gedankenspiralen, die sogenannte Rumination, die bei Depression eine Rolle spielt, können Sie mit dieser erlernten Fähigkeit leichter durchbrechen. Einen freundlichen und zugewandten Umgang mit sich selbst während der Meditations- und Achtsamkeitsübungen können Sie auch mit der Zeit auf den Alltag übertragen. So lernen Sie, mit sich zufrieden und geduldig zu sein, was eine Erklärung für höheres Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und innere Ruhe ist. Wenn Sie sich wohl und entspannt fühlen, fühlen Sie sich automatisch weniger gestresst und ängstlich. Und wenn Sie sich ausgeglichen und ruhig fühlen, begegnen Sie auch anderen eher mit Verständnis und Empathie als mit Aggression.
Studie zur Achtsamkeit an der Schule
Die Dissertation von Dr. Annika Schramm mit dem Titel “MAIDS (Meditation und Achtsamkeit in der Schule) Auswirkungen auf Aufmerksamkeit und Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern sowie Klassenklima – eine quantitativ-qualitative Studie” (2022) hat die Auswirkungen von Achtsamkeitsübungen auf Schülerinnen und Schüler der fünften bis zehnten Klassen untersucht. Mithilfe eines kontrollierten Interventionsdesigns wurde eine Versuchsgruppe, die regelmäßig altersgerechte Achtsamkeitsübungen und Achtsamkeitsmeditation durchführte, mit einer Kontrollgruppe verglichen, die keine derartigen Übungen erhielt. Das Programm lief über zehn Wochen mit wöchentlichen Sitzungen. Zur Datenerhebung nutzte die Studie computergestützte Aufmerksamkeitstests, die Reaktionsgeschwindigkeit und Präzision unter Störfaktoren maßen. Ergänzt wurden diese Daten durch qualitative Rückmeldungen von Lernenden und Lehrkräften. Die Ergebnisse zeigten eine signifikante Verbesserung der Aufmerksamkeit in der Versuchsgruppe, und die Befragten berichteten von gesteigertem Wohlbefinden, Entspannung, innerer Ruhe, Konfliktlösekompetenz, Selbstregulation und verbessertem Klassenklima. Die hohe Akzeptanz der Übungen bei Lernenden und Lehrkräften unterstreicht das Potenzial von Achtsamkeitsprogrammen als wertvolles Werkzeug im schulischen Kontext.
Redaktion: Wie können Lehrkräfte diese Übungen gut in ihren Unterricht integrieren, und wo sehen Sie potenzielle Herausforderungen?
Schramm: Der wichtigste Schritt für Lehrkräfte ist, selbst mit den Übungen vertraut zu sein. Es hilft ungemein, eigene Erfahrungen zu sammeln und Übungen auszuwählen, mit denen man sich wohlfühlt. Wenn eine Lehrkraft beispielsweise keinen Zugang zu der Methode des Body Scans findet, kann sie stattdessen eine Traumreise oder eine Atemübung wählen. Es geht darum, authentisch zu sein und die eigene Begeisterung zu teilen.
Auch der Raum spielt weniger eine Rolle, als man zunächst denkt. Achtsamkeitsübungen können problemlos im Klassenzimmer stattfinden. Wie eine Lehrerin einmal sagte, ist der eigene Stuhl im Klassenraum ein “Zuhause” für die Schülerinnen und Schüler, ein Ort, an dem sie sich sicher fühlen. Wichtig ist, mit kürzeren, einfachen Übungen zu starten und der Klasse Zeit zu geben, sich an die neue Praxis zu gewöhnen. Zu Beginn kann es zum Beispiel ungewohnt sein, Stille auszuhalten. Aber mit der Zeit lernen die Schülerinnen und Schüler, diese Momente zu schätzen und als Schutzraum zu nutzen.
Niedrigschwellige Übungen wie Fantasiereisen oder kurze Atemübungen sind ein guter Einstieg. Lehrkräfte können die Klasse beispielsweise einladen, gemeinsam fünf Minuten lang nur den natürlichen Atem zu beobachten – ein simples, aber effektives Experiment. Anschließend kann man über die Erfahrungen sprechen, was oft überraschend spannend ist. Solche kleinen Schritte helfen, Achtsamkeit nachhaltig in den Schulalltag zu integrieren.
Redaktion: Gibt es bestimmte Gruppen, die besonders von diesen Ansätzen profitieren?
Schramm: Tatsächlich profitieren alle Schülerinnen und Schüler von Achtsamkeitsübungen, aber besonders deutlich zeigt sich der Nutzen bei Kindern aus sozial benachteiligten Verhältnissen oder mit Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeit. Diese Kinder haben oft mehr “Luft nach oben”, da sie durch die Übungen grundlegende Fähigkeiten wie Fokus und Resilienz stark ausbauen können. Das liegt daran, dass Achtsamkeitsübungen eine Art Muskeltraining für die Aufmerksamkeit darstellen.
Aber auch Schülerinnen und Schüler, die bereits gute Ausgangswerte mitbringen, können in anderen Bereichen profitieren, etwa bei der Stressbewältigung, der Stärkung des Selbstwertgefühls oder der Förderung von Empathie und sozialer Kompetenz. Es gibt kaum jemanden, der nicht in irgendeiner Form von Achtsamkeitsübungen profitieren könnte.
Redaktion: Könnten Sie sich vorstellen, dass Achtsamkeit und Meditation über den Unterricht hinaus Teil eines ganzheitlichen Schulkonzepts werden?
Schramm: Absolut. Es gibt bereits Schulen, die diese Ansätze in ihre Schulkultur integriert haben, beispielsweise durch regelmäßige Angebote wie ein “achtsames Ankommen” vor Schulbeginn oder kurze Achtsamkeitspausen in der Mittagszeit. Besonders in Ganztagsschulen könnte dies einen wichtigen Beitrag leisten, um den Schülerinnen und Schülern einen Moment des Innehaltens und der Regeneration zu bieten.
Ein weiterer Vorteil eines solchen Konzepts wäre, dass es die Schulkultur insgesamt positiv beeinflussen könnte. Wenn Lehrkräfte und Schulleitungen sich darauf einlassen, könnten diese Ansätze nicht nur die Schülerinnen und Schüler stärken, sondern auch das Kollegium entlasten und die Zusammenarbeit fördern. Leider sind solche umfassenden Ansätze bisher oft noch stark an Einzelpersonen gebunden. Wünschenswert wäre es, wenn Achtsamkeit und Meditation fest in den Strukturen von Schulen verankert würden.
Redaktion: Frau Dr. Schramm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Dr. Annika Schramm ist Expertin für Achtsamkeit und Meditation im schulischen Kontext. Ihre Forschung fokussiert sich auf die Auswirkungen von Achtsamkeitsübungen auf Aufmerksamkeit, Wohlbefinden und soziale Dynamik bei Schülerinnen und Schülern. Sie promovierte 2022 mit einer kontrollierten Interventionsstudie und arbeitet heute als Mental Health Coach an Schulen und als Fortbildungsreferentin.