„Diagnose und Förderung sind ganz normale Aufgaben von Lehrkräften“

Nach den ernüchternden Befunden des IQB-Bildungstrends, spricht Prof. Dr. Timo Leuders im Interview darüber, wie die mathematischen Basiskompetenzen von Schüler:innen gefördert werden können.

Rund 22 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler verfehlen im aktuellen IQB-Bildungstrend die Mindeststandards im Fach Mathematik. Um diesen Trend umzukehren, empfiehlt Prof. Dr. Timo Leuders sich stärker auf die Vermittlung mathematischer Basiskompetenzen zu konzentrieren. Im Interview erläutert der Professor der Pädagogischen Hochschule Freiburg, was Lehrkräfte und Schulleitungen jetzt tun können, um leistungsschwächere Schüler:innen zu fördern.

Redaktion: Warum sind Basiskompetenzen im Fach Mathematik so bedeutsam für den Schulerfolg der Schülerinnen und Schüler insgesamt?

Prof. Dr. Timo Leuders: Basiskompetenzen sind die notwendige Bedingung, damit Schülerinnen und Schüler weiterlernen können. Basiskompetenzen werden nicht am Ende bilanziert, sondern spielen im Lernprozess selbst eine Rolle. 
Ohne Operationsverständnis kann man in Mathematik zum Beispiel keine negativen Zahlen oder Brüche verstehen. Diese Wissensaspekte führen – wenn sie nicht abgesichert werden – zu Misserfolgen beim weiteren Lernen. In Mathematik passiert es häufig, dass Schülerinnen und Schüler, denen dieses Grundverständnis fehlt, mathematische Verfahren auswendig lernen. Das ist nicht nachhaltig. So viele Verfahren, wie es in Mathematik gibt, kann man gar nicht lernen. Basiskompetenzen sind also so etwas wie die Gelenkstellen beim Weiterlernen.

Redaktion: Im IQB-Bildungstrend werden in Mathematik Aufgaben zu den inhaltsbezogenen Kompetenzbereichen Zahlen und Operationen, Raum und Form, Muster und Strukturen, Größen und Messen sowie Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit abgefragt, die als Globalskala mathematischer Kompetenz zusammenfasst werden. Werden die mathematischen Basiskompetenzen der Schülerinnen und Schüler damit hinreichend erfasst? Und welche Konsequenzen lassen sich daraus für die Förderung ableiten?

Leuders: Die Globalskala ist eine Art Fieberthermometer. Die Reihe von Aufgaben, die darunter zusammengefasst werden, sind lediglich ein Gradmesser dafür, ob Schülerinnen und Schülern die Basiskompetenzen fehlen, wenn sie einfachste Aufgaben nicht bearbeiten können. Denn die Basiskompetenzen sind zwar in den Aufgaben enthalten, aber einzeln systematisch diagnostizieren lassen sie sich nicht. Wir können aus dem Befund nicht ablesen, woran es genau bei den Schülerinnen und Schülern hakt. Um die Aufgaben zu lösen, brauchen Schülerinnen und Schüler neben dem Zahlverständnis nämlich auch ganz grundlegende Problemlösefähigkeiten und eine entsprechende Lesekompetenz. Das wird im Bildungstrend zusammen abgebildet. Doch dort wird nur der Bildungsstand der Schülerinnen und Schüler in einer Altersgruppe erfasst und nicht die Stärken und Schwächen der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers.

„Basiskompetenten sind also so etwas wie die Gelenkstellen beim Weiterlernen“

Prof. Dr. Timo Leuders

Redaktion: Sie haben bereits die Lesekompetenz erwähnt, die der IQB-Bildungstrend für das Fach Deutsch auswertet. Inwieweit hängen die Basiskompetenzen beider Fächer miteinander zusammen?

Leuders: Sprache ist auch für das Mathematikverstehen unerlässlich. Entscheidend sind dabei die bedeutungsbezogenen sprachlichen Elemente, wie sie etwa meine Kollegin Susanne Prediger und mittlerweile viele andere erforschen. Die Frage ist also, welche Sprache braucht man, um mathematische Konzepte zu verstehen? Und hier zeigt sich, dass es eben nicht schwierige Vokabeln sind, sondern Worte wie "Anteil" oder "um so viel größer", die für Kinder mit bildungssprachlichem Hintergrund viel vertrauter sind. Das sind sprachliche Elemente, die alle Schülerinnen und Schüler brauchen, wenn sie Brüche oder Prozente verstehen wollen.

Redaktion: Welche empirisch belegbaren Fördermaßnahmen gibt es, um die mathematischen Basiskompetenzen zu fördern? 

Leuders: Nennen kann ich hier zum Beispiel das Projekt "Mathe sicher können", mit dem leistungsschwache Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I und der Primarstufe gefördert werden. Hier können Lehrkräfte eine Ursachendiagnose betreiben, sprich herausfinden, warum den Schülerinnen und Schüler eine bestimmte Operationsvorstellung fehlt und im Anschluss entsprechend in Kleingruppen intervenieren. Das bedeutet allerdings auch, dass es ein aufwendigeres Format ist. Lehrkräfte können die Materialien nicht einfach der gesamten Klasse vorlegen und alle Schülerinnen und Schüler damit arbeiten lassen, sondern müssen die Fördermaßnahme gezielt mit kleinen Gruppen angehen. Gleichzeitig ist das natürlich nur ein Nacharbeiten. Entscheidend aber ist, schon im Unterricht frühzeitig zu bemerken, dass den Schülerinnen und Schülern ein Verständnis fehlt, um Schwierigkeiten zu vermeiden. 

„Mathe sicher können“

Das Projekt „Mathe sicher können" bietet leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern sowie deren Lehrkräften forschungsbasierte und praxisorientiere Diagnose- und Fördermaterialien. Lehrkräfte können mithilfe dieser Materialien diagnostizieren, welche Verstehenslücken bei ihren Schülerinnen und Schüler bestehen und sie anschließend in Kleingruppen entsprechend fördern. Die Materialien zur „Sicherung mathematischer Basiskompetenzen“ werden von Mathematikdidaktikerinnen und -didaktikern am Institut für Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts in Dortmund entwickelt und evaluiert. Das Fördermaterial wird für nicht-gymnasialen Schulformen der Sekundarstufe I sowie für die Primarstufe angeboten.

Redaktion: Mit Blick auf den akuten Lehrkräftemangel: Lässt sich der Anspruch die gezielte Förderung leistungsschwächerer Schüler nachhaltig zu verbessern derzeit überhaupt einlösen?

Leuders: Diagnose und Förderung von Schülerlernen sind erst einmal eine ganz normale Aufgabe von Lehrkräften und eigentlich keine besondere Aufgabe. Aber es ist natürlich dennoch eine Herausforderung. 
Gerade, wenn man frisch in den Beruf einsteigt und gleichzeitig das Classroom-Management und das Erziehen und Bilden in seinen verschiedenen Fächern im Blick haben muss. Für Berufseinsteiger ist die Diagnose und Förderung gewiss eine Aufgabe die aufwendiger oder zumindest schwieriger ist – aber sie ist lösbar. Da stellt sich sicher auch die Frage, wie viel Zeit man hat. Wenn man eine unerfahrene Lehrkraft gleich mit vollem Deputat in den Unterricht schickt, kann man auch keine vernünftigen Lernprozesse erwarten. Aber man könnte sagen, dass die Umsetzung eines solchen forschungsbasierten Förderprogramms bei gleichzeitiger Unterstützung von erfahrenen Lehrkräften auch eine Art der Qualifizierung dieser Lehrkraft für den Beruf darstellt. Das sind dann Qualifizierungsformate, wo Politik und Forschung miteinander ringen müssen, weil teilweise unterschiedliche Interessen miteinander konkurrieren. Die Bildungspolitik will möglichst schnell möglichst viele Lehrkräfte einstellen. Die Wissenschaft sagt, es müssen aber qualifizierte Lehrkräfte sein. Doch die können wir nicht „backen“. Gefragt sind deshalb Kompromisse: Formate zum Beispiel, in denen angehende Lehrkräfte den Schulen schon zur Verfügung stehen und trotzdem noch weiterlernen. Und zwar anspruchsvoll und systematisch weiterlernen.

„Als Lehrkraft muss man ständig entscheiden, wo es sich lohnt, nochmals nachzufassen und wo nicht. Das sind Entscheidungen, die nicht ich als Wissenschaftler für die Lehrkraft treffen kann.“

Prof. Dr. Timo Leuders

Redaktion: In Hamburg wird der Unterricht in Mathematik und Deutsch durch mehr Unterrichtszeit gefördert – Wie viel Zeit brauchen gute mathematische Fördermaßnahmen?

Leuders: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Die Zeit für die Förderung hängt vom Umfang der Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler ab und der Intensität, mit der Lehrkräfte diese angehen. Als Lehrkraft muss man ständig entscheiden, wo es sich lohnt, nochmals nachzufassen und wo nicht. Das sind Entscheidungen, die nicht ich als Wissenschaftler für die Lehrkraft treffen kann. Ich kenne die Schülerschaft, die Ressourcen und die Personalpolitik an der Schule nicht. Diese Aufgabe müssen von Schulleitung und Fachberatung übernommen werden. Hier gilt es zu prüfen, welche Elemente eines Förderkonzepts an der eigenen Schule unter welchen Bedingungen umsetzbar sind. 

Redaktion: Welche Verantwortung haben Schulleitungen bei der Sicherung von Basiskompetenzen. Was können sie leisten, damit dies gelingt?

Leuders: Schulleitungen sind in der Pflicht, den Prozess der weiteren Qualifizierung des eigenen Kollegiums zu strukturieren. Schulleitungen können nicht das ganze Kollegium auf eine Fortbildung schicken, aber sie können einzelne Personen weiterbilden und die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass diese ihre Erkenntnisse weitergeben. 

„Die Personalentwicklung ist ein hoher Anspruch an Schulleitungen. Und ich glaube noch nicht, dass alle Schulleiter in ihrer Qualifizierung darauf vorbereitet werden.“

Prof. Dr. Timo Leuders

Aktuell ist es an vielen Schulen so, dass alle Lehrkräfte in der gleichen Rolle arbeiten, was jedoch nicht unbedingt zielführend ist. Ich erlebe auch oft, dass Lehrkräfte mit Stunden ausgestattet werden für Dinge, die völlig verpuffen und nicht bei den Schülerinnen und Schülern ankommen. Gerade bei Entscheidungen auf Schul- oder Jahrgangsebene, wäre es deshalb gut, wenn eine Lehrkraft eine Vorreiterrolle einnimmt und den jeweiligen Prozess gestaltet. Die Schulleitung sollte diese Person auswählen und mit den notwendigen Ressourcen und Weiterbildungen ausstatten. Diese Art der Personalentwicklung ist ein hoher Anspruch an Schulleitungen. Und ich glaube noch nicht, dass alle Schulleitungen in ihrer Qualifizierung darauf bereits hinreichend vorbereitet werden.

Redaktion: Herr Professor Leuders, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Timo Leuders ist Professor am Institut für Mathematische Bildung und Prorektor für Forschung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.