Die Förderung der Selbstregulation als Leitperspektive für unser Bildungssystem

Im Interview erläutert Prof. Ulrich Trautwein die neuen Handlungsempfehlungen der Leopoldina

Als Mitherausgeber des Online-Magazins schulmanagement ist Prof. Ulrich Trautwein neben 18 weiteren namhaften Autorinnen und Autoren Mitverfasser der aktuell veröffentlichten Leopoldina-Stellungnahme. Welche Bedeutung diese im Diskurs um die Förderung von Selbstregulation hat und was nun folgen sollte, erläutert er hier exklusiv und in Kürze.

Redaktion: Was versteht man unter „Selbstregulation"?

Prof. Dr. Ulrich Trautwein: Selbstregulationskompetenzen ermöglichen es Menschen, sich angemessene Ziele zu setzen, ihr Verhalten an die Erfordernisse von Situationen anzupassen, ihre Emotionen zu steuern und sich in sozialen Kontexten angemessen einzubringen. Im schulischen Kontext ist besonders häufig vom sogenannten selbstregulierten Lernen die Rede, das eine spezielle Form von Selbstregulation darstellt. Wer selbstreguliert lernt, kann sich selbst erfolgreich motivieren, setzt sich sinnvolle Lernziele, verfolgt diese Ziele effizient, reagiert mit passenden Lernstrategien auf Herausforderungen beim Lernen und nimmt gegebenenfalls nach dem Lernvorgang eine Bewertung vor, die zukünftige Lernvorgänge noch effektiver macht. Vielleicht am besten lässt sich an der Bearbeitung der Hausaufgaben erkennen, über welche Kompetenzen beim selbstregulierten Lernen die Kinder und Jugendlichen verfügen.

Redaktion: Warum ist die Förderung der Selbstregulation so wichtig?

Trautwein: Inzwischen weiß man, dass hohe Selbstregulationskompetenzen mit vielen positiven Konsequenzen einhergehen. Neben schulischem Erfolg ist dies unter anderem das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, das in der letzten Zeit doch sehr deutlich gelitten hat: Eine Reihe von Studien hat beobachtet, dass es vielen Kindern und Jugendlichen psychisch nicht gut geht – auch in der Schule und vielleicht teilweise wegen der Erfahrungen in der Schule. Selbstregulationskompetenzen sind also ein ganz entscheidender Faktor für das Wohlbefinden und den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen. Die gute Nachricht ist hierbei, dass Selbstregulationskompetenzen systematisch gefördert werden können – hierzu existiert eine breite wissenschaftliche Literatur. Wir können den Kindern und Jugendlichen also helfen, erfolgreich zu lernen, gesund zu leben und ein hohes Wohlbefinden zu erfahren.

Redaktion: Anstatt einzelne Maßnahmen zu propagieren, empfiehlt die Stellungnahme, die Förderung der Selbstregulation als „weitere Leitperspektive des deutschen Bildungssystems" zu definieren. Warum?

Trautwein: Es gibt nicht den EINEN „Schalter" für Selbstregulationskompetenz, den man einfach umlegen kann mit der Folge, dass dann alles glatt läuft. Das wäre ein irreführendes Versprechen. Stattdessen benötigen wir einen breiten Ansatz, der sinnvollerweise unter anderem bei Kindertageseinrichtungen und Schulen ansetzt, weil dort die Chance besteht, alle Kinder zu erreichen. Dabei gilt erstens, dass Selbstregulationsförderung konsequent in allen Lernumwelten mitgedacht werden muss. Das beginnt in Kindertageseinrichtungen, in denen Kinder Strukturen erleben, Emotionskontrolle einüben und soziales Miteinander genießen sollen. Auch in diesem Sinne sollten Kindertageseinrichtungen also als Bildungseinrichtungen ernst genommen werden. Es betrifft die Schule, bei der Kinder zunehmend Eigenständigkeit erlernen und Strategien entwickeln müssen, mit Ablenkungen und Bedrohungen u.a. durch soziale Medien umzugehen. Und es geht bis hin zur Entwicklung von Zielen und Handlungsstrategien zum Ende der Pflichtschulzeit.

Zweitens sollte Selbstregulation auf mehrere Arten und Weisen gefördert werden, um möglichst alle Kinder zu erreichen: Sie sollte im „normalen“ Unterricht eingeübt werden, wobei die Leopoldina-Stellung hierunter explizit auch Aktivitäten im vorschulischen Bereich fasst: Guter Unterricht mit einer Betonung auf strukturierter Klassenführung, auf angemessene kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung jedes einzelnen Kindes fördert praktisch automatisch auch das selbstregulierte Lernen und die Selbstregulation. Aber es sollten zunehmend auch empirisch bewährte fokussierte Präventions- und Interventionsprogramme eingesetzt werden, die sich auf unterschiedliche Aspekte konzentrieren und die beispielsweise auch von Schulpsychologinnen und -psychologen und anderen pädagogischen Fachkräften angeboten werden können – von Gesundheitskompetenz über Verhaltensmodifikation bis hin zu Achtsamkeits- und Körperorientierten Ansätzen. Wichtig hierbei: Nicht irgendein Programm sollte es sein, sondern eines, für das es empirische Evidenz gibt. In der Stellungnahme finden sich auch hierfür die notwendigen Hinweise.

Redaktion: Welche Konsequenzen folgen für Kitas und Schulen bzw. unsere pädagogischen Fach- und Führungskräfte?

Trautwein: Viele pädagogische Fachkräfte und Schulen haben längst die Wichtigkeit der Selbstregulationskompetenzen erkannt und verwenden Strategien zu ihrer Förderung. Aber insgesamt und in der Breite erfolgt das noch nicht umfassend und strukturiert genug. In Kindergärten und Schulen müssen in den kommenden Jahren ein größeres Wissen, eine gemeinsame Sprache und geteilte Maßnahmen zur Förderung der Selbstregulationskompetenz Einzug halten. Das setzt wiederum voraus, dass Politik und Bildungsadministration eine ambitionierte Strategie zur Förderung von Selbstregulationskompetenzen implementieren, die Unterstützungssysteme aktivieren und fortlaufend den Erfolg der Bemühungen mithilfe von Daten analysieren.

Redaktion: Und die Rolle der Wissenschaft?

Trautwein: Eine doppelte: Wir müssen einerseits viel besser dazu beitragen, dass das vorhandene Wissen in den Kindertageseinrichtungen und Schulen ankommt. Und andererseits müssen wir unsere wissenschaftlichen Studien nochmals deutlich verbessern, um die vielen Hürden auf dem Weg zu einer hohen Selbstregulationskompetenz besser zu verstehen und besondere effektive Interventionen zu entwickeln.

Redaktion: Herr Professor Trautwein, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Weiterlesen: Neue Impulse der Leopoldina: Selbstregulation als Schlüsselkompetenz 
Eine Zusammenfassung der Stellungnahme hier im Online-Magazin schulmanagement.

Zur Person

Ulrich Trautwein ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen, geschäftsführender Direktor des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung, Co-Direktor des LEAD Graduate School & Research Network sowie Studiengangsleiter des Weiterbildungsstudiengangs „Schulmanagement und Leadership“ an der Universität Tübingen.