Frühe Bildung: Bildungspotenziale im digitalen Wandel

Digitale Medien in frühkindlichen Lern- und Bildungsprozessen

Bildung und Erziehung vollziehen sich gegenwärtig vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden sozialen, kulturellen und technischen Wandels. Dieser lässt sich nicht auf eine Ursache zurückführen, sondern ist das Ergebnis einer Vielzahl von Einzelentwicklungen und Faktoren, die zusammenwirken und das soziale Leben verändern. Der digitale Wandel beschreibt dabei einen Prozess, der verschiedene gesellschaftliche und persönliche Anpassungs- bzw. Gestaltungsleistungen erforderlich macht und nicht einseitig auf technische Innovationen reduziert werden kann. Vielmehr hat er Implikationen, die weit über die reine Nutzung von digitalen Tools und den Erwerb entsprechender Kompetenzen hinausgehen.

Pädagogisches und speziell auch frühpädagogisches Handeln sind dabei auf zwei unterschiedlichen Ebenen betroffen – zum einen direkt, indem digitale Medien die Möglichkeiten, Formen und Strukturen kommunikativen und professionellen Handelns beeinflussen (z.B. Verwaltung und Organisation, Zusammenarbeit mit Eltern), zum anderen indirekt, indem digitale Welten die Voraussetzungen und Ziele, aber auch die Bedingungen und Aufgaben professionellen pädagogischen Handelns verändern. So müssen digitale Medien zunehmend als normaler Bestandteil kindlicher Lebenswelten und damit als Rahmenbedingungen von Erziehung und Bildung begriffen werden.

Erweiterter Bildungsauftrag durch digitalen Wandel

Daraus lässt sich ein erweiterter Bildungsauftrag ableiten, der mit spezifischen Qualifizierungsanforderungen an pädagogische Fachkräfte einhergeht. Gemeint ist die Unterstützung von Kindern im Umgang mit digitalen Medien, die Umsetzung alltagsintegrierter Medienbildung im Rahmen der Bearbeitung verschiedener Lern- und Bildungsthemen sowie in diesem Kontext Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabechancen. Medienbildung legt dabei wichtige Grundlagen für eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und kann langfristig Bildungserfolg und soziale Integration fördern. Konkret geht es darum, Kinder zu einem souveränen Umgang mit digitalen Medien zu befähigen und sie darin zu bestärken, sich als aktiv Gestaltende von (digitaler) Welt zu begreifen und zu erleben.

Dabei ist das Thema der frühkindlichen Medienbildung nicht gänzlich neu, entfaltet aber im Zuge des digitalen Wandels – nicht zuletzt auch im Kontext der pandemiebedingten Auseinandersetzung mit digitalen Lösungen in der Bildung – eine neue Dynamik. Im Kontext der pädagogischen Arbeit mit Kindern besteht weiterhin Entwicklungsbedarf. Notwendig sind, neben der materiellen Ausstattung, vor allem passende Konzepte und konkretes Praxiswissen, die nicht zuletzt in Weiterbildungsangeboten pädagogischen Fachkräften vermittelt werden. Neben dem Kompetenzerwerb gilt es auch, Vorbehalten und Berührungsängsten zu begegnen und diese abzubauen.

Lernen mit, durch und über Medien

Digitale Medien bieten vielfältige Möglichkeiten, die Neugier und Entdeckerfreude von Kindern zu wecken und sie in ihrer Auseinandersetzung mit der sozialen und dinglich-materiellen Umwelt zu unterstützen. Dabei können digitale Medien als Inhalte, als Mittel zur Erschließung und Aneignung von Welt sowie als Wissensquelle kindliche Bildungs- und Lernprozesse in vielfältiger Art und Weise anregen und erweitern. Kinder sollten daher die Möglichkeit haben, digitale Medien in ihrer Vielseitigkeit und ihrem kreativen Potenzial kennen und nutzen zu lernen. Medienbildung umfasst in dieser Lesart nicht nur den Erwerb medienpädagogischer Kompetenzen, sondern auch das Bemühen, die in den Lebenswelten der Kinder eingewobenen Sinnzusammenhänge zu verstehen, um in diesen selbstbestimmt aktiv werden zu können.

Vor diesem Hintergrund kann das Lernen mit, durch und über Medien in der frühen Kindheit - mit einem besonderen Schwerpunkt auf einen partizipativen und kreativ-produktiven Umgang - ein spezifisches Bildungspotential entfalten. Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigten: Es geht darum, Kindern die Funktionsweisen und einen reflektierten Umgang mit digitalen Medien zu zeigen, sie diese aber auch eigenständig und kreativ entdecken und nutzen zu lassen sowie sie zur Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt in diesem Zusammenhang anzuregen. Dabei steht nicht das Medium an sich im Mittelpunkt, sondern das Kind mit seiner individuellen Persönlichkeit, seiner jeweiligen Lebenswelt und seinen Interessen, Themen und Entwicklungsaufgaben.

Ausgehend von diesen Überlegungen lassen sich in der medienpädagogischen Arbeit mit Kindern drei Aneignungsweisen herausarbeiten. Diese beinhalten verschiedene kindliche Zugangsweisen zur Mediennutzung und können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden:

Mit digitalen Medien Neues entdecken

Kinder setzen sich durch Experimentieren, Beobachten und Gestalten aktiv mit ihrer Welt auseinander und verarbeiten die dabei gemachten Erfahrungen. Digitale Medien können Kindern zahlreiche Möglichkeiten eröffnen, eigenständig und interessengeleitet Neues aufzuspüren. Sie sind dann besonders förderlich für kindliche Lern- und Bildungsprozesse, wenn sie die kindliche Neugier am Entdecken und kreativen Gestalten unterstützen und Impulse für neue, erweiterte Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten geben. Kameras, Mikrofone oder Mikroskope ermöglichen es Kindern beispielsweise, interessante, ästhetisch ansprechende, aber auch irritierende Aspekte ihrer Umwelt genauer zu betrachten und festzuhalten. Dabei lernen sie, diese als Werkzeuge für ihre eigenen Fragestellungen zu nutzen und so die sie umgebende Welt forschend zu hinterfragen.  Fotos, Film- und Audioaufnahmen können als Erinnerungs- und Erzählhilfen eingesetzt werden und als Archive biografischer Erfahrungen helfen, die vielfältigen Erlebnisse aufzugreifen, einzuordnen und zu besprechen. Über den Austausch hinaus kann eine aktiv gestalterische Medienarbeit vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten anbieten, um Bedürfnisse, Erfahrungen und Interessen mittels digitaler Medien zu artikulieren und zu verarbeiten.

Durch digitale Medien Wissen aneignen und die Welt verstehen

Digitale Medien bieten auch vielfältige Angebote, die Kindern helfen, ihren Interessen nachzugehen, sich in der Welt zu orientieren, Empathie zu entwickeln, spielerisch zu lernen, aber auch in Fantasiewelten zu reisen und Spaß zu haben. Kurze Filme, Bücher, Apps, Hörmedien oder kindgerechte Internetseiten können als Wissensquellen dienen, um individuelle Fragen und Themen aufzugreifen und zu beantworten. Digitale Medieninhalte eignen sich in besonderem Maße zur Anregung frühkindlicher Lernprozesse, da sie jederzeit wiederholt, selbsttätig und dem individuellen Lerntempo entsprechend genutzt werden können. Insbesondere für mehrsprachig aufwachsende Kinder bieten sie unterschiedliche Sinneszugänge zur Unterstützung und Veranschaulichung von Inhalten, bieten teilweise einen emotionalen Zugang zu Themen und können so deren Verständnis erleichtern. Sie können daher sowohl als didaktisches Werkzeug zur Bearbeitung und Entdeckung verschiedener Bildungsbereiche als auch zur gezielten Entwicklung einer altersgemäßen Medienkompetenz eingesetzt werden.

Etwas über digitale Medien erfahren

Wenn Kinder mit digitalen Medien Neues entdecken oder sich durch sie Wissen aneignen, um die Welt zu verstehen, lernen sie gleichzeitig Grundlegendes über den Umgang mit ihnen. Weitere Erfahrungen mit digitalen Medien können durch die Beobachtung von Bezugspersonen, durch Erklärungen von pädagogischen Fachkräften und durch den Austausch mit anderen Kindern gesammelt werden. Pädagogische Fachkräfte sind in der frühkindlichen Bildung Vorbilder in ihrem Verhalten, auch in ihrer professionellen Mediennutzung und in den Haltungen, die sie explizit oder implizit zu verschiedenen Medienangeboten und deren Inhalten einnehmen. Ihre Freude und Neugier sind daher von großer Bedeutung für das gemeinsame Erforschen und Erkunden der Medienwelt mit den Kindern. Aufbauend auf einem grundlegenden Medienverständnis können Kinder die Welt mit digitalen Medien selbstbestimmt und forschend erkunden. Dabei erfahren sie durch die eigene kreative Auseinandersetzung, dass Medien und ihre Inhalte von Menschen gemacht sind. Damit wird ein wichtiger Grundstein für die Entwicklung von Medienkritik gelegt.

Fazit

In der pädagogischen Praxis kann Medienbildung auf der Basis des Entdeckenden Lernens in alltagsrelevante Kontexte eingebunden werden, um Kinder dazu zu ermutigen, digitale Medien als Werkzeuge zu nutzen und mit diesen selbstbestimmt und kreativ die Welt und Welterfahrung zu gestalten. Medienbildung ist in diesem Sinne nicht als isolierter Bildungsbereich zu verstehen, sondern lässt sich als Querschnittsaufgabe mit vielfältigen Bildungsbereichen der frühkindlichen Bildung verknüpfen und ergänzen. Dies wird auch im aktuellen und erweiterten Gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen der Kultusministerkonferenz (KMK) und der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) hervorgehoben. Der Auftrag zur Medienbildung soll systematisch und nachhaltig verankert werden (KMK, 2016; KMK & JFMK, 2021/2022). Auch wenn der gemeinsame Rahmen kein verbindliches Dokument für die Ausgestaltung pädagogischer Praxis darstellt, lässt sich erkennen, dass dem Einsatz digitaler Medien in Kindertageseinrichtungen von bildungspolitischer Seite eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Da aktuell in einigen Bundesländern die Bildungspläne überarbeitet werden, ist folglich davon auszugehen, dass digitale Medienbildung dort zukünftig stärker verankert sein wird.

  • Autorengruppe Bildungsberichterstattlung. (2020). Bildung in Deutschland 2020: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. Bielefeld: wbv Publikation.
  • Bildungsberichterstattung, A. (2020). Bildung in Deutschland 2020: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. Bielefeld: wbv Publikation.
  • Bronfenbrenner, U. (1989). Die Ökologie der menschlichen Entwicklung: Natürliche und geplante. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
  • Cohen, F., Oppermann, E., & Anders, Y. (2021). (Digitale) Elternzusammenarbeit in Kindertageseinrichtungen während der Corona-Pandemie. Digitalisierungsschub oder verpasste Chance? Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 24, S. 313-338.
  • Eder, S., & Roboom, S. (2014). Klicken, Knipsen, Tricksen ... Medienerziehung im Kindergarten. In A. Tillmann, S. Fleischer, & K.-U. Hugger, Handbuch Kinder und Medien (S. 503-516). Wiesbaden: Springer VS.
  • Eder, S., & Roboom, S. (2021). Was Anna und Elsa mit MINT zu tun haben ... Oder: Medien mitdenken. In N. Neuß, Kita digital (S. 35-48). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
  • Faas, S. (2016). Kulturelle Bildung im Kindergarten. Didaktisch-konzeptionelle Anmerkungen zur Gestaltung. Sozialmagazin 1(2).
  • Faas, S. (2022). Erziehung und Bildung im Kontext von Heterogenität. Anmerkungen zu Fragen der Angemessenheit (früh-) pädagogischer Praxis und Reflexion. In S. /. Geiger, Heterogenität und Differenz in Kindheits- und Sozialpädagogik. Theoretische und empirische Beiträge (S. 22-37). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
  • Faas, S., & Buchholz, S. (2023). Medien & Kindheit. Ein medienpädagogisches Arbeitsbuch. Berlin: pädquis.
  • Hurrelmann, K., & Bauer, U. (2020). Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. (13. Auflage Ausg.). Weinheim & Basel: Beltz.
  • Kieninger, J., Feierabend, S., Rathgeb, T., Kheredmand, H., & Glöckler, S. (2021). miniKIM Studie 2020 Kleinkinder und Medien: Basisuntersuchung zum Medienumgang 2- bis 5-Jähriger in Deutschland. Stuttgart: Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest (mpfs).
  • KMK. (2016). Strategie der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“. Abgerufen am 08. 06 2024.
  • KMK & JFMK. (2021; 2022). Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. Abgerufen am 08. 06 2024.
  • Krug, M., & Burtscher, I. (2020). Technikprojekte im Alltag von Kindern. Rückschau und Erkenntnisse aus 15 Jahren „Es funktioniert?!“. Das Kita-Handbuch. Abgerufen am 04. 06 2024.
  • Lienau, T. & Frense, E. (2022). Vom Reizthema zum Qualitätsmerkmal – Die Coronapandemie als Gamechanger frühkindlicher Medienerziehung? Eine Analyse neuer Potenziale der pandemiebedingten Digitalisierungsprozesse in Kindertageseinrichtungen. MedienPädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung (46).
  • Neuß, N. (2021). Digitalisierung und Digitale Kita. In N. Neuß, Kita digital. Weinheim & Basel: Beltz.
  • Nieding, I. & Klaudy, E. (2020). Digitalisierung in der frühen Bildung. Der Umgang mit digitalen Medien im Spannungsfeld zwischen Schutzraum und Schlüsselkompetenz. In A. Wilmers, C. Anda, & C. &. Keller, Bildung im digitalen Wandel. Die Bedeutung für das pädagogische Personal und für die Aus- und Fortbildung (S. 31-56). Münster: Waxmann.
  • Rat der kulturellen Bildung. (2019). Alles immer smart: Kulturelle Bildung, Digitalisierung, Schule. 
  • Reichert-Garschhammer, E. (2020). Nutzung digitaler Medien für die pädagogische Arbeit in der Kindertagesbetreuung. Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Abgerufen am 04. 06 2024.
  • Spanhel, D. (2017). Medienpädagogische Kompetenz als Grundqualifikation in pädagogischen Berufen. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 2 (Jahrbuch Medienpädagogik), S. 13-26.
  • Theunert, H. & Demmler, K. (2007). Medien entdecken und erproben. Null- bis Sechsjährige in der Medienpädagogik. In H. (. Theunert, Medienkinder von Geburt an. Medienaneignung in den ersten sechs Lebensjahren. (S. 91-118). München: Kopaed Verlag.
  • Tillmann, A. & Hugger, K.-U. (2014). Mediatisierte Kindheit – Aufwachsen in mediatisierten Lebenswelten. In A. Tillmann, & S. &.-U. Fleischer, Handbuch Kinder und Medien (S. 31-46). Wiesbaden: Springer Verlag.
  • Wirth, A., Lohr, A., Sailer, M. & Frank, N. (2023). Digitales Niemandsland? Eine Bestandsaufnahme der digitalen Bildung an deutschen Kindertageseinrichtungen. In K. &. Scheiter, Bildung für eine digitale Zukunft (S. 27-55). Wiesbaden: Springer Nature.