Anerkennung im Unterricht – Wie nonverbale Signale Inklusion beeinflussen
Nicht jede Form der Anerkennung stärkt das Miteinander. Nonverbale Signale wie Gesten oder Blicke können auch festlegen, beschämen und Inklusion erschweren.

Anerkennung ist ein Schlüssel zur Inklusion. Doch als wen und wofür wir jemanden anerkennen, wird von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen geprägt – und ist damit immer auch eine Frage von Macht. Dr. Hannah Nitschmann untersucht, wie Kinder auf körperliche Anerkennung – etwa durch einen Blick oder ein Nicken – reagieren und in diesem Prozess ihre Identität neu aushandeln.
Kommt Ihnen das aus dem Schulalltag bekannt vor? Es gibt diesen einen Schüler oder diese eine Schülerin, die als Klassenclown abgestempelt wird und regelmäßig das Klassenzimmer verlassen muss. Oder das Kind, das immer besonders hilfsbereit ist und daher vor allem als „die Nette“ oder „der Brave“ wahrgenommen und in ihren oder seinen weiteren Fähigkeiten unterschätzt wird? Genau darum geht es: um Anerkennung. Denn die Art und Weise, wie wir andere anerkennen, entspricht nicht zwangsläufig dem Bild, das sie von sich selbst haben. Möglicherweise fühlt sich jemand durch eine bestimmte Form der Anerkennung nicht gesehen oder gar auf eine Rolle festgelegt.
Warum Anerkennung ein Schlüssel für Inklusion ist
Was, wenn die als unruhig wahrgenommene Mitschülerin lieber für ihre Kreativität oder ihren Einfallsreichtum geschätzt würde? Oder das hilfsbereite Kind nicht nur für seine Freundlichkeit, sondern auch für seine sportlichen, künstlerischen oder intellektuellen Fähigkeiten Anerkennung erfahren könnte?
Anerkennung gilt als zentrale Voraussetzung für Inklusion. Sie bedeutet, Verschiedenheit wahrzunehmen und Schülerinnen und Schüler in ihrem „So-Sein“ positiv zu bestätigen. Doch Anerkennung ist nicht neutral. Denn die Maßstäbe, nach denen sie im Unterricht vergeben wird, sind oft unausgesprochen und knüpfen an gesellschaftliche Normen und Erwartungen an.
Wie Erwartungen Anerkennung beeinflussen
Wir alle sind als Individuen auf die Anerkennung anderer angewiesen, um als „jemand“ zu gelten und eine soziale Rolle einnehmen zu können. Judith Butler (u.a. 2001) betont, dass Anerkennung dabei jedoch immer an gesellschaftliche Normen und Vorstellungen geknüpft ist. So erfordert beispielsweise die Rolle einer „guten“ Schülerin oder eines „guten“ Schülers ein hohes Maß an körperlicher Selbstregulation. Kinder, deren Verhalten im Unterricht als zu unruhig, laut oder distanzlos wahrgenommen wird, sind besonders von Ausgrenzung bedroht. Anerkennung wird also nicht bedingungslos gewährt, sondern ist an bestimmte Erwartungen gebunden ist. Erst durch die Erfüllung dieser Normen werden Personen als Mädchen, als Junge oder eben als gute Schülerinnen und Schüler „anerkennbar“.
Darüber hinaus prägt Anerkennung unser Selbstverständnis: Als wer oder wofür werden wir von anderen wahrgenommen? Diese Fremdzuschreibungen beeinflussen maßgeblich unsere Identifikationsmöglichkeiten und damit auch die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen. Wenn Schülerinnen und Schüler etwa vorrangig als „leistungsstark“, „auffällig“ oder „besonders förderbedürftig“ oder als Vertreterinnen und Vertreter „fremder“ Kulturen wahrgenommen werden, kann Anerkennung auch einschränkend wirken, indem sie Individuen auf bestimmte Merkmale reduziert.
Anerkennung ist daher immer mit Machtfragen verbunden: Wer legt – beispielsweise im schulischen Kontext – die Bedingungen fest, unter denen Anerkennung gewährt wird? Und welche Möglichkeiten gibt es, diese Normen zu hinterfragen oder neu auszuhandeln?
Auch Blicke vermitteln Anerkennung
Wenn wir an Anerkennung im Unterricht denken, verbinden wir sie oft mit Lob oder Wertschätzung. Doch Anerkennung zeigt sich nicht nur in Worten – auch Körperhaltungen, Bewegungen, Mimik und Gestik spielen eine entscheidende Rolle. Ein aufmerksamer Blick oder ein ermunterndes Nicken können Anerkennung vermitteln und Interaktionen prägen.
In meiner Forschung untersuche ich, inwieweit körperliche Ansprachen und Reaktionen den Betroffenen ermöglichen, eine ihnen zugeschriebene Identität zu hinterfragen, neu zu verhandeln oder gar abzulehnen.
Meine Untersuchung basiert auf teilnehmenden Beobachtungen an Kölner Grundschulen. Ein Forschungsteam begleitete dafür verschiedene Klassen im Unterrichtsalltag und zeichnete zeitweise Sequenzen auf Video auf. Diese Aufnahmen ermöglichten es, flüchtige körperliche Interaktionen zwischen Schülerinnen und Schülern sichtbar zu machen, sprachlich zu erfassen und mithilfe eines sequenzanalytischen Ansatzes zu interpretieren.
Wie Kinder Anerkennung verhandeln
Meine Beobachtungen zeigen, dass Kinder, die aufgrund einer Migrationsgeschichte oder einer Beeinträchtigung in der (deutschen) Verbalsprache als schwer erreichbar gelten, besonders häufig körperlich adressiert werden. Diese Praktiken sind durchaus kritisch zu betrachten, da sie – neben ihrem Potenzial für Verständigung – auch Formen der Bevormundung oder gar Übergriffigkeit beinhalten können.
Zudem wird deutlich, dass Kinder während des Unterrichts oft in ihre eigenen „Geschichten“ verstrickt sind, die sich weitgehend außerhalb der Wahrnehmung der Lehrkraft abspielen. Durch ein Grinsen, ein Anrempeln oder Sich-Abwenden verhandeln Schülerinnen und Schüler Fragen, bei denen Identität „auf dem Spiel steht“. Werden diese Interaktionen kommentiert und durch eine Lehrkraft als Störung markiert, schließen sich diese Aushandlungsprozesse. Versuche der Kinder, sich oder eine als ungerecht empfundene Bewertung zu erklären, werden dadurch häufig unterbunden – und damit die Möglichkeit verwehrt, Identität zu verhandeln. Gleichzeitig können Bewertungen der Lehrkraft auch bestehende Machtverhältnisse unter Peers verschieben: Sie können grenzverletzendes Verhalten legitimieren und „zurechtrücken“, aber auch von Peers anerkannte Handlungen unterbinden, reglementieren oder gar sanktionieren.
Auch zeigen die Feinanalysen meiner Arbeit, dass selbst wohlmeinende Verständnisbekundungen beschämend wirken können – und dass Scham wiederum sozial erwünschtes Verhalten hervorbringen kann. So wurde abweichendes Verhalten – sei es ein „zu“ bewegtes, distanzloses oder emotionales Auftreten – einzelner Kinder beispielsweise vor der Klasse mit einem (noch) Nicht-Können, Nicht-Verstehen oder mangelnder Körperwahrnehmung erklärt oder gar entschuldigt. Dabei wurden die Betroffenen weder selbst zu Wort gebeten, noch wurde ihre Körpersprache als Ausdruck eigener Perspektiven anerkannt. Gut gemeinte ‚Fürsprachen‘ können daher als beschämend empfunden werden.
Gleichzeitig führten Interventionen der Lehrkräfte zunächst dazu, dass sich die Kinder unauffälliger verhielten und damit die unterrichtlichen Erwartungen erfüllten. In diesen Momenten lässt sich beobachten, wie Körper verstummen oder sich gewissermaßen „unsichtbar machen“. Je verletzender eine (körperliche) Zurückweisung oder Zuschreibung empfunden wird, desto geringer ist die Möglichkeit, darauf zu reagieren, sich zu positionieren oder sich zu verteidigen.
Worauf Lehrkräfte achten können
Erstens sollten sich Lehrkräfte der körperlichen Anerkennungsprozesse bewusst sein. Durch aufmerksame Wahrnehmung und Analyse von Interaktionen können sie subtile Prozesse der Ausgrenzung erkennen und reflektieren – etwa durch Regeln zur Sitzplatzwahl im Kreis, wie „Mädchen neben Jungen“. Gleichzeitig wird deutlich, dass Kinder nicht nur als „Schülerin“ oder „Schüler“ am Unterricht teilnehmen, sondern als ganze Personen mit eigenen Themen und Dynamiken. Mehr Raum für diese Perspektiven zu schaffen, könnte zu einer erweiterten Form der Anerkennung im Klassenzimmer beitragen.
Zweitens rückt der Fokus auf die Körperlichkeit der Anerkennung die „Stimme des Körpers“ in den Mittelpunkt – auch wenn jede Interpretation körperlicher Ausdrucksformen stets eine Annäherung bleibt. Inklusive Prozesse könnten davon profitieren, der Körpersprache mehr Aufmerksamkeit zu schenken, insbesondere wenn Kinder nicht (im erwarteten Maß) über verbale Sprache verfügen.
Drittens bedeutet Anerkennung, Kinder nicht auf ein bestimmtes „So-Sein“ festzulegen. Schülerinnen und Schüler, deren körperliches Verhalten nicht den üblichen Erwartungen im Unterricht entsprechen, sollten jenseits von festen Zuschreibungen – etwa als Störende – die Möglichkeit erhalten, auch andere Facetten ihrer Identität zur Geltung zu bringen. Dies eröffnet neue Spielräume für Anerkennung, die über festgelegte Rollenbilder hinausgehen.