Diagnostik, Unterricht, Lehrkräftebildung – Drei Hebel für bessere Sprachbildung

Prof. Michael Krelle von der TU Chemnitz erläutert im Interview, wie die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) Schulen dabei unterstützen, Sprachförderung nachhaltig zu verankern und Lehrkräfte gezielt zu qualifizieren.

„Sprache ist der Schlüssel zur Bildung und zur gesellschaftlichen Teilhabe" – doch wie gut ist das deutsche Bildungssystem darauf vorbereitet, Kinder und Jugendliche sprachlich zu fördern? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) hat in ihrer aktuellen Stellungnahme zentrale Empfehlungen formuliert, um die sprachliche Bildung in Schulen nachhaltiger zu gestalten. Prof. Dr. Michael Krelle, Professor für Fachdidaktik Deutsch am Zentrum für Lehrerbildung der Technischen Universität Chemnitz und Mitglied der SWK, spricht im Interview über die Bedeutung der Sprachförderung. Er erläutert, wie Sprache und Fachunterricht erfolgreich verbunden werden können, warum Mehrsprachigkeit eine wertvolle Ressource ist und welche Maßnahmen eine nachhaltige Sprachbildung sichern können.

Redaktion: Herr Prof. Krelle, in der Stellungnahme der SWK wird betont, dass sprachliche Bildung der Schlüssel zu Chancengleichheit und Bildungserfolg ist. Welche Defizite sehen Sie aktuell im deutschen Bildungssystem, wenn es darum geht, Kindern und Jugendlichen sprachliche Kompetenzen zu vermitteln, und wo setzen die Empfehlungen der SWK an?

Prof. Dr. Michael Krelle: Wir sehen in zahlreichen, auch kleineren Studien, dass sprachliche Bildung eine zentrale Ressource für das Lernen und für die kulturelle Teilhabe ist, dass aber Maßnahmen für eine gezielte. das heißt systematische sprachliche Bildung, noch nicht überall eingeleitet sind. Auf Ebene des Bildungssystems wäre es deshalb dringend geboten, verbindliche Diagnostik zu etablieren, um mehr Informationen über die bildungssprachlichen Kompetenzen neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher zu erhalten. Das beinhaltet eine Lernausgangslagendiagnostik, aber auch den Entwicklungsverlauf. Dabei kommt es darauf an zu wissen, welche Deutschkenntnisse die Kinder und Jugendlichen schon haben, ob sie literal vorgeprägt sind – zum Beispiel in einer anderen lateinischen Sprache – und welche weiteren Kenntnisse sie in den Kernfächern mitbringen.  

Auf dieser Grundlage können dann Maßnahmen ergriffen werden, für die ein Rahmencurriculum und darauf aufbauend evidenzbasierte Materialien notwendig sind. Und dazu braucht es eben auch Menschen, die das alles umsetzen: qualifizierte Lehrkräfte, die das alles für ihre Schule und Schulverbünde planen, Kolleginnen und Kollegen, die unter diesen Bedingungen unterrichten. Dabei ist auch an die Zusammensetzung in den Regelklassen zu denken, damit hinreichend Gelegenheit zu Kontakten mit deutschsprachigen Peers besteht. 

Schließlich erfordert die Umsetzung Zeit und Qualifizierung, unter anderem durch evidenzbasierte Fortbildungsangebote, aber auch durch Angebote für angehende Lehrkräfte in der ersten Phase der Ausbildung an Universitäten. Zusammengefasst kann man sagen: Wir haben auf allen Ebenen des Bildungssystems einen klaren Auftrag, die sprachliche Bildung für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche systematisch in den Blick zu nehmen, und da setzt das Gutachten mit konkreten Vorschlägen an.

Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK)

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) ist ein unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz. Ihr gehören 16 Bildungsforscher:innen aus unterschiedlichen Disziplinen an. Die SWK berät die Länder bei der Weiterentwicklung des Bildungswesens, identifiziert Probleme und gibt evidenzbasierte Empfehlungen. Sie betrachtet Bildungsfragen aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln, analysiert deren langfristige Auswirkungen und entwickelt ganzheitliche Lösungsansätze. Expert:innen aus Politik, Verwaltung, Bildungspraxis und Zivilgesellschaft werden in ihre Arbeit einbezogen. Ihre Tätigkeit basiert auf einem mit der Kultusministerkonferenz abgestimmten Arbeitsprogramm.

Redaktion: Ein zentraler Punkt der Stellungnahme ist die Verankerung sprachsensiblen Unterrichts in allen Fächern. Was bedeutet das konkret für Lehrkräfte und die Unterrichtspraxis, und welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit dieser Ansatz in der Breite umgesetzt werden kann?

Krelle: Sprachsensibler Unterricht bedeutet, Sprache bewusst im Regelunterricht einzusetzen, um fachliches und sprachliches Lernen miteinander zu verknüpfen. In der Unterrichtspraxis heißt das für Lehrkräfte einerseits, auf den Lernstand zugeschnittene Unterstützungstechniken anzuwenden, zum Beispiel durch passgenaue sprachliche Bausteine, Formulierungshilfen, sprachliche Routinen oder ähnliches. So können sich auch sprachlich weniger leistungsfähige Kinder und Jugendliche Fachinhalte leichter erschließen. Zudem müssen Lernende ihre sprachliche Bildung ausbauen, unter anderem durch einen gezielten Wortschatzaufbau, bei Jugendlichen auch anhand von berufs- und ausbildungsrelevanten Themen und in Verbindung mit berufspraktischen Erfahrungen. Solche Ansätze können gut mit zusätzlicher additiver Sprachförderung verknüpft werden. 

Eine Voraussetzung für solche Konzepte sind gut ausgebildete Lehrkräfte, die es zum Teil heute schon gibt. Wenn aber Lehrkräfte hier noch nicht über das notwendige fachliche und fachdidaktische Wissen verfügen, müssen sie auch die Gelegenheit haben zur Fort- und Weiterbildung. Dafür sind passgenaue und evidenzbasierte Angebote erforderlich, die Lehrkräfte nutzen können. Und zukünftige Lehrkräfte müssen bereits in der ersten und zweiten Phase entsprechend ausgebildet sein. Hier sind konkrete Maßnahmen im SWK-Gutachten vorgeschlagen.

Empfehlungen der SWK für die sprachliche Bildung in der Zielsprache Deutsch

Verfahren der Diagnostik etablieren, die für Entscheidungen über Maßnahmen der sprachlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen grundlegend sind:

  • Die SWK fordert eine verbindliche Lernausgangslagen- und Lernentwicklungsdiagnostik, um den Sprachförderbedarf systematisch zu erfassen. Hierfür sollen zentrale Stellen eingerichtet werden, die über geeignete Instrumente verfügen. Zudem sollen Indikatoren für geringe Deutschkenntnisse entwickelt werden, die sowohl auf Schulebene als auch im nationalen Bildungsmonitoring genutzt werden können. 

Ein Maßnahmepaket zur sprachlichen Bildung zentral entwickeln, das von den Schulen adaptiert und umgesetzt wird:

  • Die SWK schlägt ein Rahmencurriculum für Sprachklassen und additive Sprachförderung vor, das von Schulen angepasst werden kann. Maßnahmen sollen eine gezielte Alphabetisierung, die Integration in den Regelunterricht sowie die weitere additive Förderung beinhalten. Auch qualifizierte Lehrkräfte und Funktionsstellen an Schulen sind zentrale Bausteine des Pakets. 

Evidenzbasierte Angebote der Qualifizierung von Lehrkräften für sprachliche Bildung schaffen:

  • Um sprachliche Bildung nachhaltig umzusetzen, sollen Lehrkräfte besser geschult werden. Die SWK empfiehlt die Einrichtung von Professuren für Deutsch als Zweitsprache, DaZ-Module für Lehramtsstudierende und spezielle Weiterbildungsangebote für additive Sprachförderung und sprachsensiblen Fachunterricht.

Redaktion: Die SWK spricht sich für die Förderung herkunftssprachlicher Kompetenzen aus und betont die Bedeutung von Mehrsprachigkeit als Ressource. Wie kann die Förderung von Erstsprachen mit dem Erwerb der Bildungssprache Deutsch verbunden werden, und welche Ansätze sehen Sie in diesem Zusammenspiel als besonders erfolgversprechend?

Krelle: Herkunftssprachliche Kompetenzen erlauben einen Zugang zu unterschiedlichen Kulturen. Sie sind auch für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung wichtig. Wer zum Beispiel in seiner Herkunftssprache verstanden hat, dass die Schriftlichkeit an Regeln gebunden ist, kann dieses Wissen auf den Erwerb der Bildungssprache Deutsch übertragen. Mehrsprachigkeit erlaubt vernetztes Denken. Dabei spielt eine Rolle, welche Ähnlichkeit die jeweilige Herkunftssprache mit der deutschen Sprache hat, ob flektiert wird wie beispielsweise im Polnischen oder agglutiniert wird, das heißt Bausteine angehängt werden, wie es im Türkischen der Fall ist. Durch Sprachvergleiche werden Kinder dann selbst zu Experten. Ein solcher Ansatz stößt immer dann an Grenzen, wenn die Vielfalt der Sprachen im Unterricht besonders groß ist. Insofern sind hier auch Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung angesprochen. Und in vielen Fällen dürfte es auch eine Frage der Ressourcen der Schule sein.

Redaktion: Neben fachlichen Kompetenzen spielen interkulturelle Sensibilität und ein Bewusstsein für Mehrsprachigkeit eine wichtige Rolle. Wie kann die Lehrkräfteausbildung an Universitäten und in Fortbildungsprogrammen dahingehend verbessert werden, und was könnte sich kurzfristig umsetzen lassen?

Krelle: Auch hier liegen in der Mehrsprachigkeitsforschung bereits Konzepte vor, die unter anderem auf den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) bezogen sind. Hier finden sich auch Fortbildungen, die kurzfristig umgesetzt werden können. Diese gilt es aber auch weiter auszubauen. Mit Blick auf die Universitäten gilt das, was im Gutachten als Empfehlung 3 unter "Evidenzbasierte Angebote der Qualifizierung von Lehrkräften für sprachliche Bildung schaffen" ausformuliert ist: Wir brauchen weitere Professuren, mancherorts angepasste Module für Studierende und schließlich Angebote zur Spezialisierung für Unterricht in Sprachklassen und additive Sprachförderung.

Redaktion: Gerade in sozial herausfordernden Kontexten fehlen häufig die notwendigen Ressourcen für eine nachhaltige Sprachförderung. Welche Strategien empfehlen Sie, um Schulen in solchen Situationen zu unterstützen und ihnen gleichzeitig Handlungsspielräume zu geben?

Krelle: Mit dem Startchancen-Programm wurde genauso eine Strategie verfolgt: Ressourcen für Schulen in sozial herausfordernden Kontexten zur Verfügung zu stellen. An diesen Schulen werden die Ressourcen sicherlich passgenau eingesetzt. Auf der anderen Seite muss man aber sagen: Wir haben deutlich mehr Schulen in herausfordernder Lage, und die Ressourcen sind begrenzt. Insofern wünsche ich mir eine Ausweitung des Programms auf deutlich mehr Schulen.

Redaktion: Die Stellungnahme der SWK hebt hervor, dass es verbindliche Rahmenbedingungen und regelmäßiges Monitoring braucht, um sprachliche Bildung langfristig erfolgreich zu gestalten. Wie kann ein solches Monitoring-System aussehen und welche Indikatoren wären aus Ihrer Sicht besonders wichtig, um Fortschritte zu messen?

Krelle: Wir haben in den letzten 25 Jahren viele Erfahrungen gesammelt, wie bildungssprachliche Kompetenzen diagnostiziert werden. Ein wichtiges Ergebnis ist sicherlich, dass es neben einer Eingangsdiagnose sinnvollerweise Verlaufskontrollen gibt und dass die Diagnosen mit Förderhinweisen verbunden sind. Ein solches Monitoring-System muss also neben einer kontinuierlichen Rückmeldung vor allem auch förderdiagnostisch brauchbare Informationen für die Lehrenden und Lernenden bieten. Derzeit wird zum Beispiel im Projekt „STARS“ („Stark in die Grundschule starten“) ein solches Werkzeug für den Anfang der Grundschulzeit entwickelt. Zu den wichtigen Indikatoren zählen hier der Wortschatz, die Phonologische Bewusstheit sowie erste Schrifterfahrungen.

Redaktion: Wenn wir gemeinsam in die Zukunft blicken: Welche konkreten Veränderungen in der Praxis würden Sie sich durch die Umsetzung der SWK-Empfehlungen wünschen und wie könnten Lehrkräfte, Schulleitungen und Bildungspolitik gemeinsam daran arbeiten?

Krelle: Eigentlich sind mit den Empfehlungen alle konkreten Veränderungen benannt. In einer für mich idealen Schule würden neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ein Unterstützungssystem finden, das sie auffängt und ihnen Chancen bietet, sich vor dem Hintergrund ihrer Zuwanderungsgeschichte bestmöglich zu entfalten. Das wäre doch ein Ziel.

Redaktion: Herr Professor Krelle, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Michael Krelle ist Professor für Fachdidaktik Deutsch an der TU Chemnitz und Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz. Er berät zu didaktischen Fragen der Sprachbildung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachstandsdiagnose, Leistungsbeurteilung, Kompetenzentwicklung und Literalität im Fach Deutsch sowie die Qualität von Deutschunterricht.