Die KiwiS-Studie: Warum sich das Lernen von Fremdsprachen in der Grundschule lohnt
Prof. Jutta Rymarczyk spricht über die Ergebnisse ihrer Studie und über die Gründe dafür, warum die Grundschülerinnen und Grundschüler dem Fremdsprachenunterricht in der Grundschule sehr positiv gegenüberstehen.
Prof. Jutta Rymarczyk spricht über die Ergebnisse ihrer Studie, die belegt, dass die Grundschülerinnen und Grundschüler dem Fremdsprachenunterricht an der Grundschule, insbesondere in den Sprachen Englisch und Französisch, sehr positiv gegenüberstehen. Auch spricht sie darüber, warum Kinder in diesem Alter für den Fremdsprachenunterricht motiviert sind und welche Vorteile das Lernen von Fremdsprachen in der Primarstufe hat.
Redaktion: Was war der Anlass für Ihre Studie?
Prof. Dr. Jutta Rymarczyk: Die KiwiS-Studie (Kinder wollen internationale Sprachen) wurde durchgeführt, um zu erfahren, wann Grundschulkinder mit dem Fremdsprachenlernen beginnen wollen. Dies geschah vor dem Hintergrund der im Dezember 2023 veröffentlichten neuesten Pisa-Studie, die aufgezeigt hat, dass deutsche Schülerinnen und Schüler immer noch große Defizite in den Fächern Deutsch und Mathematik aufweisen. Auch das schlechte Abschneiden in der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung „IGLU 2021“ unterstreicht den Befund.
Angesichts solcher Ergebnisse hat der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule einen schweren Stand. Die Bildungspolitik reagiert häufig mit Eingriffen in den Fremdsprachenunterricht. So wurde der Anfangsunterricht für Englisch und Französisch in Baden-Württemberg ab dem Schuljahr 2020/2021 von der ersten in die dritte Klasse verschoben, Nordrhein-Westfalen folgte dem Beispiel im Schuljahr 2021/2022. Derzeit fordern diverse Stimmen die Rückverlegung des Fremdsprachenunterrichts in die Sekundarstufe, und die Länder reagieren zunehmend. Bayern beispielsweise überlässt die Entscheidung über den Beginn des Fremdsprachenerwerbs den Schulleitungen und den Schulämtern. Hessen hat kürzlich einen Modellversuch für dritte und vierte Klassen gestartet, bei dem eine der beiden wöchentlichen Englischunterrichtsstunden für den Deutschunterricht verwendet wird.
Ich wollte die Meinung der Grundschulkinder selbst einholen, ob sie den Fremdsprachenunterricht in der Grundschule behalten wollen oder doch lieber mehr Deutsch- und Mathematikunterricht erhalten möchten. Nachdem in früheren Umfragen Fachleute für die Vermittlung von Fremdsprachen, Bildungsexperten und Eltern zu Wort kamen, war es meines Erachtens an der Zeit, die Kinder selbst zu befragen. Natürlich habe ich mir ein Votum der Kinder für Englisch bzw. Französisch erhofft und damit den Verbleib des Fremdsprachenunterrichts in der Primarstufe stärken wollen.
Redaktion: Welche Gründe sprechen dafür, den Fremdsprachen im Grundschulunterricht mehr Raum zu geben? Welche positiven Auswirkungen versprechen Sie sich davon?
Rymarczyk: Es gibt einige Gründe, die dafür sprechen, den Fremdsprachen im Grundschulunterricht mehr Raum zu geben. Zunächst ist festzuhalten, dass Englisch inzwischen schon seit längerem neben Deutsch und Mathematik als Basiskompetenz etabliert ist. Im europäischen Weißbuch wird gefordert, dass alle Bürgerinnen und Bürger der EU neben ihrer Erstsprache zwei weitere Sprachen beherrschen sollten. Dieses Ziel lässt sich für sehr viele Schülerinnen und Schüler nur erreichen, wenn sie bereits auf der Primarstufe mit dem Erlernen ihrer ersten Fremdsprache beginnen können. Zudem besteht zu diesem frühen Zeitpunkt entwicklungsbedingt noch die Möglichkeit, dass die Kinder sich mühelos eine sehr gute Aussprache aneignen – vorausgesetzt natürlich, die Lehrkräfte können ihnen diesbezüglich gute Vorbilder sein.
„Das frühe Erlernen von Fremdsprachen hat auch Synergieeffekte auf die gesamte Bildungsbiografie der Kinder“
Prof. Dr. Jutta Rymarczyk
Darüber hinaus hat das frühe Erlernen von Fremdsprachen aber auch Synergieeffekte auf die gesamte Bildungsbiografie der Kinder. Es unterstützt beispielsweise den Schriftspracherwerb im Deutschen. Durch die Entwicklung der sogenannten phonemischen Bewusstheit, also der Fähigkeit, verschiedene Laute voneinander zu unterscheiden, sie einer Lautfolge hinzuzustellen, wegzunehmen oder sie darin auszutauschen, wird das Erlernen des Lese- und Schreibprozesses unterstützt. Die Fremdsprache und das Deutsche stützen und befördern sich hier gegenseitig.
Ein weiterer wichtiger Punkt liegt auch in der angeleiteten Begegnung mit dem Kulturraum der Fremdsprache. Über Lieder, Spiele und Bilderbücher aus der Zielsprachen-Kultur öffnet sich der Blickwinkel der Kinder bereits in der Grundschule. Es wird der Grundstock für kulturelle Offenheit gelegt.
„Andere EU-Länder sind uns weit voraus, wenn es um frühes Fremdsprachenlernen geht.“
Prof. Dr. Jutta Rymarczyk
Und wenn wir schließlich auf größere Bildungskontexte schauen, so sehen wir, dass das Erlernen von Fremdsprachen in anderen europäischen Ländern einen wesentlich höheren Stellenwert hat als in Deutschland. Andere EU-Länder sind uns weit voraus, wenn es um frühes Fremdsprachenlernen geht. Im vergangenen Jahr haben 85 Prozent der Grundschülerinnen und Grundschüler in Europa eine oder sogar mehrere Fremdsprachen gelernt. Viele Staaten beginnen sogar schon mit Programmen im vorschulischen Bereich. Wenn wir hier anschlussfähig bleiben wollen, müssen wir uns anders aufstellen, als es die deutsche Bildungspolitik derzeit tut.
Redaktion: Können Sie in kurzer Form von Ihrem Projekt bzw. Ihrer Untersuchung in Bezug auf das Erlernen von Fremdsprachen in der Grundschule berichten?
Rymarczyk: Das schönste Ergebnis der KiwiS-Studie und ein großes Kompliment an alle Fremdsprachenlehrkräfte ist, dass die Kinder angegeben haben, sehr viel Freude am Fremdsprachenunterricht zu haben.
Das bildungspolitisch wichtigste Ergebnis ist aber, wie oben bereits dargestellt, ein anderes: Ich wollte mit meiner Studie dazu beitragen, dass der Beginn des Fremdsprachenunterrichts nicht von der Grundschule zurück in die weiterführenden Schulen verlagert wird. Es hat mich dann sehr überrascht, dass die Kinder sich nicht nur für einen Beginn in der Klasse 3 ausgesprochen haben. Tatsächlich wünschen sich nämlich die meisten Kinder (43,35 Prozent), dass der Fremdsprachenunterricht direkt im ersten Schuljahr beginnt. Damit haben sogar etwas mehr Kinder für einen Beginn ab Klasse 1 gestimmt als für einen ab Klasse 3 (42,55 Prozent). Lediglich knapp zehn Prozent haben sich für Fremdsprachenunterricht ab Klasse 5 ausgesprochen.
Der Mehrheit der Kinder macht der Unterricht „viel“ bis „sehr viel“ Spaß (n=1.355). Es gilt diesen Umstand auszunutzen, denn Motivation ist ein entscheidender Faktor für Lernerfolge – auch in der Grundschule.
Redaktion: Wie wurde die Untersuchung durchgeführt?
Rymarczyk: Unsere Umfrage richtete sich an Dritt- und Viertklässler in Baden-Württemberg. Der Fragebogen, der in Papierform und online vorlag, wurde von insgesamt 1624 Kindern beantwortet. Er umfasste sieben Fragen und außerdem noch die Möglichkeit, uns etwas mitzuteilen. An dieser Stelle haben uns etliche Kinder sogar gedankt, dass wir uns für sie und ihren Fremdsprachenunterricht einsetzen. Kinder werden selten selbst gehört, auch wenn es um ihre eigenen Belange geht!
Die meisten Klassen sind über Referendarinnen und Referendare mit dem Fragebogen in Kontakt gekommen. Die Initiative wurde sehr durch Ausbildnerinnen und Ausbildner an Seminarstandorten unterstützt; ich konnte aber auch ehemalige Studierende des Faches Englisch der Pädagogischen Hochschule Heidelberg ansprechen.
Redaktion: Welche Sprachen standen im Fokus bzw. sind bei den Grundschülerinnen und Grundschüler besonders beliebt – und warum?
Rymarczyk: Der Fragebogen bezog sich auf Englisch und Französisch, die Sprachen, die in Baden-Württemberg an staatlichen Schulen im Primarbereich unterrichtet werden.
Insgesamt haben sich die Kinder etwas positiver zum Englischunterricht geäußert als zum Französischunterricht. Sie erkennen den Wert des Englischen als Lingua franca und haben teils bereits entsprechende Erfahrungen sammeln können: „[…] Englisch soll bleiben, weil wenn man in Italien ist und man kein Italienisch kann, dann kann man Englisch reden und dann verstehen mich sehr viele.“
Die Unterschiede im Meinungsbild zu Englisch und Französisch sind allerdings marginal und somit eigentlich zu vernachlässigen. Manche Kinder sind so sprachbegeistert, dass sie sich beide Sprachen wünschen und diesem Wunsch Nachdruck verleihen!
Redaktion: Warum interessieren sich gerade auch mehrsprachige Kinder und Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, für den Fremdsprachenunterricht an der Grundschule?
Rymarczyk: Kinder mit Migrations- und Fluchterfahrungen sowie generell Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch haben sich ganz besonders stark für den Erhalt der Fremdsprache in der Grundschule ausgesprochen. Insbesondere neu zugezogene Kinder können teils dem auf Deutsch gehaltenen Unterricht nicht so leicht folgen wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie profitieren von dem Fremdsprachenunterricht, sofern er größtenteils einsprachig, in der Fremdsprache, erteilt wird. Hier sitzen alle Kinder in einem Boot.
„Viele scheinen auch von ihren vorangegangenen Sprachlernerfahrungen zu profitieren.“
Prof. Dr. Jutta Rymarczyk
Der Unterricht in der Fremdsprache wird in der Regel sehr gut aufbereitet, mit vielen sorgfältig gewählten Hilfestellungen, und oft spielerisch erteilt. Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch können sich in diesem Unterricht folglich sehr gut einbringen. Viele scheinen auch von ihren vorangegangenen Sprachlernerfahrungen zu profitieren. Diese Umstände sind extrem wichtig für die Ausbildung der Identität der Kinder. Sie fühlen sich sicher im fremdsprachigen Klassenzimmer; sie können sich artikulieren und zeigen, wer sie sind, weil sie einmal nicht mit sprachlichen Defiziten zu kämpfen haben, die sie im Vergleich zu Kindern mit Deutsch als Erst- und Familiensprache so viel häufiger und stärker ausgeprägt aufweisen.
Zwei türkischsprachige Kinder schrieben:
- „Bitte streichen sie nicht diese 2 Stunden englisch / Französisch . Es macht mir sehr Spaß und es ist die einzige Fach die ich sehr gut kann.“
- „Ich finde man sollte in der 2 Klasse anfangen englisch zu lernen. Ich mochte weiterhin Englisch haben das uberfordert mich garnich. Und auserdem ich fands eycht blöt weil Englisch mein 2 liblingsfach ist. Englisch findisch einfach pafekt ich hätte soga geweint weil ich es mag. Es ist einfach was neues für mich.“
Redaktion: Mit welchen Widerständen ist zu rechnen, wenn man mehr Fremdsprachenunterricht an der Grundschule durchsetzen wollen würde? Mit welchen Argumenten würden Sie auf diese Widerstände reagieren?
Rymarczyk: Wie gesagt, es geht nicht um mehr Fremdsprachenunterricht, sondern darum, den Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe zu erhalten. Aber auch hier gibt es eben Widerstände. Sie kommen teilweise von Bildungswissenschaftlern, die sich für mehr Deutsch- und Mathematikunterricht einsetzen, aber die Wochenstundenzahl des Unterrichts in der Grundschule verständlicherweise nicht anheben wollen. Bedauerlich ist hier, dass sie nicht den Dialog mit Fremdsprachendidaktikerinnen und -didaktikern suchen, um zum Beispiel die Argumente anzuhören, die für den Fremdsprachenunterricht in der Grundschule sprechen, zumal diese sich zum Teil auch auf eine Unterstützung der Lernleistungen im Fach Deutsch beziehen.
Die Rückverlegung des Fremdsprachenunterrichts in die Sekundarstufe wird ferner häufig von Lehrkräften an den weiterführenden Schulen befürwortet. Sie kritisieren – zu Recht – , dass die Englischkenntnisse der Fünftklässler mitunter so gering und so heterogen sind, dass es nur fünf bis sechs Wochen brauche, bis die Kinder alle auf einem Stand sind, von dessen Basis aus dann der Sekundarstufenunterricht stattfinden kann. Diese Kritik verstehe ich. Dieser beklagenswerte Umstand liegt aber in erster Linie daran, dass wir von über 70 Prozent fachfremd unterrichtender Lehrkräfte ausgehen müssen, die vor zu hohe Anforderungen gestellt werden. Im Fremdsprachenunterricht ist die Sprache nicht nur der Gegenstand, der Inhalt des Unterrichts, sondern es soll auch in der Fremdsprache unterrichtet werden. Die resultierenden fremdsprachlichen, fremdsprachendidaktischen und methodischen Anforderungen sind von fachfremden Lehrkräften kaum zu leisten. Guter Unterricht braucht gut ausgebildete Lehrkräfte.
Ich möchte unterstreichen, dass grundständig ausgebildete Lehrkräfte einen Fremdsprachenunterricht anbieten können, der verschiedene Sprachkompetenzen und Sprachlernkompetenzen vermittelt, der die Basis legt für einen offenen Blick auf andere und eigene Kulturen und den Grundschulkinder mit Begeisterung besuchen.
Redaktion: Frau Professorin Rymarczyk, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Jutta Rymarczyk ist Professorin für Englische Sprache und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Ihre Forschungsgebiete umfassen u.a. den simultanen Schriftspracherwerb Deutsch-Englisch ab Klasse 1 und die Entwicklung entsprechender didaktisch-methodischer Konzepte zum Lesen und Schreiben im Fach Englisch der Grundschule.