Angst, Depressionen, Essstörungen: wichtige Warnzeichen im Klassenzimmer

Viele Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Erkrankungen – doch wie gehen Lehrkräfte damit um? Alix Puhl, Gründerin des gemeinnützigen Mental-Health-Unternehmens Tomoni, gibt im Interview Hinweise.

Es zeigt sich zum Beispiel durch ein plötzliches Zurückziehen oder regelmäßiges Zuspätkommen: Psychische Erkrankungen treten in nahezu jedem Klassenzimmer auf. Doch wie können Lehrkräfte die Warnzeichen für diese erkennen? Und was ist dann der nächste Schritt? Alix Puhl hat sich mit dem von ihr und ihrem Mann gegründeten gemeinnützigen Unternehmen auf die Früherkennung von Anzeichen psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen spezialisiert. Sie gibt unter anderem wissenschaftlich fundierte Online-Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema. Im Interview berichtet sie von den wichtigsten Warnzeichen und erklärt, warum es bei psychischen Erkrankungen entscheidend ist, als Team im Kollegium und der ganzen Schule zu arbeiten.

Redaktion: Frau Puhl, Studien zeigen, dass etwa 20 Prozent der deutschen Jugendlichen von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Welche sind das üblicherweise? Worauf treffen Lehrkräfte in Klassenzimmern konkret?

Alix Puhl: Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen gehören Angststörungen, Depressionen und Essstörungen – letztere nehmen aktuell auch bei Jungen stark zu. Suchtprobleme sind ebenfalls oft Thema, vor allem im Hinblick auf Mediennutzung sowie Alkohol- und Drogenkonsum. Auch Suizidgedanken und selbstverletzendes Verhalten sind präsent, wobei diese Symptome und keine eigenständigen Diagnosen sind. In der Grundschule gibt es vermehrt spezifische Störungen wie Autismus und ADHS sowie oftmals mit psychischen Erkrankungen einhergehende Lernschwächen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Dyskalkulie. Mindestens eines dieser Themen begegnet Lehrkräften statistisch gesehen in jeder Klasse.

Redaktion: Das sind ernstzunehmende Probleme, die sehr fordernd für Schüler:innen und ihre Lehrkräfte sein können. Wie gehen Lehrkräfte mit diesen Situationen um?

Puhl: Die beschriebenen psychischen Probleme sind für Lehrkräfte meist schwer zu greifen und zu benennen. Das führt zu einem Gefühl von Hilflosigkeit, das die Lehrkräfte auch nach Schulschluss mit nach Hause nehmen. Aus unseren Umfragen wissen wir, dass Lehrkräfte sich dringend Wissen zu diesen Themen wünschen, um sich im Umgang mit diesen sicherer zu fühlen. Es geht allerdings nicht darum, dass sie diagnostizieren oder therapieren. Essenziell ist aber, dass sie die Anzeichen erkennen und verstehen, damit sie ihre Verantwortung für die körperliche und seelische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler wahrnehmen können. Diese Verantwortung ist in allen 16 Landesgesetzen verankert und damit eine gesetzliche Aufgabe für Lehrkräfte – und genau diese Verantwortung kann belasten. Ich habe bei einer unserer Fortbildungen eine Lehrkraft getroffen, die drei Handys mit sich führte: ein privates, ein berufliches und ein drittes für Schüler und Schülerinnen, um die sie sich Sorgen macht und die darauf auch nachts anrufen können. Das zeigt zum einen, wie weitreichend die Problematik ist. Zum anderen verdeutlicht es, wie wichtig es ist, die Rolle klar zu definieren. Lehrkräfte sind weder die Eltern noch die Therapeutinnen und Therapeuten ihrer Schülerinnen und Schüler. Wir möchten, dass Lehrkräfte wissen, was sie tun können und wo die Grenzen ihrer Aufgabe liegen – das entlastet sie langfristig, weil sie dann mit einem sicheren Gefühl nach Hause gehen können.

„Lehrkräfte haben den Vorteil, dass sie viele Gleichaltrige sehen und dadurch Veränderungen besser einordnen können – etwas, das Eltern oft schwerfällt.“

Alix Puhl

Redaktion: Wo sehen Sie die Verantwortung der Lehrkräfte und wo stoßen diese an ihre Grenzen? Was können sie tatsächlich tun?

Puhl: Die Hauptverantwortung liegt bei den Eltern. Lehrkräfte haben jedoch den Vorteil, dass sie viele Gleichaltrige sehen und dadurch Veränderungen besser einordnen können. Das fällt Eltern tendenziell schwerer. Ein weiterer Vorteil ist, dass Kinder sich in der Schule Lehrkräfte aussuchen können, zu denen sie Vertrauen aufbauen. Viele Jugendliche verbringen mehr Zeit in der Schule als zu Hause und nehmen Lehrkräfte als nicht emotional in ihre Lebenswelt involvierte Erwachsene wahr. Anders als bei vielen Eltern, die vielleicht selbst krank oder gestresst sind. Lehrkräfte haben hierzu eine gesunde Distanz und können den Kindern so helfen, Probleme zu besprechen und Unterstützung anzunehmen. Manchmal reicht schon ein einfaches Zeichen von Wertschätzung – ein Lächeln oder ein “Ich sehe dich, und du bist in Ordnung so, wie du bist”. Auch ein regelmäßiges kurzes Gespräch kann Halt geben. Es gab da zum Beispiel den Fall eines Mädchens, das eine schwere Phase überstehen musste. Sie musste sechs Monate auf einen Therapieplatz warten. Und ihr gelang das, weil ihre Lehrerin sich jede Woche einmal nach der sechsten Stunde zehn Minuten Zeit nahm, um mit ihr zu sprechen und um sie wirklich zu sehen. Solche kleinen Gesten können entscheidend sein. Unsere Botschaft an die Lehrkräfte ist daher: Es braucht oft nicht viel – manchmal genügt es, einfach da zu sein und den Schülerinnen und Schülern die bestehenden Hilfsangebote aufzuzeigen. Das kann langfristig alle entlasten.

Redaktion: Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit im Kollegium beim Thema psychische Erkrankungen von Kindern?

Puhl: Es ist enorm wichtig, dass Lehrkräfte im Kollegium abgestimmt vorgehen, wenn sie bei Schülerinnen oder Schülern Anzeichen psychischer Probleme vermuten. Manchmal zeigt ein Kind in einem Fach Probleme, die in anderen Fächern auch oder eben nicht auftreten. Wenn eine Lehrkraft ein ungutes Gefühl hat, hilft es, die Beobachtungen mit denen der Kolleginnen und Kollegen abzugleichen. Besonders an weiterführenden Schulen, an denen Schülerinnen und Schüler mehrere Lehrkräfte haben, kann das Team überlegen, wer die passende Ansprechperson ist. Lehrkräfte sollten sich dabei bewusst sein, dass sie nicht immer die Richtigen sein müssen, etwa wenn sie selbst stark belastet sind oder unbewusste Vorbehalte gegenüber einem Kind haben. Sich abzusprechen,eine geeignete Ansprechperson zu bestimmen und aufmerksam zu sein, ist der erste Schritt. Kinder schildern immer wieder, dass sie in der Schule stille Hilferufe aussenden, die nicht wahrgenommen werden. Ein Schüler erzählte uns etwa, dass er im Sportunterricht auffällig seine Hose hochgeschoben habe, um Verletzungen zu zeigen – doch die Lehrkraft hat nichts dazu gesagt. Solche fehlenden Reaktionen erschüttern das Vertrauen der Kinder. Ein kollegial abgestimmtes Hinschauen und Ansprechen können hier entscheidend sein.

Tomoni

Tomoni Mental Health ist ein gemeinnütziges Unternehmen aus Frankfurt am Main, das sich auf die Früherkennung von Anzeichen psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen spezialisiert hat. Das 24-köpfige Team entwickelt wissenschaftlich fundierte Angebote, um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Die Arbeit von Tomoni wird durch wissenschaftliche und pädagogische Beiräte, den parents circle sowie die game.changers, ein wachsendes Netzwerk engagierter Jugendlicher, unterstützt. Seit Anfang 2023 bietet Tomoni Online-Fortbildungen via Zoom an, die sich unter anderem an Lehrkräfte richten. Die Gründer von Tomoni, Alix und Oliver Puhl, haben das Unternehmen nach dem Verlust ihres Sohnes Emil im Jahr 2020 ins Leben gerufen. Emil litt an den Folgen einer Autismus-Spektrum-Störung und einer schweren Depression, die erst zwei Monate vor seinem Suizid erkannt wurde.

Redaktion: Sind denn überhaupt Warnsignale für alle gängigen psychischen Erkrankungen durch Lehrkräfte wahrnehmbar? Vieles zeigt sich ja vielleicht auch nur außerhalb des Klassenzimmers?

Puhl: Genau, deshalb spielen alle Mitarbeitenden in Schulen eine wichtige Rolle. So sieht die Schulhausverwaltung zum Beispiel, wenn ein Kind regelmäßig zu spät kommt. Die Gründe können von Müdigkeit nach langen Gaming-Nächten bis hin zu einer sozialen Phobie, die das Kind vom frühen Betreten des Gebäudes abhält, reichen. Die Verwaltung kann das wahrnehmen, während Lehrkräfte es möglicherweise nicht bemerken, da sie nicht jeden Tag in der ersten Stunde unterrichten. Auch das Schulsekretariat hat Einsichten in das Wohl der Kinder. Es sieht zum Beispiel, wenn ein Kind regelmäßig wegen Bauchschmerzen abgeholt wird oder ständig kleine Pausen benötigt. Diese Berufsgruppen haben einen wertvollen Überblick über das Verhalten der Kinder außerhalb des Unterrichts, sind jedoch zu wenig in die Diskussion um das Wohl der Schülerinnen und Schüler integriert. Darüber hinaus kommt natürlich einer aufmerksamen Schulsozialarbeit oder Schulpsychologie – sofern vorhanden – eine wichtige Bedeutung zu, gerade auch als Anlaufstelle für besorgte Lehrkräfte.

„Manche Kinder müssen nach jeder Mahlzeit sofort auf die Toilette und kommen danach Kaugummi kauend zurück – solche Muster sind klare Alarmsignale.“

Alix Puhl

Redaktion: Können Sie genauer darauf eingehen, wie sich Warnsignale im Unterricht zeigen können? Was sind Beispiele, die Lehrkräfte aufhorchen lassen sollten?

Puhl: Viele psychische Erkrankungen zeigen sich durch Veränderungen im Verhalten. Bei einer Depression etwa ziehen sich Betroffene eher zurück oder wirken überangepasst und extrem ruhig.Das fällt vor allem in einem lebhaften Klassenumfeld auf. Andere zeigen eine übertriebene Fröhlichkeit, was ebenfalls ein Anzeichen dafür sein kann, dass etwas nicht stimmt. Besonders aggressivem Verhalten könnte wiederum eine Angststörung oder Depression zugrunde liegen. Wenn sich Themen häufig um Sterben und Tod oder auch Essen drehen, können das ebenso Warnsignale sein. Essstörungen etwa zeigen sich gewöhnlich durch zwanghafte Gedanken zu Kalorien, Gewicht oder Mahlzeiten. Betroffene wirken im Unterricht gedanklich abwesend, weil sie sich permanent mit Essen oder Gewicht beschäftigen. Manche Kinder müssen nach jeder Mahlzeit sofort auf die Toilette und kommen danach Kaugummi kauend zurück – solche Muster sind klare Alarmsignale.

Redaktion: Wenn solche psychische Auffälligkeiten wahrgenommen werden: Wie sieht dann eine effektive Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Eltern und Fachleuten wie Schulpsycholog:innen aus?

Puhl: Die Zusammenarbeit hängt sehr von der Situation ab. Bei akuten Fällen, wie bei Schülerinnen und Schülern mit Suizidgedanken, muss sofort gehandelt werden. In weniger dringenden Fällen ist ein vorsichtiges Herantasten wichtig und in Absprache mit der Schülerin oder dem Schüler das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Die vorhandenen Unterstützungsstrukturen sind je nach Schule und Bundesland sehr unterschiedlich. Manche Schulen haben Beratungsteams eingerichtet, was wir sehr sinnvoll finden. Dort können Kontakte zu lokalen Kliniken, Erziehungsberatungsstellen und anderen Anlaufstellen gebündelt werden. So kann die Schule Eltern nicht nur über die Beobachtungen informieren, sondern ihnen auch konkrete Adressen anbieten. Ein solches Beratungsteam kann auch Standards für den Umgang mit psychischen Problemen entwickeln, um Lehrkräfte zu entlasten. Wichtig ist, dass nicht jede Lehrkraft zu jeder Zeit als die richtige Person für jeden Schüler oder Schülerin solche Gespräche führen muss. Einigen fällt das leicht und sie haben auch gerade mentale Kapazität dafür und werden von den Schülerinnen und Schülern als Ansprechperson gewählt – andere tun sich in dieser Rolle schwer. Hauptsache, die Beobachtungen werden geteilt und eine Person übernimmt die Aufgabe. Wir empfehlen Schulleitungen, die Lehrkräfte so auf die Klassen zu verteilen, dass mindestens eine Lehrkraft mit einer hohen Ansprechbarkeit in jeder Klasse unterrichtet.

Redaktion: Was können Schulleitungen tun, um an ihrer Schule präventiv für das psychische Wohl ihrer Schülerinnen und Schüler zu sorgen?

Puhl: Schulleitungen können bewusst auf einen wertschätzenden Umgang und ein gutes Schulklima achten. Mobbing ist bekanntlich ein Problem an Schulen, das sich auch negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt. Wenn Begriffe wie ‚Autist‘ als Beleidigung benutzt werden, sollte das sofort unterbunden werden. Schulen können präventiv auch „stille Räume” anbieten, in die sich Schülerinnen und Schüler zurückziehen können. Davon profitieren etwa Kinder mit sozialen Phobien oder aus dem Autismus-Spektrum, die durch den ständigen Lärm im Schulalltag stark belastet werden. Zudem sind Kopfhörer für Stillarbeitsphasen oder kleine Hilfsmittel zur Stressbewältigung im Unterricht hilfreich. Wichtig ist, dass Schulen lokale Anlaufstellen und überregionale Notfallnummern wie die ‚Nummer gegen Kummer‘ regelmäßig vorstellen und bekanntmachen, idealerweise direkt am Anfang des Schuljahres. Es hilft sehr, solche Informationen auch an unauffälligen Orten, wie zum Beispiel auf den Toiletten, auszuhängen, damit sie einfach und diskret abfotografiert werden können. Außerdem ist es sinnvoll, das Thema der psychischen Gesundheit regelmäßig im Unterricht anzusprechen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Schulen können auch Projekttage veranstalten und externe Expertinnen und Experten einladen, die direkt mit den Kindern und Jugendlichen sprechen. Eine weitere Möglichkeit ist eine wöchentliche Sprechstunde mit einer Schulpsychologin oder einem Schulpsychologen oder dem Schulsozialarbeiter oder der Schulsozialarbeiterin. Wichtig dabei ist, dass Schülerinnen und Schüler sich für diese diskret anmelden können, etwa per E-Mail anstatt über das Sekretariat. Solche einfachen Maßnahmen fördern das Vertrauen der Kinder und helfen, das Thema psychische Gesundheit zu entstigmatisieren. Es ist wichtig, dieses Thema konsequent und sensibel in den Schulalltag einzubinden.

Redaktion: Frau Puhl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Alix Puhl ist Gründerin von Tomoni Mental Health, einem gemeinnützigen Unternehmen, das sich der Förderung der psychischen Gesundheit von Schülerinnen und Schülern widmet. Mit einem fundierten Hintergrund in Psychologie und Bildungsarbeit bietet es unter anderem Lehrkräften praxisnahe Unterstützung und wissenschaftlich fundierte Ansätze im Umgang mit psychischen Erkrankungen im Schulalltag.