„Manche Länder handeln konsequenter als andere“

Professorin Petra Stanat reflektiert im Interview über die Bildungsstandards und deren aktuelle Überarbeitung

Seit mehr als 20 Jahren gibt es in Deutschland Bildungsstandards, die festlegen, was Schülerinnen und Schüler an gewissen Punkten ihrer Bildungslaufbahn erlernt haben sollten. Wie haben sich diese Standards entwickelt? Was haben sie bewirkt? Und wie läuft die aktuelle Überarbeitung? Über solche und weitere Fragen spricht Professorin Petra Stanat vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Interview.

Redaktion: Frau Prof. Dr. Stanat, nach dem PISA-Schock 2000 wurden in Deutschland die nationalen Bildungsstandards eingeführt. Welche Erwartungen waren mit ihnen verknüpft? Was versprach man sich von ihnen?

Prof. Dr. Petra Stanat: Die ungünstigen Ergebnisse Deutschlands bei Pisa 2000 – und dabei insbesondere auch die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern – waren ein wesentlicher Anstoß für die Einführung der Bildungsstandards. Ein wichtiger Aspekt war dabei, sich bundesweit darüber zu verständigen, was wir erreichen wollen: Welche Ergebnisse soll mit Lehr-Lernprozessen in deutschen Schulen erzielt werden? Was sollen die Schülerinnen und Schüler in der Regel wissen und können, wenn sie die Schule mit einem bestimmten Abschluss verlassen? Über welche Kompetenzen sollten sie an wichtigen Schnittstellen, etwa zum Zeitpunkt des Übergangs von der Grundschule in die Sekundarstufe I, verfügen, um erfolgreich weiterlernen zu können? 

Bildungsstandards

Die deutschen Bildungsstandards waren eine bildungspolitische Antwort auf die PISA-Studie 2000 und weitere Bildungsstudien, die dem deutschen Bildungssystem erhebliche Defizite nachwiesen, unter anderem große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Die Kultusministerkonferenz beschloss daraufhin für ausgesuchte Fächer bundesweit einheitliche Bildungsstandards zu formulieren und verbindlich zu machen. Sie sollten eine bundesweite Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse und Lernergebnisse ermöglichen. Überprüft und entwickelt werden die Bildungsstandards vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Bildungsstandards wurden über die Jahre um Schulabschlüsse und Fächer erweitert. Heute gelten sie für den Primarbereich (Jahrgangsstufe 4) in den Fächern Deutsch und Mathematik, für den Hauptschulabschluss (Jahrgangsstufe 9) in den Fächern Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache (Englisch/Französisch), für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10) in den Fächern Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache (Englisch/Französisch), Biologie, Chemie und Physik sowie für die Allgemeine Hochschulreife in den Fächern Deutsch, Mathematik, die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch), Biologie, Chemie und Physik.

Redaktion: Wenn Sie jetzt mehr als 20 Jahre nach der Einführung auf die Bildungsstandards blicken: Wo sehen Sie wesentliche Fortschritte? Was haben Bildungsstandards bis heute erreicht?

Stanat: Die gemeinsame Verständigung über die Ziele war wegweisend, wobei umstritten ist, ob man diese Ziele nicht noch konkreter fassen müsste. Aber insgesamt glaube ich schon, dass die Standards eine verbindliche Grundlage geschaffen haben, wobei deren Implementation in den Ländern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität verfolgt wurde. Wenn die Ergebnisse etwa in den Bildungstrends des IQB, die das Erreichen der Bildungsstandards regelmäßig überprüfen, nicht so ausfallen wie man sich das wünscht, müssen sich die Verantwortlichen damit auseinandersetzen. Damit wird auch Transparenz über die Ziele und Ergebnisse des Schulsystems geschaffen, die in einer demokratischen Gesellschaft wichtig ist.

„Inwieweit die Bildungsstandards tatsächlich Auswirkungen auf den Unterricht haben, ist eine offene Frage.“

Prof. Dr. Petra Stanat

Redaktion: Haben die Bildungsstandards sich auch konkret auf das Lernen in der Schule ausgewirkt?

Stanat: Inwieweit die Bildungsstandards tatsächlich Auswirkungen auf den Unterricht haben, ist eine offene Frage. Ich glaube, in manchen Bereichen hat die verstärkte Kompetenzorientierung, die mit den Bildungsstandards angestrebt wird, dazu geführt, den Blick tatsächlich stärker darauf zu lenken, inwieweit das angestrebte Wissen und Können vermittelt wird. Zum Beispiel in den Fremdsprachen, insbesondere im Fach Englisch, habe ich den Eindruck, dass die Entwicklung von Kompetenzen ein zentraler Fokus ist. Ebenso ist im Fach Deutsch der Bereich Lesen stärker in den Fokus gerückt, vor allem auch in der Sekundarstufe I. Es ist ein wichtiges Verdienst von PISA und den daran anschließenden Prozessen, dass man nicht mehr davon ausgeht, die Lesekompetenzentwicklung sei mit der Grundschule abgeschlossen. Sie muss auch in der Sekundarstufe I weiter gefördert werden und dies wird verstärkt getan. In anderen Fächern, wie etwa Mathematik, scheint die Kompetenzorientierung dagegen immer noch wenig ausgeprägt zu sein. Kompetenzorientierung meint dabei, etwa im Bereich „Raum und Form“ nicht nur zu vermitteln, wie der Umfang und das Volumen geometrischer Körper zu berechnen sind, sondern auch, wie man dieses Wissen nutzen kann, um Probleme des täglichen Lebens zu lösen oder mathematische Aussagen zu bewerten.

Redaktion: Welche Lehren ziehen Sie aus diesen bisherigen Erfahrungen mit den Bildungsstandards?

Stanat: Die Erfahrungen zeigen, dass durch die Einführung von Bildungsstandards oder die darauf basierende Durchführung von Vergleichsarbeiten allein keine Unterrichtsentwicklung stattfindet. Dafür muss man viele aufeinander bezogene Maßnahmen konzipieren und umsetzen: von der Lehrplan- und Materialentwicklung über die Anpassung von Abschlussprüfungen bis hin zur Aus- und -Fortbildung der Lehrkräfte. Auch die interne und externe Evaluation entsprechend auszurichten gehört dazu. Ohne solche Implementationsmaßnahmen und unterstützenden Aktivitäten ist es unrealistisch, zu erwarten, dass auf die Bildungsstandards bezogene Unterrichtsentwicklung stattfinden wird. Bildungsstandards geben lediglich vor, was erreicht werden soll, und die IQB-Bildungstrends machen sichtbar, ob dies gelingt. Wird festgestellt, dass dies nicht der Fall ist, muss gehandelt werden und meine Wahrnehmung ist, dass manche Länder konsequenter handeln als andere. Allgemein nimmt die Rezeption der Ergebnisse der Bildungstrends aber zu, was auch daran zu erkennen ist, dass das IQB zunehmend auch von den Bildungsausschüssen der Länder eingeladen wird, um die Befunde zu diskutieren. Der Grad und die Art der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen unterscheidet sich jedoch sehr zwischen den Ländern.

„Was sich die einzelnen Länder aber fragen sollten ist, ob sie absolut gesehen zufrieden sind mit ihren Ergebnissen, etwa wenn ein Anteil von 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht einmal die Mindeststandards erreicht. Das ist in keinem Bundesland akzeptabel.“

Prof. Dr. Petra Stanat

Redaktion: Zwischen den Ländern gibt es ja auch erhebliche Unterschiede bezüglich der Erreichung der Bildungsstandards. Hätte man sich hier nicht seit PISA 2000 mehr annähern müssen? 

Stanat: Man muss hier berücksichtigen, wie unterschiedlich die Zusammensetzung der Schülerschaft in den Ländern ist. In Sachsen gibt es beispielsweise kaum Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund beziehungsweise mit Deutsch als Zweitsprache. Das ist eine ganz andere Situation als in Berlin oder auch in Baden-Württemberg, wo der Anteil von Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Familien sehr viel größer ist. Man kann daher nicht erwarten, dass sich die Ergebnisse vollständig angleichen. Was sich die einzelnen Länder aber fragen sollten ist, ob sie absolut gesehen zufrieden sind mit ihren Ergebnissen, etwa wenn ein Anteil von 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht einmal die Mindeststandards erreicht. Das ist in keinem Bundesland akzeptabel. Entsprechend müssen die betroffenen Länder dann handeln.

Redaktion: Wie geht es weiter mit den Bildungsstandards? Welches Potential und welche Herausforderung sehen Sie bei der aktuellen Entwicklung?

Stanat: Es besteht jetzt die große Chance, den Implementationsprozess systematischer zu betreiben. Die Bildungsstandards für die Grundschule und die Sekundarstufe I werden im Moment überarbeitet, in den Fächern Mathematik und Deutsch sind wir damit schon recht weit vorangeschritten. Die vorliegenden Entwürfe wurden bereits sehr positiv aufgenommen, unter anderem, weil sie die Kumulativität von Lehr-Lernprozessen systematischer in den Blick nehmen. Die Bildungsstandards für die Grundschule und die Sekundarstufe I wurden gemeinsam weiterentwickelt, was es ermöglichte, die Lernprogression besser abzubilden als es vorher der Fall war. Auch die Begrifflichkeiten wurden angeglichen, neue fachdidaktische Entwicklungen und fachbezogene Aspekt von Bildung in einer digitalen Welt wurden berücksichtigt und aufgegriffen. Da die weiterentwickelten Bildungsstandards für die Fächer Deutsch und Mathematik im Sommer verabschiedet werden sollen, muss man sich schon jetzt über ihre Implementation Gedanken machen. Dabei geht es zunächst darum, die Lehrpläne zu überarbeiten. Ferner müssen die neuen Vorgaben in der Lehrkräftebildung, in der Unterstützung der Schulen bei der Unterrichtsentwicklung, bei der Entwicklung von Unterrichtsmaterial, bei der Gestaltung zentraler Prüfungen und so weiter aufgegriffen werden – damit die Implementation konsequenter erfolgt als das bei der ersten Generation der Bildungsstandards der Fall war.

Redaktion: Frau Professorin Stanat, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Petra Stanat ist seit 2010 Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin, das unter anderem mit der Weiterentwicklung, Operationalisierung und Überprüfung der nationalen Bildungsstandards betraut ist. Die Professorin für Empirische Bildungsforschung ist als gefragte Expertin unter anderem Mitglied in mehreren Gremien, etwa dem Beirat für die Umsetzung von Empfehlungen zur Steigerung der Qualität von Bildung und Unterricht in Berlin oder dem wissenschaftlichen Beirat des Instituts des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören soziale, zuwanderungsbezogene und geschlechtsbezogene Disparitäten im Bildungserfolg, Bedingungen und Förderung des Bildungserfolgs von Heranwachsenden mit Zuwanderungshintergrund, Zweitsprachförderung und Lesekompetenz sowie Bildungsqualität und Bildungsmonitoring.