Die Herausforderung des heterogenen Klassenzimmers

Professor Dr. Thorsten Bohl liefert spannende Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung zum Thema Heterogenität in Schulen.

Wie viel Varianz vertragen Lerngruppen und wie begegnet man ihr? Über diese und weitere Fragen zum Thema Heterogenität hat Professor Dr. Thorsten Bohl vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen jetzt bei einem Online-Vortrag des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg (ZSL) informiert.

Wie komplex das Thema Heterogenität im Unterricht zu bewerten ist, zeigte sich an einem Satz, den Professor Dr. Thorsten Bohl in Bezug auf den aktuellen Forschungsstand in seinem Online-Vortrag am ZSL mehrfach anführte: „Die Lage ist uneinheitlich.” Umso interessanter und aufschlussreicher waren einige Aspekte, die der Erziehungswissenschaftler der Universität Tübingen in seinem einstündigen Vortrag zum Thema „Umgang mit Heterogenität” vorstellte.

Auch Wohnpolitik ist Schulpolitk

Heterogenität wirkt über viele Ebenen auf die Lernsituationen im Klassenzimmer, einige davon liegen weit jenseits der eigentlichen Schulpolitik oder Unterrichtsplanung. Das machte Professor Bohl etwa an Ergebnissen des US-amerikanischen Forschers Richard D. Kahlenberg (Kahlenberg 2011) deutlich: Danach hängt der Lernerfolg einer Schule ganz wesentlich davon ab, wie groß in ihrem Einzugsgebiet der Anteil an Wohnungen für sozialökonomisch benachteiligte Familien ist.

So deuten einige Studien darauf hin, dass Mehrheiten beziehungsweise große Anteile von benachteiligten oder sozial schwächeren Schülerinnen und Schülern negative Effekte auf Lernerfolg und Leistungsentwicklung in Klassen haben können. Auch deshalb sei es für Schulen besonders wichtig, die immer stärkere Heterogenität im Klassenzimmer umfassend anzugehen. Dazu gehöre auch, lernstarke Schüler, also die für den Gesamt-Lernerfolg der Klasse wichtige Leistungsspitze, zu fördern und über entsprechende Konzepte anzuregen. Für Gemeinschaftsschulen könnte beispielsweise ein Aspekt die Kooperation mit Gymnasien oder die Einbindung von gymnasialen Lehrkräften sein. Insgesamt sei es wichtig, die Heterogenität so gut es geht „auszubalancieren”, so Professor Bohl.

Lernschwächere profitieren tendenziell von heterogenen Lerngruppen

Die Antwort auf die Grundsatzfrage, ob heterogene oder homogene Lerngruppen erfolgreicher seien, gestalte sich komplex, erläuterte Professor Bohl. Tendenziell zeigten sich in der internationalen Forschung zwei Befunde. Zum einen: Benachteiligte, leistungsschwächere Lernende profitieren tendenziell von heterogenen Lerngruppen. Allerdings hänge dies auch ganz wesentlich von individuellen Merkmalen und Konstellationen der Schüler-Gruppen und der Gestaltung des Unterrichts ab.

„Differenzierter Unterricht bei problematischer Unterrichtsqualität führt zu massiven Problemen.“

Prof. Dr. Thorsten Bohl

Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler regen sich gegenseitig an

Die zweite Tendenz: Leistungsstarke Schüler und Schülerinnen können durchaus von homogenen Lerngruppen profitieren. Das sehe man unter anderem in der Hochbegabtenforschung: hier habe man Anzeichen dafür gefunden, dass sich Schülerinnen und Schüler auf ähnlich hohem Level gegenseitig anregen. Professor Bohl machte aber auch deutlich, dass es schwer sei, Heterogenität als Einflussgröße isoliert zu betrachten, da viele Faktoren zur Leistungsentwicklung beitragen. Dazu gehörten beispielsweise Rahmenbedingungen wie die Ausstattung in den Klassen oder Referenzgruppeneffekte – also verzerrende Effekte auf das Selbstbild von Schülerinnen und Schülern durch Vergleiche mit Klassenkameradinnen und -kameraden.

Heterogene Klassen brauchen gute Unterrichtsqualität

Ein weiterer Punkt, den Professor Bohl betonte: Unterrichtsqualität spiele eine entscheidende Rolle beim Umgang mit Heterogenität. Denn sobald ein gewisser Grad an Heterogenität erreicht sei, mache ein 45-minütiger Frontalvortrag des Lehrers keinen Sinn mehr. Für den eigentlich notwendigen differenzierten, individualisierten Unterricht seien jedoch die Anforderungen an die Unterrichtsqualität und somit den Lehrer erheblich höher. „Der Lehrer braucht dafür einen diagnostischen Blick und der Unterricht wird insgesamt weitaus komplexer, da unterschiedliche Lernpfade angelegt sind.”, sagt Bohl.

Hierbei sprach der Erziehungswissenschaftler insbesondere das Anvisieren von Tiefenstrukturen von Unterricht an – also Merkmale wie kognitive Aktivierung, Klassenführung und unterstützendes Unterrichtsklima. Sie seien ein wesentlicher Faktor und die Basis für den erfolgreichen Umgang mit Heterogenität im Klassenzimmer. „Differenzierter Unterricht bei problematischer Unterrichtsqualität führt zu massiven Problemen.”

Fehlende Tiefenstrukturen im Unterricht treffen vor allem die lernschwachen Schüler

Bohl verwies hier auf das Vierstufen-Modell von Professor Marcus Pietsch (Pietsch et al. 2009) von der Universität Lüneburg, dessen Stufen die Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer auf dem Weg zu erfolgreichem Unterricht erreichen sollten. Stufe eins beschreibt dabei den Schritt, das Lernklima und pädagogische Strukturen zu sichern, Stufe zwei, Klassen effizient zu führen und Methoden zu variieren, und Stufe drei, Schüler zu motivieren sowie aktives Lernen und Wissenstransfer zu ermöglichen (siehe Abbildung 2).

Diese Merkmale seien wichtige Voraussetzungen dafür, Themen wie Differenzierung, individuelle und kompetenzorientierte Förderung kompetent umzusetzen – um sich erfolgreich auf zunehmende Heterogenität im Klassenzimmer einstellen zu können. Am Ende sei dies insbesondere für leistungsschwächere Schüler und Schülerinnen entscheidend. Professor Bohl: “Diese Gruppen sind stärker darauf angewiesen, dass sie die Tiefenstruktur des Lehrens und Lernens im alltäglichen schulischen Unterricht erreichen, weil sie kaum Chancen haben, den Unterricht außerhalb der Schule zu kompensieren.”