„Bildungsarmut muss nicht sein!”
Umfassende Fach- und schulformübergreifende Mindeststandards sind überfällig, meint Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth und begründet im Interview warum.
In seinem Impulsvortrag auf dem Bildungspolitischen Forum am 27. September in Berlin hat Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth erneut die Formulierung von Mindeststandards für die Schulen eingefordert. Er hält sie als Grundlage für individuelle Förderung für unerlässlich – und nach dem jüngsten Urteil des Verfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit von Schulschließungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie für zwingend geboten. Im Interview macht er deutlich, dass Politik und Bildungsforschung nun gleichermaßen gefordert sind.
Redaktion: Herr Professor Tenorth, Sie haben bereits vor gut 20 Jahren die Einführung von eigenständig definierten, fach- und schulformübergreifenden Mindeststandards gefordert. Was hatten sie dabei im Sinn?
Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth: Als historisch orientierter Bildungsforscher hatte ich damals an eine alte Formel erinnert, die seit den Beratungen über ein „Recht auf Bildung“ in der Paulskirche 1848 und um 1900 erneut in der Sozialdemokratie genutzt wurde, um festzuhalten, über welche Kompetenzen alle Heranwachsenden einer Gesellschaft verfügen müssen. In dem Sinne, wie es der Liberale Gustav Rümelin 1868 ausgedrückt hat: als „Grundlage aller allgemeinen menschlichen Kultur, die zum Fortkommen in der bürgerlichen Gesellschaft unerlässlich sind.“ Diese „Garantie des Bildungsminimums“ und die „Kultivierung der Lernfähigkeit“, das waren 1997 meine Kriterien für die Bringschuld der allgemeinbildenden Schule.
„Hier ist die Politik in der Verantwortung und die Pädagogik gefordert.“
Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth
Redaktion: Was könnten/sollten solche expliziten Mindeststandards leisten, wem würden sie nützen?
Tenorth: Mindeststandard geben dem Bildungssystem den Maßstab vor, den jeder der Lernenden bis zum Ende der Schulpflicht erreichen muss. Sie geben auch Hinweise auf eventuell notwendige individuelle Unterstützungsprogramme, die denjenigen zuteilwerden müssen, die Probleme haben, diesen Maßstäben gerecht zu werden, obschon sie sie bei angemessener Anstrengung der Schule ebenfalls erreichen könnten. Hier ist die Politik in der Verantwortung und die Pädagogik gefordert, Bildungsarmut muss nicht sein.
Redaktion: Im Rahmen der damals eingeführten Bildungsstandards, die derzeit weiterentwickelt werden, sind ja auch Kompetenzstufen und damit in gewisser Weise auch Mindeststandards definiert. Wieso reichen die gegenwärtigen Bildungsstandards nicht aus?
Tenorth: Die vorliegenden Bildungsstandards sind so gut wie nicht bildungstheoretisch begründet. Sie haben lediglich fachspezifische Komptenzniveaus definiert, orientieren sich primär an messtheoretischen Kriterien und erst in zweiter Linie an fachdidaktischen. Sie haben zuerst auch nur eine der Stufen – die Mitte – als Regelstandard bezeichnet und erst später wurde ein „Mindeststandard“ nachgeschoben. Der ist allerdings auf einem Niveau, das zwar irgendwie noch fachliche Fähigkeiten messbar macht, aber das Entscheidende, nämlich die selbstbestimmte Teilhabe und Handlungsfähigkeit der Lernenden im schulischen oder lebensweltlichen Kontext nicht wirklich erreicht oder befördert hat.
Weiterlesen: „Manche Länder handeln konsequenter als andere“
Professorin Petra Stanat reflektiert im Interview über die Bildungsstandards und deren aktuelle Überarbeitung
„Irgendwie gilt die Rede vom ‚Bildungsminimum‘ in der Öffentlichkeit oder bei den „Gebildeten“ offenbar nicht als richtig fein.“
Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth
Redaktion: Wie ist es aus ihrer Sicht zu erklären, dass ihre und gleichlautende Empfehlungen anderer Bildungsforscher, etwa von Prof. Dr. Eckhard Klieme, nicht konsequent aufgegriffen wurden? Warum wurden bis heute keine originären, allgemeinen Mindeststandards definiert?
Tenorth: Das hat aus meiner Sicht auch etwas mit Haltung zu tun. Irgendwie gilt die Rede vom „Bildungsminimum“ in der Öffentlichkeit oder bei den „Gebildeten“ offenbar nicht als richtig fein. Ich habe zudem immer wieder Politiker erlebt, die einschlägigen Vorschlägen unterstellt haben, man würde damit das exzellente Niveau ganzer Bildungssysteme, zum Beispiel im Süden oder Südosten der Republik, herabdrücken und die notwendigen Leistungsmaßstäbe unterbieten. Aber solche Unterstellungen gehen an der Sache vorbei, sie haben doch nichts mit der Forderung zu tun, dass niemand hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben oder allein gelassen werden darf!
Redaktion: Mit Blick auf die Corona-Pandemie und die Rechtmäßigkeit von Schulschließungen hat das Bundesverfassungsgericht Ende vergangenen Jahres gewissermaßen en passant auch ein Recht auf schulische Bildung formuliert. Dabei hat es ganz in ihrem Sinne den Begriff der unverzichtbaren Mindeststandards benutzt. Welche Konsequenzen ergeben sich für sie daraus?
Tenorth: Sehr weitreichende, denn die Anerkennung des Grundrechts auf schulische Bildung und die Pflicht des Staates auf eine „Gewährleistung“ von „unverzichtbaren Mindeststandards“ im Schulangebot stellen eine historische Zäsur dar. Zum einen, für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst, das bis dato strikt ein solches Recht nicht aussprechen wollte, aber auch für die Bildungspolitik. Die muss sich jetzt dem Anspruch stellen, dass es für die Lernenden ein „gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft“ gibt, und dass „der Staat … diejenigen Lebensbedingungen sichern (muss), die für ihr gesundes Aufwachsen erforderlich sind.“ Das Gericht hat es klar formuliert.
„Ich warte und hoffe auf Klagen der Benachteiligten gegen die Bundesländer, die diesen Skandal tolerieren.“
Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth
Redaktion: Glauben sie, dass das Urteil mittel- oder langfristig Folgen für die Schulpraxis haben wird? Wenn ja, welche?
Tenorth: Ja, das bleibt nicht folgenlos. Denn das aktuelle Elend im Bildungswesen, die weitgehend folgenlose Hinnahme der Tatsache, das wir Bildungsarmut haben, aber nicht energisch bekämpfen, und nur gelegentlich darüber jammern, dass wir ein Viertel der Heranwachsenden mit Kompetenzen aus der Pflichtschule entlassen, die ihnen keine selbstbestimmte Berufswahl und -ausbildung oder anschließende weitere Bildungsgänge ermöglichen, lässt sich mit dem Gewährleistungsanspruch des Staates nicht vereinbaren. Ich warte und hoffe auf Klagen der Benachteiligten gegen die Bundesländer, die diesen Skandal tolerieren.
Redaktion: Inwieweit kann man aus dem Gerichtsurteil auch ein Auftrag für die empirische Bildungsforschung ableiten? Was müsste hier jetzt konkret geleistet werden?
Tenorth: Aus dem Gerichtsurteil ergibt sich sogar ein starker Auftrag für die Bildungsforschung, denn sie muss die wichtige Frage klären, was „unverzichtbar“ eigentlich konkret bedeutet. Das lässt sich nicht allein fachspezifisch und fachdidaktisch klären, denn das Bundesverfassungsgericht hat dezidiert „die Schulbildung als Ganze“ im Blick, weil sie „für alle Kinder und Jugendlichen eine Grundlage für ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der Gemeinschaft legen“ muss. Hier ist viel theoretische und konzeptionelle Arbeit nötig. Aber warum heißt die Disziplin „Bildungs“-Forschung, wenn sie nicht erklärt, wie Bildung für alle möglich ist?
„Anders als in der dominierenden outcome-orientierten Forschung müssen jetzt individuelle und kollektive Bildungsprozesse gleichermaßen in den Blick genommen werden.“
Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth
Redaktion: Welche konkreten Herausforderungen stellen sich für die Bildungsforschung bei der Beschreibung von Mindeststandards, also der allgemeinen Definition dessen, was an schulischer Bildung unverzichtbar ist? Welche Fragen sind schwierig aber klärungsbedürftig?
Tenorth: Anders als in der dominierenden outcome-orientierten Forschung müssen jetzt individuelle und kollektive Bildungsprozesse gleichermaßen in den Blick genommen werden. Es geht ganz grundsätzlich um die Bedingungen und Formen ihrer Konstruktion, vor allem aber um die konkreten Möglichkeiten individueller Förderung. Da geht es beispielsweise um die Unterscheidung notwendiger und hinreichender Faktoren der Förderung. Aber auch die curriculare Konstruktion von Bildung ist klärungsbedürftig, hinsichtlich des Kerncurriculums, das heißt des Minimums und der erweiternden Optionen. Was sind eher nebensächliche, was sind unentbehrliche Faktoren? Da hat man schon gut zu tun. Das wird auch deshalb nicht leicht, weil die empirische Bildungsforschung so einseitig auf „den Outcome“ fixiert war und sich ihre Kritiker gegenüber allen präzisen empirischen Analysen häufig sehr distanziert verhalten.
Redaktion: Wie würden sie den folgenden Satz ergänzen?
„Wenn wir umfassende Mindeststandards hätten, die das Minimum schulischer Bildung klar beschreiben, dann…
Tenorth: ... wäre die Bringschuld des Bildungssystem klar bezeichnet und die Anstrengungen würden sichtbar. Dann wäre es möglich, nicht nur von „Bildung für alle“ zu reden, sondern sie mit prioritärem Rang wirklich zur Alltagsaufgabe zu machen und die Akteure intensiv zu unterstützen, die sich dieser schwierigen Aufgabe widmen.
Redaktion: Herr Professor Tenorth, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Heinz-Elmar Tenorth ist emeritierter Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem der Geschichte der Erziehungswissenschaften und ihren Forschungsmethoden, sowie der Universitätsgeschichte. Er hat zahlreiche programmatische Arbeiten zum Bildungsbegriff verfasst und eine Reihe bildungspolitischer Stellungnahmen vorgelegt, so zum Beispiel zum Kerncurriculum der gymnasialen Oberstufe oder zum Konzept von Bildungsstandards. In diesem Zusammenhang beschäftigt ihn vor allem die Frage, wie in unserem Schulsystem mehr Bildungsgerechtigkeit erreicht werden kann. Dabei plädiert er nachdrücklich für die Festlegung von Mindeststandards, die er als unerlässliche Voraussetzung zur Gewährleistung von gesellschaftlicher Teilhabe sieht.