Deeper Learning als Pädagogik für das 21. Jahrhundert

Die Bildungsforscherin Anne Sliwka plädiert für ein neues Konzept von Lernen und Unterrichten in der digitalen Wissensgesellschaft.

Wie geht modernes Lernen im Kontext der Digitalisierung? Die Heidelberger Bildungsforscherin Anne Sliwka erklärt die Idee hinter dem Deeper-Learning-Ansatz und nennt Beispiele dafür, wie sich das Konzept im Unterricht anwenden lässt. 

Die Lebens- und Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts verändern sich rasant. Der Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften mit ausgeprägten analytischen und sozialen Fähigkeiten steigt, während der Bedarf an geringqualifizierten Arbeitskräften, die Routinetätigkeiten ausüben, sinkt. Diese Veränderungen müssen Schulen aktiv aufgreifen und mitgestalten, wenn sie Schülerinnen und Schüler bestmöglich für erfolgreiche Lebenswege vorbereiten sollen. 

Derzeit folgen viele Schulen in Deutschland noch immer einer traditionellen Logik des Lernens im Gleichschritt mit Fokus auf rein transmissive Wissensvermittlung. Dies entspricht nicht mehr den Anforderungen der digitalen Wissensgesellschaft. Es bedarf eines tiefgreifenden Lernens, das den Wissenserwerb und dessen problemlösende Anwendung miteinander verknüpft: Deeper Learning.  

Was ist Deeper Learning?

Deeper Learning ist ein Modell zur Strukturierung von Unterricht, das Schülerinnen und Schüler sowohl beim Erwerb konzeptuellen fachlichen Wissens als auch beim Erwerb der überfachlichen 21st Century Skills wie Kooperation, Kommunikation, kritischem Denken und Kreativität unterstützen soll. Die Kernelemente des Deeper Learning sind neben der Verschränkung von tiefgreifendem Wissen und 21st Century Skills die Arbeit in hybriden Lernumgebungen sowie ein pädagogisches Verständnis von Lernen als Persönlichkeitsentwicklung im Überschneidungsbereich von Wissen, Identität und Kreativität.  Lernen wird vielseitiger, lebensnaher und relevanter. Dabei blendet der Unterricht die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht aus, sondern nutzt sie zielführend, um die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler in allen Phasen des Deeper Learning gewinnbringend anzureichern. 

Deeper Learning lässt sich für verschiedenste Altersgruppen adaptieren, eignet sich aber auf Grund seiner komplexen Struktur besonders gut für den Unterricht im Sekundarbereich. 

Deeper Learning in der Praxis – das Phasenmodell

Deeper Learning gliedert sich für Schülerinnen und Schüler in drei Phasen: Erstens: Eine Phase der Instruktion und Aneignung, in der das sogenannte Wissensfundament der thematischen Einheit erworben wird. Zweitens: Eine Phase der Ko-Kreation und Ko-Konstruktion, in der die Lernenden interessengeleitet und kooperativ an Vertiefungsthemen arbeiten und dabei ihr Wissen anwenden und weiterentwickeln. Drittens: Eine abschließende Phase der authentischen Leistung, in der die Anstrengungen in ein real wirksames Lernprodukt oder eine Performanz münden. Vorgelagert ist eine explizite Designphase, in der Lehrkräfte gemäß des Prinzips der kooperativen Professionalität das Unterrichtskonzept und die Unterrichtsstruktur erstellen. Dabei arbeiten sie im Team selbst kollaborativ und kreativ. 
 

Instruktion und Aneignung 

Die erste Phase der Instruktion und Aneignung zielt auf das Verstehen fachlicher Schlüsselkonzepte und relevanten Vorwissens ab. Dabei können instruktiv gesteuerte Prozesse durch die Lehrkraft oder externe Experten und Expertinnen zum Einsatz kommen. Diese Aneignung kann auch digital gestützt erfolgen, indem Lernende beispielsweise auf einer Lernplattform bereitgestellte Materialien und Arbeitsaufträge bearbeiten. Idealerweise nutzen die Lehrkräfte dazu unterschiedliche Kanäle der Vermittlung, um den Lernenden jeweils passende Möglichkeiten zur Wissensaneignung zur eröffnen. Am Ende der ersten Phase sollten alle Lernenden die fachlichen Schlüsselkonzepte und die fundamentalen Wissensgrundlagen erworben haben. Dieses „Concept Attainment“ ist essenziell, damit die Lernenden in Phase II kreativ mit dem Wissen weiterarbeiten können. Es ist daher von Vorteil vor dem Übergang in die ko-konstruktive und ko-kreative Phase zu überprüfen, ob alle Lernenden das Wissensfundament erworben haben. Dies sollte nicht in Form benoteter Tests geschehen, sondern vielmehr als formativer Prozess angelegt sein. Denkbar sind neben dem Bearbeiten von Multiple-Choice-Fragen zu den Schlüsselkonzepten auch kreative Formen wie die Erstellung und Erklärung einer grafischen Concept-Map. In ihr können die  Lernenden ihr erworbenes Wissen systematisch und Bezug zueinander darstellen. Auch das Spielen eines „Tabu“-Spiels, bei dem die Lernenden sich gegenseitig Schlüsselbegriffe erläutern und erraten müssen, ist eine gute Möglichkeit. 
 

Ko-Konstruktion und Ko-Kreation

Die zweite Phase fokussiert sich auf die ko-konstruktive und ko-kreative Arbeit mit Wissen. Die Lernenden sind aufgefordert, mit dem in Phase I erworbenen Wissen analytisch, problemlösend und kreativ weiterzuarbeiten und selbst neues Wissen zu generieren. Im Vergleich zu Phase I arbeiten die Lernenden in Phase II stärker selbstreguliert und meistens in kleinen Teams. Wissensaneignung und der Erwerb von 21st Century Skills werden dabei miteinander verknüpft und verschränkend weiterentwickelt. Besonders wichtig ist in dieser Phase das Prinzip von „Voice & Choice“: Der Lernprozess ist nicht engmaschig durch die Lehrpersonen vorgegeben, sondern die Schülerinnen und Schüler erhalten Freiräume zur aktiven Mitgestaltung.  So erhalten sie auf ihrem Lernpfad die Gelegenheit, ihrem Entwicklungsstand gemäße Entscheidungen selbst zu treffen. So erleben sie sich selbst als aktiv handelnde Personen und erfahren Selbstwirksamkeit. Die Persönlichkeitsentwicklung wird gestärkt, authentisches und engagiertes Lernen ermöglicht. Die Lehrkraft fungiert in dieser Phase weniger als Instruktorin, sondern stärker als Coach. 
 

Authentische Leistung 

Eine Deeper-Learning-Einheit mündet in eine authentische Leistung (Phase III): ein Produkt oder eine Performanz, die dem Lerngegenstand und den Lernenden entspricht. Deeper Learning nimmt damit Abstand von der traditionellen Leistungsmessung in schriftlichen Klassenarbeiten und ermöglicht vielfältige Leistungen, die dem entsprechen, was in unterschiedlichen beruflichen Kontexten heutzutage als Leistung gilt. Eine authentische Leistung kann eine Aufführung, eine Podiumsdiskussion, ein Podcast, ein Blogbeitrag, ein Dokumentarfilm, eine Ausstellung, eine App, ein festliches Mahl oder ein Experiment sein, um nur einige Beispiele zu nennen. Nach der authentischen Präsentation der Arbeitsergebnisse wird diese von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern gemeinsam kritisch reflektiert. Anhand von zuvor gemeinsam festgelegten transparenten Kriterien erhalten die Schülerinnen und Schüler während des Arbeitsprozesses und zum Abschluss Feedback. 

Praxisbeispiel

In einer insgesamt zwölf Schulstunden umfassenden Deeper Learning-Einheit zum Thema Molekularbiologie erhielten Schülerinnen und Schüler der Kursstufe 1 am St. Raphael Gymnasium in Heidelberg zunächst medial gestützten thematischen Input zu den Themen Genetik, Gentechnologie und Molekularbiologie. So konnten die Schülerinnen und Schüler sich die Schlüsselkonzepte der Thematik aneignen. Darüber hinaus erhielten sie eine methodische Einführung in die Nutzung des webbasierten Designprogramms Piktochart. Gemäß des Prinzips von Voice & Choice konnten sie dann interessengeleitet einen Forschungsschwerpunkt wählen und Kleingruppen bilden. In den Forschungsteams erhielten sie digital Videos und Texte zu ihrem Thema. Als authentische Leistung visualisierten sie einen komplexen biologischen Wirkmechanismus als Infografik auf einem wissenschaftlichen Poster mit Hilfe des Programms Piktochart. Die Poster wurden zum Ende der Einheit gegenseitig auf einem Posterkongress präsentiert (wie sie in der wissenschaftlichen Welt üblich sind), in einer Diskussion in Bezug zueinander gesetzt und kritisch reflektiert. Zum Abschluss evaluierten Lernende und Lehrende gemeinsam sowohl den Arbeitsprozess als auch die authentischen Produkte.

Empirische Befunde zu Deeper Learning

Erste empirische Befunde aus US-amerikanischen Studien bescheinigen Deeper Learning positive Effekte bezüglich diverser Kompetenzfelder. So wirkt Deeper Learning positiv auf kognitive Kompetenzen, also zum Beispiel auf die Beherrschung akademischen Wissens und  das Entwickeln von komplexen Problemlösestrategien. Positive Effekte zeigen sich auch bei interpersonellen Kompetenzen wie Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, sowie bei intrapersonellen Kompetenzen, wie etwa Lernmotivation und Durchhaltevermögen. 

Insgesamt gilt, dass die positiven Effekte von Deeper Learning bei leistungsstarken Lernenden etwas ausgeprägter sind als bei leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern. Dieser Befund könnte darauf hindeuten, dass Deeper Learning nicht nur bestimmte Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen voraussetzt, sondern auch Grundfähigkeiten der Selbstregulation. 

Zusätzlich zu den Befunden von Schulen, die Deeper Learning bereits explizit umsetzen, lassen sich Befunde heranziehen, die zentrale Elemente des Deeper Learning untersuchen und deren Effektivität nachweisen. So wissen wir beispielsweise, dass Lernende von direkter Instruktion profitieren, wenn fachliche Konzepte explizit, logisch und strukturiert erklärt werden – wie es in der ersten Phase des Deeper Learning, der Instruktion und Aneignung, geschieht. Wir wissen auch, dass projekt- und problembasiertes Lernen – wie es in der zweiten, ko-konstruktiven Phase des Deeper Learning erfolgt – positiv auf den kognitiven, interpersonellen und intrapersonellen Kompetenzzuwachs wirkt. Ähnlich positive Ergebnisse weisen Studien zum Forschenden Lernen auf (inquiry-based learning), insbesondere wenn im Laufe des Lernprozesses gezielte Unterstützung und Mentoring von der Lehrkraft bereitgestellt werden. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass Schülerinnen und Schüler, die authentische Leistungen im Regelunterricht hervorbringen, auch in nationalen Leistungsvergleichstests im Lesen und in Mathematik höhere Leistungen erzielen. Darüber hinaus ist authentische Leistungserbringung – wie sie in der dritten Phase des Deeper Learning erfolgt – die effektivste Methode, um fächerübergreifende Lernergebnisse zu dokumentieren und zu bewerten. Die bisherige Forschung weist somit auf eine hohe Wirksamkeit einzelner Elemente des Deeper Learning hin. Deren Zusammenspiel sollte in Zukunft weiter untersucht werden. 

Praxisbeispiel

Die zehnte Klasse der Hardtschule Durmersheim durchlief eine interdisziplinär angelegte Deeper-Learning-Einheit zum Thema Klimawandel. Nachdem in Phase I ein gemeinsames Wissensfundament erarbeitet wurde, konnten die Schülerinnen und Schüler in Phase II Gruppen rund um unterschiedliche Forschungsschwerpunkte bilden – darunter Themen wie Meeresspiegelanstieg und Extremwetterereignisse, aber auch Klima als Fluchtursache. Die Jugendlichen erhielten einen vielseitigen Materialpool zu ihrem Thema und konnten so eigene Forschungsschwerpunkte setzen. Als authentische Leistung erstellte jede Gruppe einen fünfminütigen Videobeitrag, dessen Umfang und inhaltliche Anhaltspunkte (Problemdefinition, Problementstehung, Betroffene, Folgen, Lösungsansätze) vorgegeben waren. Welche Form der Videobeitrag haben sollte, wurde der Kreativität der Schülerinnen und Schüler hingegen frei überlassen (zum Beispiel ein Erklärvideo, eine Dokumentation, eine szenische Inszenierung oder ein Streitgespräch). Die Schülerinnen und Schüler entschieden sich in Absprache miteinander für kurze Nachrichten-Beiträge, welche später zu einer „Tagesschau“ zusammengefügt und vor einem Publikum vorgetragen wurden. Die Freiräume für eigene Entscheidungen im Lernprozess stärkten nicht nur die Motivation, sondern auch Kreativität und Engagementbereitschaft der Lernenden. 

  • Sliwka A, Klopsch B. Deeper Learning in der Schule: Pädagogik des digitalen Zeitalters. Weinheim ; Basel: Beltz; 2022.
  • Klopsch B, Sliwka A, eds. Kooperative Professionalität: internationale Ansätze der ko-konstruktiven Unterrichtsentwicklung. 1st ed. Weinheim ; Basel: Beltz Juventa; 2021.
  • Klopsch B, Sliwka A. Kooperative Professionalität erzielen: Implikationen für Deutschland. In: Klopsch B, Sliwka A, eds. Kooperative Professionalität. Weinheim ; Basel: Beltz Juventa; 2021.
  • Klopsch B, Sliwka A. Kooperative Professionalität als internationaler Ansatz der Unterrichtsentwicklung. In: Klopsch B, Sliwka A, eds. Kooperative Professionalität. Weinheim ; Basel: Beltz Juventa; 2021.