Den eigenen Unterricht reflektieren: Aber wie?

Was es für eine evidenzbasierte Analyse der eigenen Unterrichtsstunden braucht, schildert Dr. Ulrike Hartmann in diesem Gastbeitrag.

Mehr als ein bisschen Nachdenken: Für eine effektive, evidenzbasierte Reflektion des eigenen Unterrichts bleibt Lehrkräften in ihrem belasteten Arbeitsalltag wenig Zeit, viele fühlen sich damit überfordert. Wie Selbstanalyse dennoch gelingen kann, was sie bringt und welche wissenschaftlichen Ressourcen hilfreich sind, schildert Dr. Ulrike Hartmann vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) in ihrem Gastbeitrag.

Bereits im Studium und Vorbereitungsdienst sind Lehrkräfte mit dem Anspruch konfrontiert, ihre Unterrichtshandlungen umfassend zu reflektieren. Donald Schön prägte den Begriff des Reflective Practitioner, mit dem gemeint ist, dass eine erfolgreiche Ausübung von komplexen, anspruchsvollen Berufen nur dann gelingen kann, wenn Professionelle ihre eigenen Handlungen einer kontinuierlichen Reflexion unterziehen. 

Der Begriff Reflexion bleibt jedoch oftmals vage und unbestimmt. Einige Kernelemente lassen sich aber über verschiedene theoretische Modelle hinweg festhalten: Reflexion ist in der Regel anlassbezogen und umfasst eine Analyse, Erklärung und Bewertung von Situationen oder Handlungen, um über intensives Nachdenken zu einem tieferen Verständnis gelangen zu können. Häufig werden zudem Phasenmodelle wie das von Fred Korthagen herangezogen, die Reflexion als eine Art Kreislauf verstehen: von einer Handlung über deren retrospektive Erklärung durch Rückgriff auf Wissensbestände bis hin zur Entwicklung von alternativen Handlungsmöglichkeiten, welche dann in weitere Handlungen münden.

„Für eine umfassende Reflexion ist eine gezielte Anleitung notwendig.“

Dr. Ulrike Hartmann

Studien zur Reflexion in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften zeigen, dass für eine solche umfassende Reflexion eine gezielte Anleitung notwendig ist. Oftmals beschränken sich spontane Reflexionen auf eine oberflächliche Beschreibung von pädagogischen Situationen und dem Rückgriff auf bereits bekannte Handlungsmöglichkeiten. Anspruchsvollere Prozesse, wie etwa eine Situation umfassend erklären zu können, bedürfen stärkerer Anleitung, zum Beispiel durch gezielte Frageimpulse, sogenannte Prompts. Lehrkräfte können dadurch ihr eigenes Fachwissen gezielt für die Reflexion von Unterricht nutzen, sowohl mit Blick auf ihr eigenes pädagogisch-psychologische Grundlagenwissen, als auch für das jeweilige Schulfach und dessen Didaktik. Auf diesem Weg setzen sie ihr Fachwissen mit ihren praktischen Erfahrungen und den Rahmenbedingungen der Unterrichtssituation in Beziehung und können ihre Handlungsmöglichkeiten substanziell erweitern.

Welche Rolle spielen wissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse für die Reflexion des eigenen Unterrichts?

Für eine professionelle Reflexion des eigenen Unterrichts können Lehrkräfte auf vielfältige Wissensbestände zurückgreifen. Theoretisches Wissen, etwa über Motivation im Unterricht, über Schulleistung oder ganz allgemein über Lehren und Lernen, dient dabei als Grundlage für eine Auseinandersetzung mit konkreten Situationen im Unterricht. Wie Forschung zeigt, ist eine solide Wissensbasis die Voraussetzung dafür, wichtige Situationen im Unterricht wahrnehmen, beschreiben und erklären zu können

Neben einem solchen Theoriewissen können auch Forschungsergebnisse für eine Reflexion und Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts herangezogen und genutzt werden. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Lehrkräfte darüber reflektieren, welche Methode sie zur Erklärung eines komplexen Sachverhaltes bei einer Schüler:innengruppe mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen anwenden können. Auch bei der Auswahl gezielter Programme zur Förderung zentraler Schüler:innenkompetenzen ist die Kenntnis von Wirksamkeitsstudien von zentraler Bedeutung.

„Große Studien wie etwa PISA sagen kaum etwas darüber aus, mit welchen Methoden und Konzepten Unterricht verändert und weiterentwickelt werden kann.“

Dr. Ulrike Hartmann

Angesichts der großen Menge und Vielfalt von Studien der Bildungsforschung ist es wichtig zu verdeutlichen, dass sich nicht alle Arten von Forschungsbefunden gleichermaßen für eine Reflexion des eigenen Unterrichts eignen. Große Survey-Studien (wie etwa PISA), die in den Medien vielfach zitiert werden, liefern in der Regel Befunde, die zur Steuerung von Bildungssystemen herangezogen werden können, beispielsweise durch die Bildungspolitik. Sie sagen kaum etwas darüber aus, mit welchen Methoden und Konzepten Unterricht verändert und weiterentwickelt werden kann. Ein solches Wissen über Veränderungen kann am ehesten über experimentelle Studien oder zusammengefasste Meta-Analysen generiert werden, in denen Unterrichtsmethoden oder Interventionsprogramme hinsichtlich ihrer Wirksamkeit für den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern geprüft werden.

Wo findet man als Lehrkraft aufbereitetes Wissen aus der Forschung, das sich für eine Reflexion des eigenen Unterrichts nutzen lässt?

Damit Reflexion zur Erweiterung des bestehenden Wissens und der eigenen Handlungsmöglichkeiten beitragen kann, ist der Zugang zu wissenschaftlichen Informationsquellen notwendig. Systematisch aufbereitetes Wissen über Theorien zum Lehren und Lernen ist in einschlägigen Lehrbüchern und wissenschaftlich fundierter Ratgeberliteratur abrufbar. Den Überblick über aktuelle Forschungsbefunde zur Wirksamkeit verschiedener Unterrichtsmethoden und Interventionsprogramme gewinnt man am einfachsten mit Hilfe von Clearinghouse-Plattformen. Für Deutschland fasst beispielsweise das Clearinghouse Unterricht der Technischen Universität München (Links zu diesen und weitere Quellen finden Sie unter diesem Artikel, Anm. d. Red.) Studien zum effektiven MINT-Unterricht zusammen. Die Plattform TÜDI Base der Universität Tübingen sammelt die Forschungsergebnisse zum erfolgreichen Unterricht mit digitalen Medien. Darüber hinaus existieren in den USA (What Works Clearinghouse des Institute of Education Sciences) sowie in England (Teaching and Learning Toolkit der Education Endowment Foundation) große Einrichtungen zur Erstellung von Forschungssynthesen für die Schulpraxis mit Einschätzungen zu Wirksamkeit, Kosten und Implementationsbedingungen für eine Vielzahl unterrichtlicher Maßnahmen und Programme.

Wie kann eine evidenzorientierte Reflexion des eigenen Unterrichts gelingen?

Der Lehrberuf ist geprägt von hohen Anforderungen in einem komplexen und dynamischen Unterrichtsgeschehen. Zudem ist der Zeitdruck oftmals hoch – direkt folgt die nächste Unterrichtsstunde, das nächste Gespräch, die Vorbereitung des folgenden Tages. Es bleibt somit wenig Zeit für eine umfassende Reflexion einzelner Situationen. Wenn Reflexion allerdings als Teil eines professionellen Selbstverständnisses im Sinne des Reflective Practitioner etabliert werden soll, müssen Räume geschaffen werden, in denen Lehrkräfte sich intensiver mit unterrichtlichen Situationen auseinandersetzen können.  Eine festgelegte Zeit in der Woche kann zur Reflexion einer konkreten Situation genutzt werden, für die während des Handelns nicht ad hoc eine gute Lösung gefunden werden konnte. Oftmals sind dies Situationen, in denen der Dilemma-Charakter des Unterrichtens besonders deutlich zutage tritt, beispielsweise wenn verschiedene pädagogische Ziele gegeneinander abgewogen werden müssen. Solche Situationen können zum Anlass genommen werden, eigene Routinen zu reflektieren und darüber zu einer Erweiterung von professionellen Handlungsmöglichkeiten zu gelangen. 

Einige Leitfragen können dabei helfen, eine evidenzorientierte Reflexion anzubahnen:

  • Was ist genau passiert? Was ist mir aufgefallen? Was genau beschäftigt mich an der Situation?
  • Was habe ich gesagt/getan/gedacht? Wie haben sich die Schüler:innen verhalten?
  • Welche pädagogischen Ziele sind wichtig in der Situation?
  • Wie kann ich erklären, was in dieser Situation passiert ist? Welche lehr- und lernbezogenen Wissensbestände kann ich dafür heranziehen? (Theorien, Forschungsergebnisse, Kolleg:inneneinschätzungen, eigene Erfahrungen)
  • An welchen Stellen lässt sich mein Wissen gut auf die konkrete Situation beziehen? An welchen Stellen fällt die Umsetzung in meinem eigenen Unterricht schwer? Warum?
  • Wo könnte ich in meinem Unterricht ansetzen, um ähnliche Situationen besser bewältigen zu können?

Eine solche Reflexion konkreter Unterrichtssituationen kann entweder individuell oder gemeinsam mit Kolleg:innen durchgeführt werden. Für den Aufbau sogenannter professioneller Lerngemeinschaften im Kollegium empfiehlt es sich, einen übergeordneten inhaltlichen Rahmen abzustecken wie beispielsweise ein aktuelles Thema der Unterrichtsentwicklung (sprachsensibler Unterricht, Inklusion, Digitalisierung). Kolleginnen und Kollegen können die Situationen, zu denen sie reflektieren möchten, verschriftlichen und den anderen Kolleg:innen einige Tage vor dem Treffen zur Vorbereitung zur Verfügung stellen. So können alle Teilnehmenden zunächst individuell ihr vorhandenes Wissen (Theorien, Befunde, Erfahrungen) sammeln und aktualisieren. Im Team können dann verschiedene Erklärungsansätze diskutiert und gemeinsam Handlungsalternativen entwickelt werden.