Das Recht auf Bildung und der schwierige Weg zu Mindeststandards in der Schule

Impulse-Dialog über Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit der SWK-Vorsitzenden Felicitas Thiel und dem Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth

Was meint das Bundesverfassungsgericht, wenn es von einem „unverzichtbaren Mindeststandard“ an Bildungsangeboten spricht? Und was hat das mit den Mindeststandards aus dem IQB-Bildungstrend zu tun? Darüber diskutierten vergangene Woche die Bildungsfachleute Felicitas Thiel und Heinz-Elmar Tenorth im Rahmen der Impulse-Reihe des ZSL Baden-Württemberg.

Hinter dem Begriff Mindeststandard stecken je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen – das wurde schnell deutlich beim Gespräch zwischen Felicitas Thiel, Professorin für Schulpädagogik und Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, und Heinz-Elmar Tenorth, emeritierter Professor für historische Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin.  Der „unverzichtbare Mindeststandard“ laut Bundesverfassungsgericht ziele auf die Angebotsstruktur der Schule und gleichzeitig auf die gesamte Schulbildung der Kinder ab, also auf fachliche Kenntnisse wie auf soziale Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler erlernen müssten, um selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben zu können, betonte Tenorth. Die Mindeststandards, die das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) entwickelt hat, sind dagegen allein auf einzelne Schulfächer bezogene Kompetenzen. Hier hat der jüngste IQB-Bildungstrend gezeigt, dass der Anteil der Viertklässlerinnen und Viertklässler, die den Mindeststandard nicht erreichen, in allen Kompetenzbereichen teils deutlich zugenommen hat.

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu Schulschließungen

Im November 2021 hat das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Schulschließungen in Deutschland während der Corona-Pandemie geurteilt und dabei ein Recht von Kindern und Jugendlichen auf schulische Bildung bekräftigt. Dieses Recht umfasst laut Gericht auch einen Anspruch auf Einhaltung eines unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten. Der verfassungsrechtliche Bildungsauftrag wird verfehlt, wenn der für die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler unverzichtbare Mindeststandard schulischer Bildung unterschritten ist, schreiben die Richterinnen und Richter in ihrem förmlichen Beschluss.

Fokus auf fachliche Basiskompetenzen

Die wieder aufgeflammte Debatte um Mindeststandards beschränkt sich seit Veröffentlichung des IQB-Bildungstrends auf die Analyse, wie es zu diesen alarmierenden Ergebnissen kommen konnte und wie sich diese Entwicklung umkehren lässt. Das breitere Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, das bei Mindeststandard auch soziale und kulturelle Kompetenzen mit einbezieht, spielt dabei kaum eine Rolle. Felicitas Thiel erklärte das damit, dass fachliche Kompetenzen wie beispielsweise flüssiges Lesen die Voraussetzung für alle weiteren Fähigkeiten seien: „Wenn wir die Kinder nicht befähigen, flüssig zu lesen und zu verstehen, brauchen wir über alles andere, was kulturelle Bildung bedeutet, nicht zu reden.“

„Wenn wir die Kinder nicht befähigen, flüssig zu lesen und zu verstehen, brauchen wir über alles andere, was kulturelle Bildung bedeutet, nicht zu reden.“

Prof. Dr. Felicitas Thiel

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Forderung nach mehr Diagnostik im Unterricht

Nach Ansicht von Tenorth fehlt es an flächendeckenden Implementationsstrategien selbst für die vom IQB definierten Mindeststandards und an Unterstützungssystemen für gefährdete Schülerinnen und Schüler. Felicitas Thiel stimmte ihm zu: „Der Unterricht orientiert sich an Lehrplänen. Da sind Regelstandards beschrieben, aber nicht Mindeststandards. Die haben wir nicht implementiert.“ Sie forderte einen stärkeren Einsatz von Diagnostik, um Förderbedarf zu erkennen. „Es ist absolut unverzichtbar, dass ich mir als Lehrkraft Aufgabenlösungen anschaue und schaue, wo macht das Kind Fehler und wie kann ich es unterstützen“, so Thiel. „Sonst kriegen wir das mit den Basiskompetenzen nicht in den Griff.“ Viele Lehrkräfte weigerten sich aber, Diagnostik anzuwenden und hätten auch kein ausreichendes Wissen über die vielfältigen trainingsförmigen Programme, die es inzwischen gebe. Sie nannte beispielsweise die Toolbox der Initiative BiSS zum Transfer von Sprachbildung, Lese- und Schreibförderung in Schulen und Kitas und insbesondere die Lernverlaufsdiagnostik „Quop“.

Rolle der Lehrkräfte

Für die Bildungsexpertin steht die professionelle Lehrkraft mit gutem fachdidaktischen und pädagogisch-psychologischen Wissen im Mittelpunkt des Unterrichts. Angesichts des Lehrermangels und dem Rückgriff auf Quereinsteiger stelle sich die Frage, wie die „wertvolle Ressource Lehrkraft“ künftig eingesetzt werden solle. Dabei müsse man auch über andere Organisationsformen und den stärkeren Einsatz von Assistenzfunktionen und digitalen Medien nachdenken, sagte Thiel. 

Bildungshistoriker Tenorth dagegen äußerte sich skeptisch zur „Lehrkraftfrage als das alles lösende System“: „Der Lehrer ist nicht allein, es gibt das Kollegium, Fachgruppen, Außeninstanzen.“ Er plädierte dafür, Schule stärker als komplexe Gemeinschaft im Ganzen zu sehen, in der sich Lehrkräfte, Kinder und Eltern gemeinsam verständigten. Schule müsse eine eigenverantwortliche, handlungsfähige Einheit werden und auch Geld entsprechend ihrer Schwerpunkte ausgeben können, etwa auch für multiprofessionelle Teams.

Die Sicherung des Mindeststandards von Bildung im Sinne des Bundesverfassungsgerichts müsse das Ziel sein, sagte Thiel und sprach von einem „Riesenauftrag“. Sie bezweifle aber, dass die Schulen dies in den nächsten zehn Jahren garantieren könnten.

Zur Person

Prof. Dr. Felicitas Thiel ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der FU Berlin. Seit 2014 ist Thiel Herausgeberin der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Seit 2021 ist sie die Ko-Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Thiel gehört zu den Herausgebern des Online-Magazins schulmanagement.

Zur Person

Heinz-Elmar Tenorth ist emeritierter Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem der Geschichte der Erziehungswissenschaften und ihren Forschungsmethoden, sowie der Universitätsgeschichte. Er hat zahlreiche programmatische Arbeiten zum Bildungsbegriff verfasst und eine Reihe bildungspolitischer Stellungnahmen vorgelegt, so zum Beispiel zum Kerncurriculum der gymnasialen Oberstufe oder zum Konzept von Bildungsstandards. In diesem Zusammenhang beschäftigt ihn vor allem die Frage, wie in unserem Schulsystem mehr Bildungsgerechtigkeit erreicht werden kann. Dabei plädiert er nachdrücklich für die Festlegung von Mindeststandards, die er als unerlässliche Voraussetzung zur Gewährleistung von gesellschaftlicher Teilhabe sieht.