Coronabedingte Lernrückstände im Schulalltag bewältigen
Über den Fokus von Förderung in der Pandemie

Das Online-Magazin schulmanagement sprach mit Professorin Dr. Felicitas Thiel, Vorsitzende der StäWiKo, darüber, wie Schulen am effektivsten den angehäuften Lernrückständen begegnen können und welche Bereiche besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.
Es ist noch nicht vorbei. Ein neues Schuljahr in Zeiten der Corona-Pandemie ist angebrochen, weiterhin kämpfen Schulen mit Unterrichtsausfall und müssen Lehrer:innen und Schüler:innen in Quarantäne schicken. Gleichzeitig läuft das Aktionsprogramm der Bundesregierung Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche an: Zwei Milliarden Euro, um Kindern und Jugendlichen mit den sich auftürmenden Lernrückständen und psychisch-sozialen Folgen der Pandemie zu helfen.

Wissenschaftlich kommentiert wurde das Programm unter anderem von der im Mai dieses Jahres neu benannten Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (StäWiKo) (siehe Stäwiko-Stellungnahme Juni 2021). Deren Vorsitzende, Prof. Dr. Felicitas Thiel, empfiehlt im Gespräch mit dem Online-Magazin schulmanagement, man müsse die Unterstützung in den nächsten zwei Jahren konzentrieren – auf besonders betroffene Gruppen, auf die besondere Förderung an schulischen Übergängen und auf das Erlernen der Basiskompetenzen. Doch wie gelingt das im Schulalltag vor Ort?
Wie können Schulen die besonders betroffenen Gruppen fördern?
Besonders betroffene Gruppen – das sind Kinder und Jugendliche häufig aus „benachteiligten sozialen Kontexten”, wie es das StäWiKo-Gutachten beschreibt. Sie haben oft Eltern und ein Umfeld, dass sie beim Lernen wenig unterstützt, oftmals wenig unterstützen kann. Umso härter treffen diese Schülerinnen und Schüler Unterrichtsausfall und Schulschließungen. Und umso wichtiger ist es, sie gezielt mit Fördermaßnahmen zu erreichen.
Schlüssel sind hierbei oft die Eltern, in der Stellungnahme der StäWiKo werden deshalb unter anderem sogenannte „Bildungs- und Erziehungspartnerschaften” angeregt. Als Beispiel führt Prof. Felicitas Thiel die Gebrüder-Grimm-Schule im nordrhein-westfälischen Hamm an. Hier habe man „gezielt leicht zugängliche Informationen für Eltern entwickelt”, Lehrer und Eltern stünden über Messenger-Dienste in Kontakt. Felicitas Thiel: „Die Eltern werden kontinuierlich darüber informiert, wie gerade die Sachlage ist, was sie konkret tun können, um ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen. Die Lehrer geben den Eltern verständliche Materialien an die Hand, mit denen sie arbeiten können. Es sollte weit über Corona hinaus ein wichtiges Anliegen von Schulen sein, Bildungspartnerschaften mit Eltern zu etablieren.”
„Schlüssel sind oft die Eltern: Lehrkräfte können sie darüber informieren, wie die Lage aussieht, und was sie konkret tun können, um ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen.“
Dazu gehöre auch, dass Eltern mehr Rückmeldungen bekommen, sagt Felicitas Thiel. In angelsächsischen Ländern sei es zum Beispiel üblich, dass Eltern in regelmäßigen Abständen sogenannte „Report Cards” über den Lernstand der Kinder bekämen. „Es ist elementar wichtig, dass Lehrkräfte in Deutschland über die ritualisierten Elternabende hinaus im Gespräch sind mit den Eltern”, empfiehlt die Bildungsexpertin. Ganz besonders gelte das – so macht es die StäWiKo in ihrer Stellungnahme deutlich – für die Übergangsphasen im Schulsystem.
Warum bedürfen die Übergänge besonderer Aufmerksamkeit?
„Es ändern sich an Übergängen die Anforderungen an die Kinder”, sagt Felicitas Thiel. Das sehe man zum Beispiel deutlich am Übergang von der Kita in die Grundschule. Dabei gehe es nicht nur um inhaltliche, sondern auch um Verhaltensanforderungen. Felicitas Thiel: „Kinder werden in ihren Leistungen plötzlich unabhängig voneinander beurteilt, sie sollen konzentriert und fokussiert arbeiten, andere konstruktiv unterstützen und im Team arbeiten. Diese Anforderungen sind erst einmal schwer zu bewältigen.” Und sie bergen das Risiko, dass Kinder beim Lernen in Rückstand geraten. Das gelte auch für den Übergang in die Sekundarstufe eins, wo sich Schülerinnen und Schüler zügig auf Fachunterricht und einen viel größeren Wissenschaftsbezug einstellen müssten.
„Bei den Übergängen ändern sich die Anforderungen an die Kinder und es ist die Frage zu stellen, ob sie über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um diese Veränderung zu bewältigen.“
Umso wichtiger sei die Vorbereitung auf diese Übergänge. Auch deshalb setze man die bundesweiten Vergleichsarbeiten (VERA) in den Klassen 3 und 8 vor wichtigen Übergängen an. Felicitas Thiel: „Das eröffnet die Möglichkeit, ein Jahr vor dem anstehenden Übergang noch einmal zu überprüfen: Haben die Kinder die notwendigen Basiskompetenzen, um diese Übergänge gut zu bewältigen? Und wenn nicht, wie und wo kann weitere Förderung ansetzen?”
Entsprechend wichtig sei auch die Arbeit in den Kitas, wo spielerisch elementare sprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche Vorkenntnisse ausgebildet werden sollten, führt die StäWiKo-Vorsitzende aus. Das würde beim Übergang in die Grundschule enorm helfen. In der Grundschule sei es wiederum essentiell, dass die Basiskompetenzen – flüssiges Lesen, das Beherrschen grundlegender Mathematik – erlernt würden, um in der Sekundarstufe 1 zu bestehen.
Warum sind die Basiskompetenzen so wichtig beim Aufholen der Lernrückstände?
Den Punkt Basiskompetenzen betont der wissenschaftliche Beirat der Kultusministerkonferenz in seiner Stellungnahme besonders. Eine der klarsten Empfehlungen der StäWiKo ist: eine Wochenstunde mehr Mathe und Deutsch für die Jahrgänge eins bis sechs für zunächst ein Schuljahr.
Kritikern, die um schwindende Stunden in Nebenfächern fürchten und darin einen Angriff auf das Vermitteln einer umfassenden Allgemeinbildung sehen, tritt Felicitas Thiel im Gespräch mit dem Online-Magazin schulmanagement entschieden entgegen: „Allgemeinbildung in einer modernen, komplexen Wissensgesellschaft ohne Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik ist keine Allgemeinbildung.”
Die Vorsitzende der StäWiKo weiter: „Niemand wird anspruchsvolle Literatur lesen können, weder in Deutsch noch in einer Fremdsprache, wenn man basale Kompetenzen des Lesens nicht beherrscht. Das Gleiche gilt für die Mathematik. Nicht erst seit Corona ist es zum Beispiel wichtig, dass wir exponentielles Wachstum verstehen. Das ist elementar für die eigenen Entscheidungen, die uns selbst konkret betreffen.”
Um den zusätzlichen Deutsch- und Mathe-Unterricht zu ermöglichen, müssen jedoch Stunden gestrichen werden. Viele Optionen seien hier denkbar, sagt Felicitas Thiel, den Sportunterricht würde sie jedoch „ausnehmen von den Kürzungen”. Man wisse durch Studien, dass sich die Kinder ohnehin sehr wenig bewegt hätten während der Corona-Pandemie.
„Allgemeinbildung in einer modernen, komplexen Wissensgesellschaft ohne Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik ist keine Allgemeinbildung.”
Zu dem Vermitteln der Basiskompetenzen gebe es inzwischen sehr gute Materialien, zeigt Felicitas Thiel auf. Etwa die von der Bundesinitiative BiSS, „Bildung durch Sprache und Schrift” entwickelten Materialien zur Förderung von Leseflüssigkeit und Lesestrategien. Oder das Programm „Mathe sicher können”, das vom Deutschen Zentrum für Lehrerbildung Mathematik weiterentwickelt und als Materialien für den Unterricht und zukünftig auch als digitale Tools für den Computer angeboten wird. Thiel: „Diese Materialien sind wirkungsgeprüft. Und sie bieten Lehrern zudem eine informelle Diagnostik. Sie geben der Lehrkraft Anhaltspunkte: An welchen Stellen hat ein Kind noch ein Problem? Wo muss ich genauer hinschauen und unterstützen?”
Zusammengefasst: Gezielte Förderung der besonders Betroffenen, besonders vor und in entscheidenden Übergangsphasen, besonders in den Basiskompetenzen, die sie benötigen, um auch in kommenden Schul- und Lebensjahren zu bestehen – mit dieser „dreifachen Fokussierung”, so macht die Vorsitzende der StäWiKo deutlich, könnten Schulen wichtige Schritte unternehmen, um die Lernrückstände durch Corona tatsächlich aufzuholen.