Digitale Kompetenzen fördern – aber wie?
Deutschlands Schulen fördern digitale Kompetenzen bislang unsystematisch – die Ständige Wissenschaftliche Kommission empfiehlt konkrete Maßnahmen

In einer zunehmend digitalen Welt entscheidet Digital Literacy über Bildungschancen, beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe. Doch der Kompetenzstand deutscher Schüler:innen liegt im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz sieht deshalb dringenden Handlungsbedarf: von verbindlichen Standards über systematische Tests bis hin zum flächendeckenden Informatikunterricht.
Welche Kompetenzen sollten alle Schüler:innen in Deutschland am Ende ihrer Pflichtschulzeit besitzen – unabhängig von der Schulform? Mit dieser Leitfrage setzt sich das aktuelle Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz auseinander. Es benennt zentrale fachliche Bereiche wie Bildungssprache und naturwissenschaftliches Denken – und stellt eine weitere Schlüsselkompetenz gleichwertig daneben: „Digital Literacy“. Sie gelten als unerlässlich, um den Einstieg in Ausbildung und Beruf zu bewältigen und lebenslang weiter zu lernen.
Was ist Digital Literacy?
Digital Literacy ist die Fähigkeit, sich sicher, reflektiert und zielführend in einer Kultur der Digitalität zu bewegen. Wer über Digital Literacy verfügt, hat einen größeren Zugang zu Informationen, profitiert stärker von Informationen, kann sich effektiver an gesellschaftlichen Diskursen beteiligen und die digitale Transformation unserer Gesellschaft aktiv mitgestalten. Digital Literacy ist damit zur Schlüsselkompetenz geworden. Aus Sicht der SWK sollte die Pflichtschulzeit allen jungen Menschen die Chance geben, Digital Literacy zu erlernen.
Die schulische Ausbildung der Digital Literacy fristete jedoch lange Zeit ein Schattendasein und galt als Privatvergnügen – etwas, das zuhause oder „nebenbei“ erworben werden sollte. Noch heute erfolgt ihre Förderung unsystematisch, theoretisch kaum fundiert und selten evaluiert. Ob Schüler:innen Digital Literacy tatsächlich erwerben, hängt oft allein vom Zufall ab: vom Wohnort, der Lehrkraft, der Schulform – und nicht zuletzt dem familiären Hintergrund.
Wie digital fit sind Deutschlands Schüler:innen?
Dass eine systematische Förderung der Digital Literacy in Deutschland dringend notwendig ist, zeigen bereits die wenigen verfügbaren Daten zum Kompetenzstand von Jugendlichen in der Sekundarstufe I. In der internationalen Vergleichsstudie ICILS 2023, die computer- und informationsbezogene Kompetenzen sowie Kompetenzen im Bereich Computational Thinking in der 8. Jahrgangsstufe untersucht, liegt Deutschland in beiden Feldern nur im Mittelfeld. Besonders alarmierend: Im Vergleich zu früheren Erhebungen ist sogar ein Kompetenzrückgang zu verzeichnen. Konkret bedeutet das: Über 40 Prozent der Jugendlichen – und fast 60 Prozent der Schüler:innen nicht-gymnasialer Schulformen – sind nicht in der Lage, eigenständig mithilfe digitaler Medien Informationen zu recherchieren, zu strukturieren oder einfache Informationsprodukte wie Präsentationen zu erstellen. Stattdessen beschränken sich ihre Fähigkeiten oft auf Basistätigkeiten wie das Öffnen eines Links oder das Ändern des Bildkontrasts – und auch das häufig nur unter Anleitung. Selbst einfache Textbearbeitungen gelingen in vielen Fällen nur mit direkter Unterstützung durch Lehrkräfte.
Wie in vielen Bildungsbereichen offenbaren sich auch beim Erwerb digitaler Kompetenzen deutliche soziale Disparitäten. Jugendliche aus bildungsfernen Haushalten oder mit Zuwanderungshintergrund sind systematisch benachteiligt. In Deutschland zeigt sich somit also nicht nur insgesamt ein dramatisch niedrige Kompetenzstand der Digital Literacy, sondern auch die Gefahr einer sich vergrößernden Leistungsschere.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission warnt deshalb eindringlich: Wenn Digital Literacy weiterhin dem Zufall überlassen bleibt, droht ein großer Teil der heranwachsenden Generation von zentralen digitalen Entwicklungen im Bildungs- und Arbeitsleben abgehängt zu werden. Um dem entgegenzuwirken, sei eine systematische, theoretisch fundierte und breit evaluierte schulische Vermittlung digitaler Kompetenzen unumgänglich.
Was junge Menschen digital können sollten
Welche digitalen Kompetenzen brauchen Jugendliche, um erfolgreich den Übergang in Ausbildung oder Beruf zu schaffen? Analysen von Stellenanzeigen und Anforderungen der beruflichen Praxis zeigen deutlich: Arbeitgeber:innen erwarten von Schulabgänger:innen Eigenständigkeit in der Nutzung digitaler Medien sowie einen reflektierten, verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Inhalten. Ähnliche Forderungen kommen aus der Bildungswissenschaft und Politik. Denn digitale Medien bieten zwar ein enormes Potenzial zur Förderung von Lernprozessen – sie können jedoch ebenso gut ablenken, verzerren oder manipulieren. Um auf der bildungsbezogenen Gewinnerseite der Digitalisierung zu stehen, brauchen junge Menschen daher ein hohes Maß an Digital Literacy.
Bis zum Ende der Pflichtschulzeit sollten alle Schüler:innen aus Sicht der SWK zwei zentrale Facetten digitaler Kompetenz erwerben:
- Anwendungskompetenzen im Fachunterricht – etwa den Umgang mit digitalen Karten, Tabellenkalkulationen oder Präsentationssoftware. Diese Fähigkeiten sind nicht nur im Schulalltag, sondern auch im Berufsleben unabdingbar.
- Informatische Grundkenntnisse, wie das Verständnis grundlegender Funktionsprinzipien digitaler Systeme (zum Beispiel Algorithmen), um neue Technologien künftig selbstständig einschätzen und nutzen zu können.
Kurzfristig müsse das Ziel sein, so die SWK, alle Jugendlichen – auch diejenigen mit geringen Ausgangsvoraussetzungen – zumindest zu einer angeleiteten Mediennutzung zu befähigen. Langfristig aber müsse schulische Bildung darauf hinarbeiten, dass junge Menschen digitale Medien eigenständig und reflektiert nutzen können.
Was jetzt passieren muss: Klare Standards, gezielte Tests, Informatikunterricht
Wunsch und Wirklichkeit zum Kompetenzstand der Digital Literacy am Ende der Pflichtschulzeit klaffen also weit auseinander. Ein zentrales Problem ist die unklare Zuständigkeit in der schulischen Praxis. Häufig schieben sich die Beteiligten die Verantwortung gegenseitig zu: Fachlehrkräfte möchten digitale Kompetenzen an den Informatik- oder Medienunterricht delegieren – während der Informatikunterricht die Förderung von Anwendungskompetenzen wiederum als Aufgabe des Fachunterrichts betrachtet. Aus Sicht der SWK braucht es zur systematischen Förderung der Digital Literacy aber beides: Anwendungskompetenzen digitaler Medien sollten als Querschnittsaufgabe aller Fächer gefördert werden, während die Ausbildung der grundlegenden informatischen Kenntnisse Teil des Informatikunterrichts sein sollte.
Digitale Anwendungskompetenzen als Querschnittsaufgabe
In den aktuellen Bildungsstandards der Fächer sind digitale Anwendungskompetenzen bislang nur vereinzelt ausgearbeitet. Ob und wie diese Zielsetzungen tatsächlich im Unterricht umgesetzt werden – und ob sie zu messbaren Lernerfolgen führen –, ist bisher weitgehend ungeklärt. Es fehlen sowohl belastbare Befunde als auch eine systematische Prüfung digitaler Kompetenzen in den Fächern.
Aus Sicht der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission ist es daher dringend notwendig, fachspezifische digitale Anwendungskompetenzen umfassend in die Bildungsstandards aller Fächer zu integrieren und diese regelmäßig zu aktualisieren. Um den Kompetenzaufbau gezielt verfolgen und insbesondere bei benachteiligten oder leistungsschwächeren Schüler:innen rechtzeitig Förderangebote bereitstellen zu können, empfiehlt die SWK darüber hinaus die regelmäßige Erfassung der Digital Literacy mithilfe geeigneter Tests, die zeitnah entwickelt werden sollten. Auch zentrale Prüfungen sollten digitale Anwendungskompetenzen stärker einbeziehen – nicht zuletzt, weil erfahrungsgemäß vor allem das gelernt wird, was auch geprüft wird.
Für Fachlehrkräfte ist die Vermittlung digitaler Kompetenzen jedoch alles andere als selbstverständlich. Zwar gibt es eine wachsende Zahl an externen Angeboten, doch bisher existieren kaum Lehr-Lern-Konzepte zur Digital Literacy, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen oder umfassend evaluiert worden sind. Lehrkräfte haben damit kaum Zugang zu qualitätsgesichertem, urheberrechtlich unbedenklichem Unterrichtsmaterial, das sich niedrigschwellig einsetzen lässt. Hinzu kommt, dass viele von ihnen gar nicht darauf vorbereitet wurden, Digital Literacy im Unterricht gezielt zu fördern. Die SWK fordert deshalb die zügige Entwicklung und Erprobung fachbezogener Lehr-Lern-Konzepte. Gleichzeitig sollten für Lehrkräfte, Schulleitungen, Verwaltungsmitarbeitende und pädagogisches Personal im Ganztag breit verfügbare Fortbildungsangebote geschaffen werden – denn die digitale Transformation ist eine Aufgabe der gesamten Schulgemeinschaft. Für zukünftige Lehrkräfte muss die Förderung digitaler Kompetenzen bereits ein fester Bestandteil aller Ausbildungsphasen und Lehramtsstudiengänge sein.
Flächendeckender Informatikunterricht als Schlüssel
Aus Sicht der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission ist der Informatikunterricht die zweite zentrale Stellschraube, um die Förderung der Digital Literacy in Deutschland zügig und wirksam voranzutreiben. Sie fordert daher erneut die flächendeckende Einführung eines systematischen und verpflichtenden Informatikunterrichts ab der Sekundarstufe I – in allen Bundesländern und für alle Schulformen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Ausbildungsstrukturen für Informatiklehrkräfte deutlich ausgebaut und zugleich niedrigschwellige Wege für qualifizierte Quereinsteiger:innen geschaffen werden.
Ziel all dieser Maßnahmen muss es sein, dass die Pflichtschulzeit ausnahmslos allen Schüler:innen – unabhängig von Schulform, Lernvoraussetzungen, Wohnort oder familiärem Hintergrund – den Erwerb digitaler Basiskompetenzen ermöglicht. Digital Literacy auf einem tragfähigen Niveau ist Voraussetzung dafür, dass junge Menschen eigenständig weiterlernen, Informationen reflektiert und lernförderlich nutzen und langfristig am gesellschaftlichen, kulturellen und beruflichen Leben teilhaben können.
Weiterlesen:
- Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz "Kompetenzen für den erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung sichern"
- Zusammenfassung des Gutachtens der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz "Kompetenzen für den erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung sichern"