Das lernende Schulsystem: Wie schaffen wir grundlegenden Wandel in der Bildung?
Professorin Anne Sliwka hat mit ihrer Kollegin Prof. Britta Klopsch einen umfassenden Blick auf das deutsche Bildungssystem geworfen – im Interview beschreibt sie, wie auch einzelne Schulen grundlegende Veränderungen anregen können.

Die Qualität des deutschen Bildungssystems stagniert im Angesicht enormer Herausforderungen. Wie ein tiefgreifender Wandel gelingen kann, dafür hat Prof. Anne Sliwka zusammen mit ihrer Kollegin Prof. Britta Klopsch in ihrem neuen Buch die Vision eines „lernenden Schulsystems” ausgearbeitet. Was der Begriff genau bedeutet, wie vernetzte Autonomie, datengestützte Entscheidungen und kooperative Professionalität Schulen fit für die Zukunft machen können und was wir von Ländern wie Kanada oder Singapur diesbezüglich lernen können, erklärt die Expertin im Interview.
Redaktion: Frau Professorin Sliwka, das Buch, das Sie zusammen mit Frau Professorin Klopsch geschrieben haben, trägt den Titel „Das lernende Schulsystem”. Welche Idee steckt dahinter?
Prof. Dr. Anne Sliwka: Die Grundidee hinter dem lernenden Schulsystem ist die Frage, warum es in Deutschland nur punktuelle und selten systemische Weiterentwicklungen in der Schulqualität gibt. Meine Co-Autorin Prof. Britta Klopsch und ich sehen einzelne Schulen, die Schulpreise gewinnen oder als Magnetschulen fungieren, aber die Qualität des gesamten Systems stagniert oft über Jahre oder gar Jahrzehnte. Unser Fokus liegt darauf, Schulqualität als Ergebnis von Systemqualität zu begreifen. Die Einzelschule als autonome Entwicklungseinheit reicht nicht mehr aus. Stattdessen braucht es ein verzahntes System, das horizontal und vertikal zusammenarbeitet. Ein solches System finden Sie etwa in Kanada.
Redaktion: Was macht das kanadische System besser?
Sliwka: In Kanada basiert das Schulsystem auf klaren Zielen, es werden umfassend eine ViIelzahl von Daten genutzt. Dabei gibt es eine enge Verzahnung von Datenanalyse und kooperativer Professionalität: Daten werden nicht von Einzelpersonen ausgewertet, sondern von Teams auf verschiedenen Ebenen. Das führt zu einem kontinuierlichen Austausch und einer Kultur des gemeinsamen Lernens. Schulen haben dort außerdem mehr Autonomie – sie können etwa Unterrichtszeiten flexibel gestalten, um den Bedürfnissen ihrer Schülerinnen und Schüler besser gerecht zu werden.
Redaktion: Sie betonen in Ihrer Arbeit immer wieder, wie wichtig Daten für Schulen sind. Können Sie genauer erklären, warum eine datengestützte Arbeitsweise für Schulen so bedeutend ist?
Sliwka: Daten sind wie ein Spiegel, in den man schaut, um zu erkennen, wo man steht. Sie bieten keine fertigen Lösungen, aber sie helfen uns, Probleme präzise zu identifizieren und fundierte Diskussionen und Entscheidungen anzustoßen. Wichtig ist dabei, dass Daten nicht isoliert betrachtet werden. Ihre Stärke liegt darin, dass sie in einem Team diskutiert werden, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln und daraus Maßnahmen abzuleiten.
„Der Fokus sollte darauf liegen, sich mit kleinen, pragmatischen Schritten einer datenbasierten Kultur zu nähern, die alle Beteiligten – von der Lehrkraft bis zur Schulleitung – einbindet.“
Prof. Dr. Anne Sliwka
Redaktion: Was wären erste Schritte zu mehr Datenorientierung im Schulalltag?
Sliwka: Ein guter erster Schritt wäre, mit einfachen Screening-Programmen zu beginnen. Zum Beispiel könnten Schulen Diagnosetools für Fächer wie Mathematik oder Deutsch nutzen, um frühzeitig den Lernstand der Schülerinnen und Schüler zu erfassen. Diese Programme können am Anfang des Schuljahres eingesetzt werden, um herauszufinden, welche Kinder möglicherweise zusätzliche Unterstützung benötigen. Stellen Sie sich vor, eine Schule beginnt das Schuljahr mit einem solchen Screening. Die Ergebnisse zeigen auf, welche Schülerinnen und Schüler beim Erreichen bestimmter Lernziele noch Förderbedarf haben. Statt erst im Halbjahreszeugnis festzustellen, dass ein Kind das Klassenziel möglicherweise nicht erreicht, könnten Lehrkräfte sofort gezielte Maßnahmen einleiten, wie zusätzliche Förderung oder individuelle Lernpläne. So verhindern wir, dass Kinder in der Lernentwicklung abgehängt werden. Darüber hinaus können solche Daten regelmäßig zu verschiedenen Zeitpunkten im Schuljahr erhoben werden, um Fortschritte zu überprüfen. Das ist nicht nur für die individuelle Förderung wichtig, sondern ermöglicht es auch, zu sehen, ob bestimmte Unterrichtsstrategien tatsächlich wirken. Schulen könnten so eine evidenzbasierte Praxis etablieren, bei der datenbasierte Entscheidungen schrittweise in den Schulalltag integriert werden. Wichtig ist dabei, dass die Nutzung von Daten niedrigschwellig bleibt, gerade am Anfang. Es muss nicht gleich ein hochkomplexes System sein. Der Fokus sollte darauf liegen, sich mit kleinen, pragmatischen Schritten einer datenbasierten Kultur zu nähern, die alle Beteiligten – von der Lehrkraft bis zur Schulleitung – einbindet.
Redaktion: Ein zentraler Begriff in Ihrem Buch ist die „vernetzte Autonomie“. Was bedeutet das?
Sliwka: Das Konzept der vernetzten Autonomie beschreibt die Balance zwischen der Eigenständigkeit einer Schule und ihrer systemischen Einbindung. Einerseits haben Schulen die Freiheit, Entscheidungen auf Grundlage ihrer Daten und Bedürfnisse zu treffen, andererseits sind sie Teil eines Netzwerks, das sie unterstützt, zur Rechenschaft zieht und zum gemeinsamen Lernen einlädt. Ein konkretes Beispiel dafür ist das Schulsystem in Singapur. Dort arbeiten Schulen in sogenannten Clustern zusammen, die regelmäßig Treffen organisieren. Diese sind keine bloßen Dienstbesprechungen, wie man sie hierzulande oft kennt, sondern intensive Arbeitsgruppen. Schulleitungen und die Schulaufsicht analysieren gemeinsam Daten, diskutieren Problemlagen und entwickeln strategische Ansätze für Verbesserungen. In Kanada finden ähnliche Strukturen unter dem Namen „Families of Schools“ statt. Diese Netzwerke fördern nicht nur die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen Schulen, sondern bieten auch Orientierung und Unterstützung. Sie sorgen dafür, dass die Autonomie der einzelnen Schule effektiv genutzt wird, ohne dass die Schulen isoliert handeln müssen. Das Spannende ist, dass diese Autonomie immer in einem Rahmen geschieht, der durch Metaziele des gesamten Schulsystems definiert ist. Schulen können eigenständig Anpassungen vornehmen, zum Beispiel die Unterrichtsverteilung für bestimmte Jahrgänge oder Fächer verändern, um spezifischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Gleichzeitig profitieren sie durch die regelmäßige Vernetzung und den Austausch mit anderen Schulen und der Schulaufsicht von neuen Perspektiven und Ressourcen.
„In einem vertrauensvollen Arbeitsumfeld können Probleme offen angesprochen werden, ohne dass Einzelpersonen dafür verantwortlich gemacht werden.“
Prof. Dr. Anne Sliwka
Redaktion: Ein weiteres zentrales Konzept, das Sie beschreiben, ist die „kooperative Professionalität”. Wie können Lehrkräfte und Schulleitungen systematischer und effektiver zusammenarbeiten?
Sliwka: Kooperative Professionalität basiert auf zwei zentralen Säulen: Präzision und Vertrauen. Präzision bedeutet, dass Lehrkräfte und Schulleitungen bereit sein müssen, sich intensiv mit Daten und wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Es geht darum, Probleme nicht nur intuitiv oder oberflächlich zu betrachten, sondern tiefgreifend zu analysieren und zu verstehen. Beispielsweise können Daten über Lernergebnisse oder Unterrichtsprozesse helfen, klare Muster und Herausforderungen zu identifizieren. Vertrauen ist die zweite entscheidende Säule. In einem vertrauensvollen Arbeitsumfeld können Probleme offen angesprochen werden, ohne dass Einzelpersonen dafür verantwortlich gemacht werden. Stattdessen wird gemeinsam nach Lösungen gesucht, die das gesamte System stärken. Wichtig ist, dass Probleme nicht als individuelle Schwächen wahrgenommen werden, sondern als Herausforderungen, die gemeinsam angegangen werden können. In der Praxis bedeutet das, dass regelmäßige, gut strukturierte Treffen im Kollegium stattfinden, bei denen Daten analysiert und Ziele definiert werden. Führungskräfte spielen dabei eine wichtige Rolle: Sie müssen diese Treffen anleiten, eine offene Gesprächskultur fördern und sicherstellen, dass sich alle Beteiligten gehört und wertgeschätzt fühlen.
Redaktion: Stichwort Führung: Welche Kompetenzen brauchen Schulleitungen, um Schulen erfolgreich durch Transformationsprozesse zu führen?
Sliwka: Transformative Führung bedeutet, eine Schule gezielt von einem Zustand A in einen neuen Zustand B zu entwickeln. Das umfasst pädagogische, technische und logistische Innovationen, die gleichzeitig mit dem Kollegium und den weiteren Beteiligten abgestimmt werden müssen. Transformationen bringen häufig Widerstände mit sich, daher sind psychologische Fähigkeiten enorm wichtig: Schulleitungen müssen Bedenken ernst nehmen, Perspektiven einbeziehen und dennoch klare Ziele vorgeben. Es braucht zudem strategische Fähigkeiten, um Innovationen nicht nur einzuführen, sondern sie sinnvoll in den Schulalltag zu integrieren. Dazu gehört es, Prioritäten zu setzen, Ressourcen zu koordinieren und verschiedene Akteure, wie Lehrkräfte und Eltern, einzubinden. Auch eine klare Vision für die Zukunft der Schule ist entscheidend, um Orientierung zu geben und alle Beteiligten auf einen gemeinsamen Weg mitzunehmen. Neben der Organisation spielt die Schulkultur eine große Rolle. Eine offene Fehlerkultur und gegenseitiges Vertrauen schaffen das notwendige Fundament, um Veränderung erfolgreich zu gestalten. Transformative Führung ist anspruchsvoll, aber sie legt die Basis dafür, Schulen fit für die Zukunft zu machen.
Redaktion: Sie sprachen davon, wie entscheidend Kooperation im Kollegium ist. Warum ist in Deutschland immer noch das Verständnis der Lehrkraft als Einzelkämpfer so verbreitet?
Sliwka: Unsere Schulkultur ist historisch stark individualistisch geprägt. Viele Lehrkräfte sehen ihren Unterricht nach wie vor als geschützten Raum, in dem sie autonom handeln und Entscheidungen treffen können. Diese Kultur des individuellen Arbeitens erschwert die Entwicklung von kooperativen Strukturen. Im internationalen Vergleich zeigen Länder wie Kanada oder Singapur jedoch, dass eine kooperative Kultur enorme Vorteile bringt. Dort sind Lehrkräfte und Schulleitungen in regelmäßige, strukturierte Zusammenarbeitsprozesse eingebunden, in denen Teams gemeinsam Daten analysieren, Best Practices austauschen und Strategien für konkrete Herausforderungen entwickeln. Solche Prozesse fördern Vertrauen und schaffen eine Basis für effektives gemeinsames Lernen. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass in Ländern wie Kanada die Zusammenarbeit nicht nur als zusätzliche Belastung gesehen wird, sondern langfristig als Entlastung wahrgenommen wird. Wenn Lehrkräfte und Schulleitungen regelmäßig kooperieren, können sie voneinander lernen, Synergien nutzen und sich gegenseitig unterstützen. Dies reduziert die individuelle Last und macht die Arbeit insgesamt effizienter und wirksamer. In Deutschland fehlt es jedoch oft an strukturellen Voraussetzungen wie verbindlichen Teamzeiten, klar definierten Formaten für die Zusammenarbeit oder einer gezielten Förderung dieser kooperativen Kultur in der Ausbildung. Die Herausforderung besteht darin, diese Barrieren zu überwinden und die Zusammenarbeit systematisch zu fördern.
„Ohne langfristige Planung und Schulentwicklungskonzepte bleiben digitale Technologien isolierte Einzelmaßnahmen, die wenig zur Verbesserung der Unterrichtsqualität beitragen.“
Prof. Dr. Anne Sliwka
Redaktion: In Ihrem Buch kritisieren Sie die „Projektitis“ – kurzlebige Einzelprojekte ohne langfristige Wirkung. Wie können Schulen nachhaltigere Entwicklungsstrategien entwickeln?
Sliwka: Die „Projektitis“, die wir in vielen Schulen beobachten, ist ein Symptom für die fehlende Kohärenz in der Schulentwicklung. Kurzlebige Einzelprojekte entstehen oft durch begrenzte Finanzierungsmechanismen, die auf bestimmte Zeiträume oder spezifische Themen ausgerichtet sind. Diese Projekte mögen kurzfristig Innovationen anstoßen, laufen aber Gefahr, nach Ende der Förderphase im Sande zu verlaufen, wenn es an langfristiger Einbindung in die Gesamtstrategie der Schule mangelt. Das führt häufig zu Frustration bei Lehrkräften, die Energie und Zeit in etwas investiert haben, das keinen nachhaltigen Bestand hat. Um nachhaltige Entwicklungsstrategien zu fördern, ist es entscheidend, dass Schulen sich auf kontinuierliche, iterative Prozesse konzentrieren, die aufeinander aufbauen und ineinandergreifen. Ein Beispiel wäre die Verknüpfung von Diagnostik, Leistungsbewertung und Teamarbeit. Langfristige Entwicklungsstrategien benötigen zudem eine klare Zielsetzung auf Systemebene. Schulen können solche Ziele nicht alleine entwickeln. Es braucht eine engere Verzahnung zwischen Schulen, Schulaufsicht und Schulträgern, um gemeinsame Visionen und Zielsetzungen zu formulieren. Die Schulen sollten sich als Teil eines Netzwerks begreifen, das nicht nur den Austausch fördert, sondern auch eine langfristige Perspektive ermöglicht.
Redaktion: Welche Rolle spielt die Digitalisierung in der Schulentwicklung?
Sliwka: Die Digitalisierung hat das Potenzial, Schulen grundlegend zu verändern. Ohne langfristige Planung und Schulentwicklungskonzepte bleiben digitale Technologien jedoch isolierte Einzelmaßnahmen, die wenig zur Verbesserung der Unterrichtsqualität beitragen. Ein zentraler Aspekt ist die Einbettung der Digitalisierung in die Teamarbeit. Schulen benötigen feste und regelmäßige Zeiten für Kollegien, um gemeinsam an einer kohärenten Digitalisierungsstrategie zu arbeiten. Das bedeutet nicht nur technische Schulungen, sondern auch die Reflexion darüber, wie digitale Medien den Unterricht bereichern können – beispielsweise durch adaptive Lernsoftware oder virtuelle Lernräume. Die Zusammenarbeit im Team ermöglicht es, innovative Ansätze zu entwickeln, die nicht nur technische Effizienz fördern, sondern auch pädagogisch sinnvoll sind. Dabei darf Digitalisierung nicht zum Selbstzweck werden. Sie sollte immer darauf abzielen, Lernprozesse zu unterstützen und zu verbessern, ohne grundlegende Bildungsideale zu verdrängen. Analoge Lernmethoden behalten weiterhin ihre Relevanz, besonders in der frühen Schulbildung, wo sie nachweislich Vorteile für die kognitive Entwicklung haben. Digitalisierung sollte also nicht nur technische Prozesse erleichtern, sondern vor allem Lernenden und Lehrenden neue Möglichkeiten eröffnen, Wissen zu erwerben und miteinander zu interagieren.
Redaktion: Frau Professorin Sliwka, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Anne Sliwka ist Professorin für Bildungswissenschaft an der Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Schulentwicklung, inklusive Bildung und internationale Bildungsforschung. Sie ist eine gefragte Expertin für transformative Führung in Schulen und Autorin zahlreicher Publikationen, darunter das Buch „Das lernende Schulsystem“, das sie gemeinsam mit Prof. Britta Klopsch verfasst hat. Sliwka engagiert sich dafür, wie datenbasierte Ansätze und kooperative Professionalität das Bildungssystem zukunftsfähig machen können.