Demokratiebildung durch die Stärkung der Fächer Politik und Geschichte an den Schulen

Prof. Dr. Felicitas Thiel erklärt im Gespräch die Stellungnahme der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz zur Demokratiebildung.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) hat Empfehlungen zur Demokratiebildung an Schulen vorgelegt. Sie regt an, insbesondere die Fächer Politik und Geschichte zu stärken und darüber hinaus die Demokratiebildung als fächerübergreifendes Prinzip in allen Schulfächern besser zu verankern. Dadurch sollen das Demokratieverständnis an den Schulen gefördert und Radikalisierungstendenzen vorgebeugt werden.

Redaktion: Frau Professor Thiel, was hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz bewogen, jetzt eine Stellungnahme zur Demokratiebildung abzugeben?

Prof. Dr. Felicitas Thiel: Für die Beschäftigung mit dem Thema der Demokratiebildung gibt es aktuell ja viele Anlässe – wenn man beispielsweise an die Europawahl denkt und den von vieler jüngeren Wählerinnen und Wählern artikulierten Vertrauensverlust in die Politik, oder auch an die aktuellen internationalen Konflikte – sei es der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine oder auch der Nahostkonflikt. Diese Konflikte werden durch die Schülerinnen und Schüler auch in die Klassenzimmer hineingetragen. Schulen müssen sich zwangsläufig damit beschäftigen.
Demokratiebildung ist ein wichtiger Auftrag der Schule. Die Kultusministerkonferenz hat dazu im Jahre 2018 einen Beschluss gefasst. So ist die Demokratiebildung in den Schulgesetzen aller Bundesländer – und teilweise sogar in den Landesverfassungen – verankert.

„Demokratiebildung hat ihr Fundament im fachlichen Wissen und den fachlichen Kompetenzen der Fächer Politik und Geschichte.“

Prof. Dr. Felicitas Thiel

Die Kernbotschaft unserer Stellungnahme ist: Demokratiebildung hat ihr Fundament im fachlichen Wissen und den fachlichen Kompetenzen der Fächer Politik und Geschichte. Auf der zweiten Ebene muss Demokratiebildung als fächerübergreifendes Prinzip in allen Fächern verankert werden, und drittens ist Demokratiebildung eine Aufgabe der Schulentwicklung.

Redaktion: Warum gerade Geschichte und Politik?

Thiel: Dass das Schulfach Politik eine besondere Bedeutung hat, ist ja unstrittig. Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler etwas über die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates und ihr Zusammenspiel wissen. Schülerinnen und Schüler müssen verstehen, dass rechtsstaatliche Prinzipien Minderheiten schützen und dass Mehrheitsentscheidungen dadurch Begrenzungen erfahren können. Wissen über politische Entscheidungsprozesse ist überdies wichtig für die Akzeptanz von Kompromissen.

Das Fach Geschichte ist für die Demokratiebildung nicht zuletzt deshalb wichtig, weil in einer pluralen Gesellschaft unterschiedliche Gruppen aufeinandertreffen, die durch unterschiedliche historische Bezüge geprägt sind. Schülerinnen und Schüler sollten nicht nur historisches Wissen über unterschiedliche Regionen der Welt erwerben, sondern auch die Kompetenz, historische Narrative kritisch zu hinterfragen, die Abgrenzungen und Abwertungen begründen: das gilt für historisch munitionierte rechtsradikale Ideologien ebenso wie für die historischen Narrative, die den russischen Angriffskrieg rechtfertigen, oder für die Ideologie der Grauen Wölfe, um nur ein paar aktuelle Beispiele zu nennen.

Redaktion: In Ihrer Stellungnahme haben Sie sieben Empfehlungen veröffentlicht: Können Sie konkretisieren, was das Ziel der „ländergemeinsamen Definition von Kompetenzzielen der Demokratiebildung in den Fächern Politik und Geschichte“ ist?

Thiel: Zwar existieren sowohl in der Geschichts- als auch in der Politik-Didaktik Kompetenzmodelle. Es wurden aber bislang noch keine verbindlichen Kompetenzziele im Sinne von Bildungsstandards zwischen den Ländern verabredet. Dies sollte mittelfristig geschehen, und dann sollte auch überprüft werden, ob die Schülerinnen und Schüler die Kompetenzziele erreichen.

Redaktion: Worauf zielt Ihre Forderung nach einem „durchgängigen Bildungsangebot in den Fächern Politik und Geschichte“ ab?

Thiel: Die Sichtung der Curricula und Stundentafeln hat gezeigt, dass in den nicht-gymnasialen Schulformen in den Jahrgangsstufen 5 und 6 eine Lücke im Politikunterricht klafft. Gerade in diesem Alter kommen Jugendliche über soziale Medien und teilweise auch über Gaming-Aktivitäten immer häufiger mit extremistischen Inhalten in Berührung. Deshalb ist gerade in diesen Jahrgangsstufen politische Medienbildung unverzichtbar. Aber auch die Herabsetzung des Wahlalters erfordert eine durchgängige politische Bildung.
Was das Curriculum für Geschichte anbelangt: Hier fällt zum Beispiel auf, dass global- und verflechtungshistorische Ansätze weitgehend fehlen, oder dass der Nationalsozialismus und die Etablierung der Demokratie in Deutschland erst relativ spät, in der Regel in der neunten Jahrgangsstufe, thematisiert werden.
Aus unserer Sicht sollten Vertreterinnen und Vertreter aus Fachwissenschaft und Fachdidaktik einen kritischen Blick auf die Curricula werfen und prüfen, wo Veränderungs- bzw. Ergänzungsbedarf besteht.

Redaktion: Worauf zielt die Empfehlung ab, den Unterricht in den Fächern Geschichte und Politik sowie im Verbundfach Sachunterricht „gezielt weiterzuentwickeln“?

Thiel: Hier haben wir uns gefragt: Gelingt es im Geschichts- und Politikunterricht in ausreichendem Maß, alle Schülerinnen und Schüler für Inhalte der Demokratiebildung zu interessieren? Gerade jene Schülerinnen und Schüler, die aus bildungsbenachteiligten Familien kommen, sind auf einen interessanten und effektiven Unterricht in Politik und Geschichte angewiesen. Entsprechende Studien sowohl für Geschichte und Politik haben gezeigt, dass eine große Wissenslücke klafft zwischen den Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I, die das Gymnasium besuchen, und jenen, die in einer nicht-gymnasialen Schulform lernen.
Neben der Vermittlung von Wissen geht es auch um die Herausbildung von Beurteilungs- und Argumentationskompetenzen. Dafür müssen stärker diskursive und handlungsorientierte Ansätze im Unterricht implementiert werden: Das können einerseits aktivierende Formate wie Planspiele sein, andererseits sollte im Politik- und Geschichtsunterricht grundsätzlich das Argumentieren und Begründen stärker gefördert werden. Dazu gehört auch die Wertschätzung der Meinung von Anderen, und zwar im Sinne eines diskursorientierten Unterrichts, in dem man Konflikten nicht ausweicht, sondern diese Konflikte thematisiert.

Redaktion: Sollte nicht auch bereits in der Grundschule mit Demokratiebildung begonnen werden?

Thiel: Selbstverständlich! In diesem Zusammenhang haben wir ja unter anderem auch empfohlen, Politik und Geschichte überall als Bestandteile des Sachunterrichts in der Grundschule zu verankern. Internationale Studien zeigen, dass man mit adressatengerechten Ansätzen in der Grundschule demokratische Einstellungen und Verhaltensweisen nachhaltig fördern kann.

Redaktion: In der vierten Empfehlung fordern Sie, die „Demokratiebildung als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip in allen Schulfächern“ zu verankern: Wäre es nicht sinnvoll, auch einfach ein Schulfach „Demokratie“ einzuführen?

Thiel: Ein Schulfach „Demokratie“ – was soll ich mir darunter vorzustellen? Ich habe ja bereits gesagt, dass das fachliche Wissen und die entsprechenden Kompetenzen im Geschichts- und Politikunterricht erworben werden müssen. Darüber hinaus müssen alle Schulfächer zur Demokratiebildung beitragen. Die Schülerinnen und Schüler warten ja nicht auf den Politik- oder Geschichtsunterricht, wenn sie aktuelle politische Konflikte thematisieren. Solche Themen können in jedem Unterricht auftauchen. Folglich muss sich jede Lehrkraft damit beschäftigen, wie damit umzugehen ist. Demokratiebildung bedeutet hier auch, dass wir in jedem Unterrichtsfach dazu bereit sein müssen, die unterschiedlichen Perspektiven aufzunehmen – und dass wir diese unterschiedlichen Ansichten auch wertschätzen. Die Wertschätzung hat ihre Grenzen dabei selbstverständlich bei menschenfeindlichen Einstelllungen und Verhaltensweisen. Hier müssen Lehrkräfte dann auch eingreifen.

„Schule ist eine wichtige Sozialisationsagentur. Da werden Einstellungen geformt und Verhaltensweisen erworben. Demokratisches Handeln und Verhalten muss deshalb im Unterricht aller Fächer erfahrbar sein.“

Prof. Dr. Felicitas Thiel

Schule ist eine wichtige Sozialisationsagentur. Da werden Einstellungen geformt und Verhaltensweisen erworben. Demokratisches Handeln und Verhalten muss deshalb im Unterricht aller Fächer erfahrbar sein. Es ist darüber hinaus Aufgabe der Schule als Ganzes, einerseits Normen und Regeln des Respekts und der Toleranz durchzusetzen und andererseits Partizipation zu ermöglichen.

Redaktion: Eine „gezielte Schulentwicklung“ fordern Sie in der fünften Empfehlung: Was können die Schulleiterinnen und Schulleiter tun, um die Verbreitung von Extremismus und Rassismus an ihren Schulen zu verhindern?

Thiel: Bei der Radikalisierungsprävention sind besondere Ansätze gefragt. Betroffene Schulen müssen dafür klare Verfahren entwickeln und enge Kooperationen mit außerschulischen Akteuren schließen, wie zum Beispiel Beratungsstellen. Schulen können das nicht alleine schultern. Sie sind auf professionelle Unterstützung angewiesen. Es gibt inzwischen auch recht gute Ansätze wie das in Berlin und Nordrhein-Westfalen erprobte und auch evaluierte „CleaR“-Programm, bei dem von der Schule bestimmte „Clearing-Beauftragte“ und „Clearing-Teams“ zusammen nach einem standardisierten Verfahren entsprechende, an der Schule auftretende Fälle bearbeiten. Generell sollte in einem dreistufigen Verfahren vorgegangen werden: Zunächst muss Präventionsarbeit geleistet werden – für alle Schülerinnen und Schüler: Normen, Werte und Verhaltenserwartungen müssen vom gesamten Kollegium getragen und auch entschieden durchgesetzt werden. Wenn man bei einzelnen Schülerinnen und Schülern dann riskante Ansichten oder Verhaltensweisen entdeckt, dann müssen für diese Schülerinnen und Schüler entsprechende Angebote gemacht werden. Und wenn es dann tatsächlich einen begründeten Verdacht auf Radikalisierung gibt, dann ist die Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen wichtig – also mit Beratungsstellen, Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sowie gegebenenfalls mit den Sicherheitsbehörden.

Redaktion: Was sollte denn hinsichtlich der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte geschehen? Diese ist ja Teil Ihrer sechsten Empfehlung.

Thiel: Drängender Handlungsbedarf in der Weiterbildung besteht vor allem vor dem Hintergrund, dass in den nicht-gymnasialen Schulformen in den Fächern Politik und Geschichte teilweise die Hälfte der Stunden fachfremd (Anm. d. Red.: ohne das Fach studiert zu haben) unterrichtet wird. Und es ist ja bekannt, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen der fachlichen Ausbildung und der Qualität des Unterrichts. Außerdem vermeiden fachfremd unterrichtende Lehrkräfte häufig die Thematisierung politischer Konflikte. Hier muss also eine gezielte Nachqualifizierung erfolgen.
Darüber hinaus benötigen alle Lehrkräfte Fortbildungen zur Demokratiebildung und einfach abrufbare Angebote zu jeweils aktuellen politischen Krisen und Konflikten. Hier ist positiv zu erwähnen, dass einige Bundesländer schnell mit entsprechenden Angeboten oder konkreten Handreichungen, zum Beispiel zum wachsenden Antisemitismus oder zum Umgang mit Grundrechtskonflikten, reagiert haben.

Redaktion: In der siebten und letzten Empfehlung spricht sich die SWK dafür aus, „strukturelle und materielle Voraussetzungen für die Verankerung der Demokratiebildung auf allen Ebenen“ zu schaffen: Was haben wir uns darunter vorzustellen?

Thiel: Für die Umsetzung der Empfehlungen müssen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu gehört zum einen ein Monitoring des Erwerbs demokratischer Kompetenzen. Verwiesen sei hier beispielsweise auf die Praxis in den USA oder auf die Teilnahme der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein an der ICCS-Studie. (Anm. d. Redaktion: Die ICCS 2022 ist eine international vergleichende Studie zur politischen Bildung und Demokratiebildung.)

Zum anderen benötigen Schulen ausreichende Unterstützungsstrukturen und Ressourcen. Das gilt für Fortbildungen zu aktuellen Krisen, die in ausreichender Zahl vorhanden sein müssen, oder für Unterstützungsangebote von Beratungsstellen zur Extremismusprävention bis hin zu Mitteln für den Besuch von außerschulischen Bildungsorten wie Parlamenten oder Gedenkstätten.

Auch die Förderung von internationalen Austauschprogrammen an den Schulen erscheint uns wichtig, da sie bei den Schülerinnen und Schülern die Toleranz und das Verständnis für andere Kulturen fördern können.

Nicht zuletzt sollte auch in die Qualität der Materialien investiert werden. Es gibt zwar eine Vielzahl von Materialien und Ansätzen zur Demokratiebildung. Ob diese Ansätze wirksam sind, ist allerdings weitgehend unbekannt. Hier wäre eine bessere Kooperation zwischen Fachdidaktik, Fachwissenschaft und Medien bei der Entwicklung und Evaluation wünschenswert. Auch die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung spielen hier eine wichtige Rolle.

Redaktion: Was passiert denn nun mit Ihren Empfehlungen?

Thiel: Wir hoffen, dass die Empfehlungen in der Politik, aber auch bei den Vertreterinnen und Vertretern in Schulen, Landesinstituten, fachdidaktischen Gesellschaften und Universitäten intensiv diskutiert werden, und dass unsere Empfehlungen eine Richtschnur sein können für eine bessere Verankerung der Demokratiebildung in Schulen.

Redaktion: Frau Professorin Thiel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Felicitas Thiel ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der FU Berlin. Seit 2014 ist Thiel Herausgeberin der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Seit 2021 ist sie die Ko-Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Thiel gehört zu den Herausgebern des Online-Magazins schulmanagement.