„Die Lehrkräfte müssen mitziehen“

Die SWK-Co-Vorsitzende erklärt im Interview, wie basale Kompetenzen in der Grundschule gesichert werden können – und warum man nicht nur auf die Politik schauen sollte.

Nach den alarmierenden Ergebnissen des IQB-Bildungstrends, der ein Verfehlen der Mindeststandards bei vielen Grundschülerinnen und Grundschülern nachwies, hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) ein neues Gutachten veröffentlicht, welches das Erreichen basaler Kompetenzen an Grundschulen sicherstellen soll. Im Interview spricht Prof. Dr. Felicitas Thiel, Co-Vorsitzende der SWK, über die Vorschläge.

Redaktion: Frau Professorin Thiel, die Themen systematische Diagnose und zielgerichtete Förderung ziehen sich wie ein roter Faden durch das neue Gutachten der SWK, von der Kita über die Vermittlung der Basiskompetenzen an den Schulen bis hin zur Unterstützung bei sozial-emotionalen Problemen. Warum ist beides so wichtig?

Prof. Dr. Felicitas Thiel: Wir sprechen von 20 Prozent der Kinder, welche die basalen Kompetenzen in der Grundschule nicht erwerben beziehungsweise im IQB-Bildungstrend die Mindeststandards verfehlen. Das bedeutet, dass sie elementare Kompetenzen nicht besitzen, die sie aber dringend brauchen für anschließende Bildungsetappen und die Voraussetzung sind für gesellschaftliche Partizipation. Und um diese Kompetenzen gut und wirksam zu fördern, muss man von jedem Kind wissen, welche Unterstützung es benötigt. Es muss gezielt gefördert werden und dafür braucht es Diagnose. Diagnose bedeutet dabei im Übrigen nicht, immer Tests einzusetzen, sondern es kann durchaus auch informell diagnostiziert werden, etwa indem sich die Lehrkraft bestimmte Aufgabenergebnisse genau anschaut, um eine Vorstellung davon zu entwickeln, wo eine Schülerin oder ein Schüler steht. Aber es bedeutet eben auch formelle Diagnostik. Für diese gibt es inzwischen einige gute Tools, die zum Teil auch digital und verknüpft sind mit entsprechenden Fördermaßnahmen.

Redaktion: Ties Rabe, Hamburgs Senator für Schule und Berufsbildung, sagte bei der Vorstellung des Gutachtens, dass es sich bei den Empfehlungen nicht um „Raketenwissenschaft“ handele, sondern dass viele Maßnahmen schon lange bekannt seien, man müsse sie nur umsetzen. Warum hat man das denn bisher nicht getan? Was gilt es, im Schulalltag zu überwinden?

Thiel: Wir haben in Deutschland eine große Skepsis gegenüber Diagnose und datenbasierter Unterrichtsentwicklung. Diese Bedenken sind größer als in anderen Ländern. Das hat auch mit der pädagogischen Tradition in unserem Land zu tun, die sehr stark von der geisteswissenschaftlichen Reformpädagogik geprägt ist. In der Schweiz war die Reformpädagogik zum Beispiel viel stärker lernpsychologisch ausgerichtet, dort gibt es entsprechend auch nicht so große Vorbehalte. Ein anderer Grund ist, dass wir lange nicht die notwendigen Diagnose-Tools hatten. Diese sind vielfach erst in den vergangenen Jahren entwickelt worden. So sind etwa im großen Förderprogramm „BiSS Transfer" („Bildung durch Sprache und Schrift”, Link zu den Programmen unter diesem Artikel, Anm. d. Red.) Tools entstanden, die auch direkt mit Fördermaßnahmen verknüpft sind. Für Mathematik gilt Ähnliches, hier gibt es etwa „Mathe sicher können”. Mehr solcher Tools, welche die Lehrkräfte einfach handhaben und einsetzen können, werden dringend gebraucht.

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Die Ständige Wissenschaftliche Kommission erläutert in ihrem neuen Gutachten Lösungsansätze, um die Vermittlung basaler Kompetenzen an den Grundschulen zu verbessern.

Redaktion: Wenn Sie selbst an den politischen Hebeln sitzen würden, welche Maßnahmen würden Sie jetzt so schnell wie möglich auf den Weg bringen?

Thiel: Wenn ich Politikerin wäre und entsprechende Ressourcen zur Verfügung hätte, würde ich in der Tat die Entwicklung solcher Tools zielgenau fördern – mit klaren Indikatoren: Erstens müssen sie auf die Bildungsstandards bezogen sein.  Zweitens müssen sie medienpsychologische und lehr-lernpsychologische Befunde und Erkenntnisse berücksichtigen. Hier muss man genau hinschauen und nicht irgendwas fördern, was an der Oberfläche glänzt, sondern die Programme und Tools, die wirklich Qualität haben, die also die Anforderungen an eine wissenschaftlich geprüfte Diagnose und systematische Förderung erfüllen. Allerdings werden wir die Kinder nicht besser unterstützen, wenn wir nur auf die Politik schauen. Wir müssen uns auch ganz zentral an Lehrkräfte und Lehrkräfteverbände richten. Diese müssen mitziehen, sie müssen diese datenbasierte Unterrichtsentwicklung mittragen und implementieren.

Um einen Befund stellvertretend zu nennen: In anderen Ländern wie den Niederlanden wurde die datenbasierte Unterrichtsunterstützung schon 2007 systematisch eingeführt. Und es gibt mehrere Studien, die zeigen, wie wirksam das ist. Bei einer solchen Studie geht es zum Beispiel um die Leseförderung. Da setzen Lehrkräfte aller Klassen Diagnoseinstrumente ein und verbessern dann kontinuierlich den Unterricht und passen ihre Förderung an. Kinder, die in diesen Klassen unterrichtet wurden, haben bis zu einem halben Schuljahr Lernvorteil. Und insbesondere die schwächeren Schülerinnen und Schüler profitieren davon. Es ist also extrem wirksam, so zu arbeiten. In Deutschland müssen wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei denjenigen, die für die Schul- und Unterrichtsentwicklung Verantwortung tragen, noch bessere Überzeugungsarbeit leisten und für datengestützte Unterrichtsentwicklung werben.

„Es ist inzwischen Konsens, dass wir einen zweiten Weg ins Lehramt brauchen.“

Prof. Dr. Felicitas Thiel

Redaktion: Sie haben bei der Pressekonferenz auch ein Gutachten der SWK zur Lehrkräftebildung angekündigt. Was wollen Sie sich hier genauer anschauen?

Thiel: Es ist inzwischen Konsens, dass wir einen zweiten Weg ins Lehramt brauchen. Die Bundesländer haben auf Grundlage des Beschlusses der KMK zu Sondermaßnahmen bereits ganz unterschiedliche Konzepte entwickelt. Hier muss man sich anschauen, wie tragfähig diese sind und inwieweit die Befunde aus der Lehrkräftebildungsforschung berücksichtigt wurden. Ein Fokus unseres Gutachtens wird also darauf liegen, wie man die Ausbildung zum Quereinstieg ins Lehramt zukunftsfähig gestaltet, so dass diese Lehrkräfte ebenfalls in der Lage sind qualitativ hochwertigen Unterricht zu machen. Des Weiteren ist es an der Zeit, dass wir uns – auch vor dem Hintergrund internationaler Befunde und Erfahrungen – anschauen, wie gut die Reformen funktionieren, die im Anschluss an die Verabschiedung der Standards für die Lehrkräftebildung durch die Kultusministerkonferenz im System implementiert wurden – etwa Praxissemester und eine stärkere Ausrichtung der Module auf den Kompetenzerwerb. 

Redaktion: Es gibt Berichte aus der Lehrkräfteausbildung, die etwa das Referendariat als sehr stressvolle und teilweise negative Erfahrung schildern. Es scheint so, als würde das dazu beitragen, dass eine gewisse Einzelkämpfer-Mentalität unter deutschen Lehrkräften entsteht. Muss nicht auch hier angesetzt werden, um eine gewisse Offenheit der Lehrkräfte für die von der Wissenschaft gewünschte Diagnostik zu erreichen?

Thiel: Grundsätzlich glaube ich, dass jede Profession sich einer Evaluation stellen muss. Lehrkräfte haben ja grundsätzlich sehr hohe Autonomie-Spielräume in den Klassenzimmern. Die Kinder sind davon abhängig, dass alle gute Arbeit machen, deswegen ist Evaluation sehr wichtig. Ob Evaluation von Lehrkräften akzeptiert wird oder nicht, ist auch eine Frage der Gestaltung des Feedbacks. Wir alle wissen: Wenn wir nur negatives Feedback bekommen, dann schalten wir auf Abwehr, das hat mit Selbstwertschutz zu tun. Konstruktives Feedback ist in diesem Kontext absolut wichtig und muss in Schulen, ob kollaborativ oder von außen, verankert werden. Und wenn eine Lehrkraft dann feststellt, dass sie ihren Unterricht nicht so gut macht, wie sie es sich selbst wünscht und wie es dem Standard entspricht, dann muss natürlich auch sofort ein Hilfs- und Unterstützungsangebot greifen. Entweder durch Kolleginnen und Kollegen oder durch eine gute Fortbildung, die Lehrkräfte in die Lage versetzt, die Dinge besser zu machen. Und auch hier haben wir noch großen Nachholbedarf im System. 

Redaktion: Sie haben bereits erste Reaktionen der Politik auf das neue SWK-Gutachten bekommen. Haben Sie den Eindruck, dass der Ernst der Lage in der Politik angekommen ist?

Thiel: Ich bin eigentlich ganz zuversichtlich. Wenn man bei der Pressekonferenz die politische Seite gehört hat, wurde ja drastisch dargestellt, was für eine Hypothek es ist, wenn 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards nicht erreichen – nicht nur für jedes einzelne Individuum, das ein Recht auf die Bildung und soziale Partizipation hat, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Wir brauchen gut ausgebildete, junge Leute. Und wir sehen, dass fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler ohne deutschen Pass nach dem ersten Abschluss im beruflichen Übergangssystem landet und davon wieder ein viel zu großer Teil in eine ungelernte Arbeit oder in die Erwerbslosigkeit geht. Das ist auch eine Folge der unzureichenden Förderung sprachlicher Kompetenzen in der Kita und der Schule. Das scheint der Politik klar zu sein. Sie hat konkrete Vorhaben formuliert, etwa, dass man sich mit der Jugend- und Familienkonferenz zusammensetzen will, um über die Förderung im frühkindlichen Bereich zu beraten. Ich hoffe, dass jetzt die richtigen Entwicklungen angestoßen werden.

Redaktion: Frau Professorin Thiel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Felicitas Thiel ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der FU Berlin. Seit 2014 ist Thiel Herausgeberin der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Seit 2021 ist sie die Co-Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Thiel gehört zu den Herausgebern des Online-Magazins schulmanagement.