Als hätte es Corona nicht gegeben

Interview mit Professor Marcel Helbig im Mai 2021

Professor Marcel Helbig gehört zum Kreis der Bildungsforscher, die sich schon sehr früh mit den möglichen Folgen des eingeschränkten Unterrichts in Corona-Zeiten auseinandergesetzt haben. In dem im Mai 2021 aufgezeichneten Interview äußert er Skepsis, dass die bislang eingeleiteten bildungspolitischen Maßnahmen zur Krisenbewältigung taugen.

Die Pandemie verschärft die Bildungsungerechtigkeit

Bereits in einem für das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) verfassten Artikel stellt Professor Marcel Helbig fest: In Deutschland ist die Datenlage zu den Folgen der Schulschließungen noch äußerst dünn und die vorliegenden internationalen Studienergebnisse fallen teilweise widersprüchlich aus. Aus seiner Sicht ist die empirische Basis derzeit nicht hinreichend, um wissenschaftlich fundierte Aussagen zu den verursachten Lerndefiziten zu machen.

Gleichwohl sieht Helbig begründete Anzeichen dafür, dass Schulschließungen und Distanzunterricht die oft kritisierte Bildungsungerechtigkeit weiter verschärfen. Er sieht einen evidenten Zusammenhang zwischen Herkunft der Schüler und Schülerinnen und dem Ausmaß des verpassten Lernstoffs. Hier konstatiert er eine strukturelle Benachteiligung bestimmter Gruppen.

Ist der Erwartungsdruck auf die Schulen zu hoch?

Dabei stellt der Bildungsforscher die derzeit diskutierten Lösungsvorschläge der Politik wie etwa flächendeckende Nachhilfeprogramme oder eine freiwillige Klassenwiederholung kritisch auf den Prüfstand. 

„Lehrkräfte benötigen genügend Handlungsspielraum, damit verpasster Lernstoff angemessen nachgeholt werden kann, bevor neuer dazu kommt.“

Prof. Marcel Helbig

Im Für und Wider wägt er ab, inwieweit sie geeignet sind, entstandene Ungleichheiten abzubauen und Mindeststandards in den Schulfächern zu garantieren, ohne auf die Schülerinnen und Schüler mit großen Lernlücken Druck auszuüben oder diejenigen zu langweilen, die besser mit der Situation zurechtgekommen sind. Zudem sollten Lehrkräfte genügend Handlungsspielraum erhalten, damit verpasster Lernstoff angemessen nachgeholt werden kann, bevor neuer hinzukäme. Helbigs Zwischenfazit: Die bislang von der Bildungspolitik präsentierten Lösungen sind seiner Meinung nach mangelhaft!

Ursprüngliche Lernziele müssen verworfen werden

Die Maßnahmen wertet Helbig als Ausdruck eines verstaubten und problematischen Denkens. Die Lernrückstände würden als Defizit einzelner Schülerinnen und Schüler angesehen, das es wieder auszugleichen gelte. 

„Die Leistungsstärkeren, die trotz der Einschränkungen die Lehrplanziele erreichen, dürfen nicht als Maßstab gelten.“

Prof. Marcel Helbig

Damit erkläre man die Leistungsstärkeren, die trotz der Einschränkungen die Lehrplanziele erreichen, zum Maßstab. Die anderen versuche man etwa durch Nachhilfe oder individuelle Klassenwiederholung wieder auf Kurs zu bringen. Damit würden die schulischen Folgen der Pandemie unausgesprochen zu einem individuellen Versagen erklärt, „so als hätte es Corona nicht gegeben“. 

Eine verlängerte Schulzeit könnte das Problem lösen

Helbig sieht dagegen in der Pandemie eine „systemische Problemlage“ und will seine Überlegungen als Anstoß für die öffentliche Debatte verstanden wissen. Die Politik fordert er auf, sich stärker auf jene zu fokussieren, die dadurch die größten schulischen Nachteile erleiden.


Konkret: Bei der Frage, wie die „Corona-Schulzeit“ am besten bewältigt werden könne, müsse man sich vor allem an den Bedürfnissen derjenigen orientieren, die „keinen Internetanschluss, kein Endgerät hatten, deren Eltern kein Deutsch sprechen, denen die Eltern nicht helfen konnten, die psychisch stark unter den Schulschließungen gelitten haben, in deren Wohnort die Schulen häufig geschlossen waren, weil es hohe Virus-Inzidenzen gab, deren Lehrkräfte kein oder wenig Feedback gaben den Distanzunterricht nicht gut strukturierten oder nicht erreichbar waren.“

Eine Verlängerung der Schulzeit zieht Helbig deshalb ebenso in Erwägung wie jahrgangsübergreifendes Lernen. Beides könnte den in seinen Augen doch unnötigen Druck auf alle involvierten Akteure rausnehmen und dazu führen, dass Lernrückstände im regulären Schulbetrieb aufgeholt werden. 
 

Das komplette Video-Interview finden Sie auf dem YouTube-Kanal der aim Akademie oder hier im Podcast: