Brauchen Schüler:innen Unterricht im Glücklichsein?

Ja, findet Tobias Rahm von der TU Braunschweig. Der Psychologe erforscht, wie bereits Grundschüler:innen von einem reflektierten Umgang mit ihren Emotionen profitieren.

Psychische Erkrankungen, Mobbing, Ausgrenzung – für viele Schülerinnen und Schüler sind Schulen keine glücklichen Orte. Dabei haben positive Emotionen das Potenzial, den Denk- und Handlungsspielraum zu erweitern und für mehr Motivation im Unterricht zu sorgen. Das GlüGS-Projekt untersucht, wie sich das Wohlbefinden von Grundschulkindern steigern lässt – ohne dabei in die Positivitätsfalle zu tappen.

Redaktion: Herr Rahm, Sie haben das Projekt Glückskompetenz in der Grundschule, kurz GlüGS-Projekt, ins Leben gerufen. Warum brauchen Kinder Glücksunterricht?

Tobias Rahm: Ein Fünftel der Menschen in Deutschland wird bis zum 70. Lebensjahr eine Depression entwickeln. Auch bei Kindern und Jugendlichen nehmen psychische Auffälligkeiten zu. Aktuellen Zahlen zufolge zeigen 17 Prozent der Kinder Anzeichen psychisch relevanter Auffälligkeiten. Forschungsergebnisse belegen zudem, dass Depressionen wahrscheinlicher auftreten, wenn eine Person eine schwierige Kindheit hatte. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob wir als Gesellschaft nicht besser handeln können, um dies zu verhindern.

Redaktion: In Ihrem Projekt spielt Glück die Schlüsselrolle dafür. Was bedeutet Glück eigentlich?

Rahm: Wenn Sie Menschen in der Fußgängerzone fragen, was Glück für sie bedeutet, erhalten Sie eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten, die von Gesundheit über Sonnenschein und genügend Geld bis hin zu Sorgenfreiheit reichen. Da viele Faktoren – wie das Wetter – außerhalb unserer Kontrolle liegen, arbeitet die Psychologie mit dem Konzept des subjektiven Wohlbefindens. Menschen mit einem hohen subjektiven Wohlbefinden haben häufig positive und selten negative Gefühle, sowie eine hohe Lebenszufriedenheit.

„Eltern wünschen sich eher, dass ihr Kind glücklich ist, denn dass es ein Mathe-Genie wird.“

Tobias Rahm

Redaktion: Ihr Projekt setzt bereits in der Grundschule an. Was lernen Kinder im Glücksunterricht?

Rahm: Positive Emotionen hängen oft damit zusammen, dass Menschen ihre Glücksquellen kennen und Gelegenheiten schaffen, diese zu aktivieren. Genau hier setzt das GlüGS-Projekt an. Wir sprechen mit den Kindern über Gefühle und bieten spielerische Anreize, damit sie sich ihrer eigenen Glücksquellen bewusst werden. Dabei betrachten wir auch die negativen Gefühle, die zwar unangenehm sein können, aber wichtige Signale senden, dass es nötig ist, etwas zu verändern. Zum Beispiel kann Wut darauf hinweisen, dass Bedürfnisse verletzt wurden. Wenn Kinder lernen, die Ursachen ihrer Wut zu verstehen, können sie konstruktiver damit umgehen. Eine hohe Lebenszufriedenheit entsteht, wenn der gewünschte Soll-Zustand dem tatsächlichen Ist-Zustand nahekommt. Je größer die Diskrepanz zwischen diesen Zuständen, desto unzufriedener sind die Menschen. Daher ist es wichtig, Kinder frühzeitig mit ihren eigenen Wünschen und Zielen vertraut zu machen. Wenn Sie Eltern fragen, wünschen sich diese in der Regel eher, dass ihr Kind glücklich ist, denn dass es ein Mathe-Genie wird. Darüber hinaus machen wir in unserem Programm Entspannungsübungen mit den Kindern oder führen Traumreisen durch, um ihr Wohlbefinden zu fördern.

Redaktion: Sie haben Ihr Programm mit 500 Grundschulkindern durchgeführt. Zu welchen Ergebnissen kommt Ihre Studie?

Rahm: In der Auswertung der Fragebögen finden wir nur einen signifikanten Effekt: Die negativen Emotionen der Kinder nahmen nach einem Monat ab. Natürlich hätten wir gerne mehr Effekte gefunden, jedoch war uns bewusst, dass dies aufgrund der kurzen Dauer unserer Intervention in den Fragebogendaten herausfordernd sein würde. Aus diesem Grund haben wir zusätzlich offene Fragen gestellt und Interviews durchgeführt. Hier zeigte sich eine hohe Zufriedenheit mit dem Programm und seinen Auswirkungen. Kinder und Eltern berichteten insbesondere von Verbesserungen im Sozialverhalten und Klassenklima. Auch Gespräche mit Schulleitungen und Lehrkräften heben die positiven Erfahrungen hervor. Das GlüGS-Projekt setzt an vielen Stellen Impulse, sodass jede Schülerin und jeder Schüler etwas anderes aus den Stunden mitnimmt. Daher entstehen viele verschiedene kleine Wirkungen, die sich nur schwer mit einem standardisierten Fragebogen erfassen lassen.

Redaktion: Nun ist das Leben eine stetige Achterbahnfahrt. Die Vorstellung, ständig glücklich sein zu müssen, ist unrealistisch und kann den Druck auf Individuen erhöhen, immer glücklich und erfolgreich sein zu müssen. Stichwort toxische Positivität: Wann schadet positives Denken?

Rahm: Man kann alles übertreiben – auch das Streben nach Glück. Dauerhaft glücklich zu sein ist nicht nur eine Illusion, sondern kann auch schädlich sein. Die Erwartung, immer glücklich sein zu wollen, führt dazu, dass wir verkrampfen und uns unter Druck setzen lassen. In unserem Projekt geht es daher darum, eine realistische Einschätzung zu entwickeln, was für einen selbst ein glücklich-gelingendes Leben ausmacht und zu reflektieren, welche Aktivitäten dabei helfen können.

„Mehr positive Gefühle während der Schulzeit wirken sich positiv auf die akademische Leistung aus.“

Tobias Rahm

Redaktion: Sollten Kinder nicht vielmehr den Umgang mit einer breiten Palette von Emotionen lernen, statt sich ausschließlich auf Glück zu konzentrieren?

Rahm: Wir sprechen in unserem Projekt von Glück, obwohl wissenschaftlich der Begriff Wohlbefinden präziser wäre. Daher geht es nicht ausschließlich um das Glücklichsein, sondern um einen reflektierten Umgang mit Gefühlen. Allerdings wäre es unklug, den Begriff Glück vollständig zu meiden, da er wesentlich mehr mediale Aufmerksamkeit erhält. Da es mir darum geht, die Bedeutung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens zu unterstreichen, nehme ich die populäre Bezeichnung gerne in Kauf.

Außerdem geht es in der positiven Psychologie nicht darum, negative Emotionen zu unterdrücken, sondern sie zu akzeptieren und zu verstehen. Nehmen Sie ein weinendes Kind als Beispiel: Oftmals neigen wir dazu, das Weinen zu unterbinden, jedoch ist dies nicht unbedingt der beste Ansatz. Es ist wichtiger zu erfahren, warum das Kind traurig ist und ihm zu ermöglichen, seine Gefühle zu verstehen. Wenn ich sofort mit dem Trösten beginne, kann dies dem Kind die Botschaft vermitteln, dass seine Gefühle nicht akzeptabel sind.

Redaktion: Gibt es empirische Daten, die zeigen, dass sich ein Fokus auf positive Emotionen bei Kindern und Jugendlichen positiv auf das Wohlbefinden auswirkt?

Rahm: Ja, diese Studien gibt es. Seit Jahrzehnten laufen Präventionsprogramme, die auf Selbststärkung abzielen und speziell auf die Vermeidung von zum Beispiel Depressionen, Drogenmissbrauch, Gewalt oder Kriminalität ausgerichtet sind. Studien zeigen deutlich, dass solche Programme wirksam sind. Neuere Programme aus der Positiven Bildung haben eine große Schnittmenge zu diesen Präventionsprogrammen – insbesondere im Bereich der Selbststärkung. Der Mehrgewinn von „Glücksstunden“ liegt im zusätzlichen Fokus auf positive Emotionen. Hier können viele Studien zeigen, dass sich deren Häufigkeit und damit das Wohlbefinden steigern lässt.

Redaktion: Eine neue OECD-Studie zur sozialen und emotionalen Kompetenz verweist darauf, dass ein höheres Maß an Kreativität, Empathie und Stressresistenz die Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbessert. Inwiefern kann Glücksunterricht dazu beitragen, diesen Mechanismus anzuregen?

Rahm: Die Broaden-and-Build-Theorie beschreibt, wie positive Emotionen unseren Denk- und Handlungsspielraum erweitern. In der Evolution war es überlebenswichtig, auf Bedrohungen wie Säbelzahntiger entweder mit Angriff oder Flucht zu reagieren. Und doch konnten sich unsere Vorfahren auch über eine Blume am Wegesrand freuen. Welchen evolutionären Nutzen hat diese Freude? Positive Emotionen, so besagt die Broaden-and-Build-Theorie, ermöglichen es uns, neugierig zu bleiben und Neues auszuprobieren. Indem wir diesem Impuls nachgeben, bauen wir langfristige Ressourcen auf, wie beispielsweise die Motivation zur Leistung. Ein Gefühl des Stolzes nach einer gelungenen Leistung im Unterricht kann dazu führen, dass wir mehr davon erreichen wollen. Diese positiven Emotionen, verbunden mit Anerkennung und Wertschätzung, können die Motivation und Leistungsfähigkeit erheblich steigern.

Redaktion: Inwieweit muss sich das Schulsystem hierfür verändern, oder lässt sich Glückskompetenz auch in einem regulären Mathe-Frontalunterricht einüben?

Rahm: Natürlich geht es in der Schule auch darum, Durchhaltevermögen zu trainieren und anzuwenden. Wichtig ist jedoch, die Grundhaltung zu verändern und klarzustellen, dass Schule auch von guten Beziehungen und Freude lebt. Mehr positive Gefühle während der Schulzeit wirken sich positiv auf die akademische Leistung aus. Wir sollten uns daher von der vorherrschenden Defizitorientierung lösen und Kindern nicht vermitteln, dass ihnen ein Fach grundsätzlich nicht liegt oder dass sie beispielsweise einfach nicht rechnen können. Stattdessen sollten wir anerkennen, dass sie etwas noch nicht können. Es geht darum, eine Überzeugung zu fördern, neue, uns schwierige Herausforderungen durch eigene Kompetenz zu bewältigen. In der Psychologie bezeichnen wir diese Denkweise als Growth Mindset.

Redaktion: Diese Denkweise ist nicht unumstritten. „Growth Mindset“ kann dazu führen, dass die Verantwortung für mangelnden Lernerfolg einseitig den Kindern zugeschrieben wird und unterschiedliche Startbedingungen unzureichend berücksichtigt werden. Eine Studie aus dem Jahr 2021 zeigt, dass Kinder aus ärmeren Verhältnissen im Schnitt auch mit einem Growth Mindset keine besseren Noten erzielten. Wie sehen Sie das?

Rahm: Einerseits tragen Menschen natürlich eine persönliche Verantwortung für sich selbst. Andererseits bedeutet dies nicht, dass wir allein unseres Glückes Schmied sind, wie es oft heißt. Eine gerechte Chancenverteilung erfordert institutionelle, gesellschaftliche und politische Unterstützung. Ich gehe davon aus, dass eine stärkenorientierte Haltung grundsätzlich für alle Kinder hilfreich ist – auch wenn sich das nicht sofort in Schulnoten abbildet.

„Steht eine engagierte Lehrperson vor der Klasse, springt die Begeisterung für ein Thema viel eher auf die Schüler über.“

Tobias Rahm

Redaktion: Welche Qualifikationen sollten Lehrkräfte mitbringen, um Glücksunterricht effektiv und verantwortungsvoll zu gestalten?

Rahm: Zu Beginn steht die Selbstreflexion der Lehrkräfte über ihre eigenen Gefühle im Vordergrund. Oftmals orientieren sich Lernprozesse stark an Vorbildern. Steht eine engagierte Lehrperson vor der Klasse, springt die Begeisterung für ein Thema viel eher auf die Schülerschaft über, anders, als wenn die Lehrkraft die gesamte Stunde damit beschäftigt ist, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Redaktion: Noch gibt es flächendeckend kein Schulfach Glück. Wie können Lehrkräfte dennoch bereits Elemente aus dem Glücksunterricht in ihren Fachunterricht integrieren?

Rahm: Es gibt zunehmend mehr Angebote im deutschsprachigen Raum, die sich mit Glücksunterricht beschäftigen. Das „Curriculum Schulfach Glückskompetenz“ meiner Projektpartnerin Carina Mathes ist zum Beispiel ein sehr gutes niedrigschwelliges Angebot. Einige öffentlich geförderte Projekte bieten auch Material zum freien Download an. Eine gute, schnell umsetzbare Methode für den Unterricht ist die „warme Dusche“. Dabei erhält ein Kind von jedem anderen Kind in der Klasse ein Kompliment und verspürt im Idealfall ein positives Gefühl dazu. Viele Klassen führen die „warme Dusche“ als Geburtstagsritual durch. Allerdings sind Kinder an ihrem Geburtstag in der Regel ohnehin positiv gestimmt, weshalb jeder andere Tag dienlicher wäre.

Redaktion: Herr Rahm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Tobias Rahm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogische Psychologie der Technischen Universität Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der positiven Psychologie und der Glücksforschung.

  • Rahm, T., Oberlehberg N. & Mayer, A. (2024). Teaching happiness to students - implementation and evaluation of a program aiming at promoting wellbeing in elementary schools. Frontiers in Psychology, 15, 2024. doi: 10.3389/fpsyg.2024.1289876.
  • Rahm, T. & Heise, E. (2019). Teaching happiness to teachers - development and evaluation of a training in subjective well-being. Frontiers in Psychology, 10:2703. doi: 10.3389/fpsyg.2019.02703.