Professor John Hattie im Interview:
„So viel Potenzial geht verloren”
Im Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement spricht der weltweit renommierte Bildungsforscher über das, was Lehrkräfte bewirken können und äußert sich kritisch zum deutschen Bildungssystem.
English version below!
Im exklusiven Interview mit dem Online-Magazin schulmanagement erklärt Professor John Hattie, Bildungsforscher und Speaker beim 1. Schulleitungssymposium Baden-Württemberg in Heilbronn, auf was es wirklich ankommt bei erfolgreichem Unterricht – und warum das deutsche Schulsystem so viel Potenzial vergeudet.
Redaktion: Herr Professor Hattie, in “Visible Learning: The Sequel” betonen Sie, dass die Qualität der Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen einen größeren Einfluss auf die Lernergebnisse hat als spezifische Lehrmethoden. Wie können Lehrkräfte, insbesondere angesichts von Lehrkräftemangel und der daraus resultierenden Überlastung, sicherstellen, dass sie qualitativ hochwertige Interaktionen aufrechterhalten, um das individuelle Lernen von Schüler:innen zu unterstützen?
Prof. Dr. John Hattie: Die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler:innen sowie zwischen den Schüler:innen untereinander sind von entscheidender Bedeutung, da sie ein Umfeld fördern, in dem Fehler und Unwissenheit willkommen sind. Ausschlaggebend ist es, qualitativ hochwertige Interaktionen zu pflegen, die die Botschaft vermitteln: Lernen ist nicht immer einfach. Es geht darum, Selbstvertrauen zu vermitteln, um Herausforderungen überwinden und das Unbekannte erforschen zu können. Dieser Ansatz ermutigt die Schülerinnen und Schüler, laut zu denken, Fragen über ihr Lernen zu stellen und motiviert zu bleiben, um die Erfolgskriterien der Unterrichtsstunde zu erfüllen. Der Schlüssel zur Vermeidung von Überlastung besteht darin, kontinuierlich zu beobachten, wie der Unterricht sich auswirkt. Indem man bewertet, welche Lehrkräfteinputs, welches Feedback und welche Interaktionen tatsächlich einen Unterschied machen – und diejenigen reduziert, die das nicht tun – konzentriert man sich auf die Wirkung und nicht auf die Quantität.
Livestream: John Hattie eröffnet das 1. Schulleitungssymposium Baden-Württemberg
Der australische Bildungsforscher eröffnet am 11. November 2024, um 10:30 Uhr, mit seiner Keynote „School management and leadership – the current status of the Visible Learning research" das 1. Schulleitungssymposium Baden-Württemberg auf dem Heilbronner Bildungscampus.
Die Keynote live im Stream ansehen
Redaktion: Sie haben häufig betont, dass die Einstellung einer Lehrkraft – also, wie sie über Lehren und Lernen denkt – wichtiger ist als spezifische Lehrstrategien. Welche Schritte können Schulen und die Lehrkräftebildung unternehmen, um Lehrkräften zu helfen, diese wirkungsvollen Denkrahmen zu entwickeln?
Hattie: Es geht weniger darum, was Lehrkräfte tun, sondern vielmehr darum, wie sie über die Auswirkungen ihres Handelns denken. Wir haben mehrere wirkungsvolle Ansätze für den Unterricht identifiziert, darunter auch die Haltung: „Ich glaube, dass meine Rolle in dieser Klasse darin besteht, meine Wirkung zu bewerten.” Bei dieser Denkweise werden drei wichtige Fragen zum Einfluss der Lehrkräfte gestellt: Was habe ich gut unterrichtet, und was nicht? Wen habe ich gut unterrichtet und wen nicht? Und wie sehr hat sich das Lernen der Schüler:innen verbessert? Im Wesentlichen geht es also um das Was, das Wer und das Wieviel. Durch berufliche Weiterbildungen können wir diese Denkweisen umreißen, bestimmte Überzeugungen und Glaubenssätze neu formulieren und ihre Auswirkungen auf das Lernen der Schüler:innen aufzeigen. Zum Beispiel schaffen Lehrer:innen, die hohe Erwartungen haben, eine deutlich andere Unterrichtsatmosphäre und Lernergebnisse als diejenigen mit niedrigen Erwartungen. Es sind die Erwartungen, die diese Unterschiede bewirken.
„Wir brauchen Systeme, die auf Chancengleichheit ausgerichtet sind, in denen die Schülerinnen und Schüler Unterschiede akzeptieren und aus verschiedenen Perspektiven lernen können, und in denen Spätzünderinnen und -zünder nicht zurückgelassen werden.“
Prof. Dr. John Hattie
Redaktion: In Deutschland wird viel über soziale Ungleichheit im Bildungssystem diskutiert, insbesondere hinsichtlich der frühen Selektion in unterschiedliche Schulzweige. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kinder aus privilegierten Verhältnissen eine signifikant höhere Chance haben, höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen. Wie bewerten Sie mit Ihrer langjährigen Expertise in der Bildungsforschung die Situation?
Hattie: Es gibt kaum Belege dafür, dass die Aufteilung von Schüler:innen in verschiedene Leistungsgruppen etwas anderes ist als ungerecht und von begrenztem Nutzen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der deutschen Bundesbildungsministerin, in dem ich über das deutsche Auswahlsystem befragt wurde. Ich sagte, ich sei beeindruckt, wie sie die Zukunft eines 30 Jahre alten Menschen vorhersagen könne, wenn er oder sie gerade einmal 11 Jahre ist. Dieses System führt dazu, dass so viel Potenzial verloren geht, weil es den Schüler:innen den Zugang zu einem reichhaltigen, anspruchsvollen Lehrplan verwehrt, sie daran hindert, mit Gleichaltrigen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zu lernen – ein Skill, den sie ihr ganzes Erwachsenenleben lang brauchen werden! Und es erstickt die Fähigkeit, sich an Variabilität anzupassen, im Keim. Stattdessen brauchen wir Systeme, die auf Chancengleichheit ausgerichtet sind, in denen die Schüler:innen Unterschiede akzeptieren und aus verschiedenen Perspektiven lernen können, und in denen Spätzünder:innen nicht zurückgelassen werden. Da sich die Adoleszenz bis zum Alter von 27 Jahren hinzieht, werden viele Menschen mehrere Karrierewege und Chancen haben, mit anderen zusammenzuarbeiten. Aber diese Möglichkeiten sind begrenzt, wenn ihre Zukunft im Alter von 11 Jahren vorbestimmt ist.
Redaktion: In Ihrer Studie betonen Sie, wie wichtig es ist, ein Lernumfeld zu fördern, in dem Fehler als Chance für Wachstum gesehen werden. Wie können Schulen diese gesunde Fehlerkultur fördern?
Hattie: Zunächst ist es entscheidend, ein Umfeld mit hohem Vertrauen und Sicherheit zu schaffen, in dem Schülerinnen und Schüler sich ermutigt fühlen, zuzugeben, was sie nicht wissen, einschließlich ihrer Missverständnisse und Fehler. Schulen sollten Orte sein, an denen es in Ordnung ist, etwas nicht zu wissen, und an denen man sich traut, Herausforderungen anzugehen. Wie bereits eingangs erwähnt: Sowohl die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern als auch zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander sind von entscheidender Bedeutung, denn sie fördern ein Klima, in dem Nichtwissen willkommen ist. Lehrkräfte können dies vorleben, indem sie selbst offen Fehler zugeben und korrigieren. Wir können Schülerinnen und Schüler einladen, Fehler bereits vor dem Unterricht zu identifizieren. Wir können sie dazu auffordern, sich selbst einzuschätzen, um zu sehen, was sie bereits wissen und was nicht. Wir können Beispiele mit absichtlichen Fehlern präsentieren und die Schülerinnen und Schüler bitten, diese ausfindig zu machen und zu verstehen, oder Fehler gezielt durch zusätzliche Herausforderungen in Lernaufgaben provozieren. Dieser Fokus auf Fehler verbessert nicht nur die Problemlösungsfähigkeiten, sondern auch die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, Wissen zu transferieren.
„Wirksames Feedback ist solches, das gehört, verstanden und umgesetzt wird.“
Prof. Dr. John Hattie
Redaktion: Ein wichtiger Aspekt Ihrer Arbeit ist die Rolle des Feedbacks im Unterricht. Wie würden Sie gutes Feedback definieren, und wie kann es effektiver gestaltet werden, um das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu maximieren?
Hattie: Wirksames Feedback ist solches, das gehört, verstanden und umgesetzt wird. Allzu oft konzentrieren wir uns auf das Feedback der Lehrkraft – Quantität, Qualität, Zeitpunkt –, während der eigentliche Schwerpunkt auf dem Feedback liegen sollte, das die Schülerinnen und Schüler erhalten. Schülerinnen und Schüler streben nach Feedback, durch das sie besser werden, daher müssen wir der Anleitung zum nächsten Schritt Vorrang einräumen. Es ist wichtig, darauf zu achten, wie die Schülerinnen und Schüler dieses Feedback aufnehmen, interpretieren und nutzen. Feedback ist auch dann am effektivsten, wenn es Fehler anspricht – weshalb eine vertrauensvolle, sichere Unterrichtsumgebung von essenzieller Bedeutung ist. Schülerinnen und Schüler müssen sich wohl fühlen, so dass sie ihre Missverständnisse, Fehler und Unsicherheiten zugeben können. Nur so kann Feedback tatsächlich seine Wirkung entfalten.
Redaktion: Herr Professor Hattie, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
John Hattie ist Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne. Der gebürtige Neuseeländer befasst sich vor allem mit Einflussfaktoren auf Lernerfolg und gilt als Verfechter evidenzbasierter Forschungsmethoden. Weltweit bekannt wurde John Hattie durch seine umfassende Metaanalyse vorliegender Forschungsarbeiten, aus denen er ableitete, welche Faktoren für den Lernerfolg in der Schule maßgeblich sind. Durch sein 2009 erstmals erschienenes Buch „Visible Learning“ fanden seine Thesen international Beachtung und Anerkennung.
Original Interview
Editor: In your Book “Visible Learning: The Sequel“, you emphasize that the quality of teacher-student interaction has a greater impact on learning outcomes than specific teaching methods. In the context of teacher shortages and the resulting overburdening of educators, how can teachers ensure they maintain high-quality interactions to support individual student learning?
Prof. Dr. John Hattie: Teacher-student and student-student relationships are essential because they foster an environment where making mistakes and not knowing are welcomed. Maintaining high-quality interactions and reinforcing the message that learning involves struggle, building confidence to take on challenges, and exploring the unknown are all critical. This approach encourages students to think aloud, ask questions about their learning, and stay motivated to meet the lesson’s success criteria. The key to avoiding overload is to continually listen to the impact of your teaching. By assessing which teacher inputs, feedback, and interactions are making a difference—and reducing those that are not—you focus on impact, not quantity.
Editor: You have frequently emphasized that a teacher’s mindset—the way they think about teaching and learning—is more crucial than specific teaching strategies. What key steps can schools and teacher training programs take to help educators develop these impactful mind frames, and how can they ensure these are sustained in practice?
Hattie: It’s less about what teachers do and more about how they think about the impact of their actions. We have identified several powerful approaches to teaching, including the mind frame: "I believe my role in this class is to evaluate my impact." This mindset involves asking three key impact questions: What have I taught well, and what not? Who have I taught well, and who not? And how much has student learning improved? In essence, the focus is on what, who, and how much. Through professional learning, we outline these ways of thinking, encourage the reframing of certain beliefs, and demonstrate their impact on student learning. For instance, teachers who hold high expectations create classroom climates and outcomes that are significantly different from those with low expectations. It’s the expectations that drive these differences.
Editor: In Germany, there is considerable discussion about social inequality in the education system, particularly regarding early selection into different school tracks. Several studies have shown that children from more privileged backgrounds have a significantly higher chance of achieving advanced educational qualifications. From the perspective of your research, what would help create equal educational opportunities for all children?
Hattie: There is little evidence that tracking students into different streams is anything but inequitable and of limited value. I recall a conversation with the German Federal Minister of Education, where I was asked about the German selection system. I commented that I was impressed by how she could predict a 30-plus-year-old’s future when they were only 11. This system results in substantial lost potential by denying students access to a rich, challenging curriculum, preventing them from learning alongside peers of varying abilities (a skill they will need throughout their adult lives), and stifling their ability to adapt to variability. Instead, we need systems focused on equity, where students can accept differences, capitalize on learning from diverse perspectives, and where late bloomers are not left behind. With adolescence extending closer to age 27, individuals will experience multiple career paths and opportunities to engage with others, but these opportunities are limited if their future is predetermined at age 11.
Editor: In your research, you emphasize the importance of fostering a learning environment where mistakes are seen as opportunities for growth. How can schools promote this healthy error culture, especially in systems that tend to emphasize performance and grades over the learning process?
Hattie: First, it is critical to create a high-trust, safe environment where students feel encouraged to acknowledge what they don’t know, including their misconceptions and errors. Schools should be places where it’s okay not to know and where there is confidence in tackling challenges. Both teacher-student and student-student relationships are vital because these connections foster a climate in which not knowing is welcomed. Teachers can model this by openly committing and correcting their own errors. They can invite students to identify errors before instruction, assess what students already know and don’t know, present examples with deliberate errors and ask students to detect and understand them, or induce errors by adding challenges to learning tasks. This focus on error not only enhances problem-solving but also improves students' ability to transfer knowledge.
Editor: One key aspect of your work is the role of feedback in the classroom. How would you define good feedback, and how can it be made more effective in maximizing student learning?
Hattie: Effective feedback is feedback that is heard, understood, and actionable. Too often, we focus on teacher feedback—its quantity, quality, timing, etc.—and while these aspects are important, the real focus should be on the feedback received by the student. Students seek improvement-focused feedback, so we must prioritize “where to next” guidance. It's essential to listen to how students receive, interpret, and use this feedback. Feedback is also most effective when it addresses errors, which is why creating a high-trust, safe classroom environment is crucial. Students need to feel comfortable acknowledging their misunderstandings, mistakes, and areas of uncertainty, allowing feedback to truly have an impact.
Editor: Professor Hattie, thank you for the conversation.