Digitalisierung eröffnet Bildungschancen für alle Kinder

Professorin Uta Hauck-Thum von der Universität München spricht im Interview über digitale Wege zu mehr Chancengerechtigkeit

Chancen auf Bildung sind heute unmittelbar auch mit dem Zugang und Gebrauch von digitalen Medien verknüpft. Wie genau und was getan werden kann, um über die Digitalisierung der Schulen für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, darüber spricht Prof. Dr. Phil. Uta Hauck-Thum im Interview.

Redaktion: Frau Professorin Hauck-Thum, Sie untersuchen in Ihrem Forschungsprojekt „Digitale Chancengerechtigkeit“ den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Nutzung digitaler Medien im Unterricht. Welche Wechselwirkung haben Sie festgestellt?

Prof. Dr. phil. Uta Hauck-Thum: Auch über 20 Jahre nach der ersten PISA-Studie besteht im internationalen Vergleich noch immer ein Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status von Kindern und ihrer erreichten Kompetenz im Lesen. Auch im Umgang mit digitalen Medien zeigen sich Bildungsunterschiede zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen aus niedrigen sozioökonomischen Herkunftsmilieus. Dies liegt weniger an der digitalen Ausstattung. Ungleichheitsverstärkend wirken vielmehr die unterschiedliche Mediennutzung, -aneignung und -erziehung und vor allem Passungsprobleme mit schulischen Anforderungen. Dadurch entwickeln sich in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft mehr oder weniger vorteilhafte Konsequenzen in Bezug auf den individuellen Bildungserfolg. 

Im herkömmlichen Unterricht ist vor allem fachlich-spezialisiertes Wissen gefordert. Individuelle Kenntnisse von Kindern, vor allem solche, die außerhalb der Schule in digitalen Umgebungen erworben wurden, werden weitgehend ignoriert und als bildungsfern deklariert. Im Spannungsfeld zwischen bildungsbürgerlichem Anspruch und den komplexen Anforderungen einer zunehmend digitalisierten Welt ist es unerlässlich, die Kenntnisse der Kinder sensibel wahrzunehmen und bei der Gestaltung von Lehr- und Lernsettings stärker zu berücksichtigen. 

„Kinder brauchen von Anfang an mehr Gelegenheiten, um sich in offenen analogen und digitalen Räumen mit relevanten Themen auseinanderzusetzen“

Prof. Dr. phil. Uta Hauck-Thum

Redaktion: In der Beschreibung ihres Projekts steht, das Forschungsteam sehe "Digitalisierung von Schule und Unterricht … als Chance Unterricht grundsätzlich neu zu denken.“ Was meinen Sie genau damit? Welche (ungehobenen) Potentiale stecken im Bereich Digitalisierung gerade in Bezug auf Chancengerechtigkeit?

Hauck-Thum: Beim Umgang mit digitalen Medien in der Schule geht es nicht darum, herkömmlichen Unterricht digital zu optimieren, sondern Lehr- und Lernprozesse so zu gestalten, dass daraus Kompetenzen erwachsen können, die nötig sind, damit Kinder an der digitalen Welt teilhaben können. 

Kinder brauchen von Anfang an mehr Gelegenheiten, um sich in offenen analogen und digitalen Räumen mit relevanten Themen auseinanderzusetzen und sich gemäß ihrer individuellen Lernvoraussetzungen zu beteiligen. Der Umgang mit digitalen Medien bietet besondere Potentiale für die Zusammenarbeit, den co-kreativen Austausch und die gemeinsame Reflexion. Gerade für Kinder, die über vielfältige Vorerfahrungen mit digitalen Medien verfügen, steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gelegenheiten zum Lernen auch nutzen können.

Forschungsprojekt Digitale Chancengerechtigkeit

Das Forschungsprojekt Digitale Chancengerechtigkeit (DCG) ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Es untersucht, wie die soziale Herkunft im Lese- und Literaturunterricht der Grundschule Lernprozesse, Kompetenzerwerb und Motivation in Abhängigkeit von den verwendeten Medien beeinflusst. Innerhalb des Projekts werden kooperative Lernphasen im Lese- und Literaturunterricht in acht dritten Klassen an zwei Grundschulen in München videographiert. Neben Unterschieden im Interaktionsverhalten der Schüler:innen im Rahmen literarischer Gespräche überprüfen die Forscher Lesekompetenz und Lernmotivation in Abhängigkeit der verwendeten Medien und der sozialen Herkunft. Weiterhin wird analysiert, ob die Nutzung digitaler Medien im Unterricht deren Verwendung in der Freizeit beeinflusst. Die Erkenntnisse sollen dafür genutzt werden, digitale Formate so zu gestalten und einzusetzen, dass herkunftsspezifische Bildungsungleichheiten verringert und Chancengerechtigkeit und Bildungsteilhabe von allen Schüler:innen verbessert werden können. Das Projekt läuft noch bis Oktober 2023.

Redaktion: Können Sie konkret ein Beispiel nennen, wie die Nutzung digitaler Medien im Unterricht zum Abbau von herkunftsspezifischer Bildungsungleichheit beitragen kann?

Hauck-Thum: In unserem Projekt versuchen wir, Kindern im Lese- und Literaturunterricht durch den Einsatz unterschiedlicher medialer Formate zum Lesen und vor allem zur Auseinandersetzung mit Literatur anzuregen. Wir wollen keine Bücher ersetzen, sondern Kindern vielfältige Beteiligungsoptionen am Leseprozess und am Gespräch über Literatur eröffnen, damit auch die mit wenig Leseerfahrung die Möglichkeit haben, ihre fachspezifischen Kompetenzen im Lesen weiterzuentwickeln und zudem zukunftsrelevante Kompetenzen zu erwerben, die aus der gemeinschaftlichen Bearbeitung und Reflexion relevanter Problemstellungen erwachsen. 

Konkret setzen sich die Kinder nach dem Erlesen des Textes im Lesetandem mit textnahen Herausforderungen auseinander. Beispielsweise lesen die Kinder die Geschichte der Olchis von Erhard Dietl. Die Herausforderung lautet: Olchidrache ist plötzlich krank geworden und kann die Olchis nicht wie geplant in den Urlaub fliegen. In Kleingruppen überlegen sich die Kinder dann eine Lösung für das Problem. Das Ergebnis stellen sie gemeinsam mit Hilfe einer App am Tablet als Trickfilm dar. Digitale Medien regen sie dabei zur Zusammenarbeit und zum Austausch an. Vor allem medienaffine Kinder können hier in besonderem Maß an ihre Vorerfahrungen und Kenntnisse anknüpfen und sich einbringen. Davon profitieren eben nicht nur die guten Leserinnen und Leser sondern alle Kinder.

Redaktion:  In der Pandemie, in der vielerorts digitaler Unterricht der Standard war, haben vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und sozial benachteiligtem Umfeld gelitten, die Schere ist hier zum Teil noch weiter aufgegangen. Hat Digitalisierung also auch das Potential, die Chancengerechtigkeit zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft zu verschlechtern?

Hauck-Thum: Wenn Kinder keinen Zugang zu Bildung haben, ist das immer schlecht. Die Ausstattung sollte deshalb für alle Kinder gleich sein. Darüber hinaus sollten aber auch die Lern- und Förderangebote an die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder angepasst werden. Ansonsten werden sich Bildungsungleichkeiten auch im Umgang mit digitalen Medien weiter verschärfen.

„Es sind nicht nur Fragen der Ausstattung und Infrastruktur zu klären.“

Prof. Dr. phil. Uta Hauck-Thum

Redaktion: Was muss sich im deutschen Bildungssystem tun, damit Digitalisierung in Bezug auf die Chancengerechtigkeit ihr volles Potential entfalten kann?

Hauck-Thum: Die Digitalisierung im deutschen Bildungssystem kann nur gelingen, wenn sie mit weitreichenden Transformationsprozessen einhergeht. Kinder stehen aktuell und zukünftig vor großen Herausforderungen, die sie aufgrund ihrer Komplexität nur dann bewältigen können, wenn sie unabhängig von ihrem sozialen Umfeld zukunftsrelevante Kompetenzen erwerben und Teilhabe erleben. Der sich daraus ergebende Auftrag an die Schulen ist deshalb weitaus umfassender als es den Anschein hat.

Es sind nicht nur Fragen zu Ausstattung und Infrastruktur zu klären. Auch Organisationsstrukturen, Rollen und Verantwortungen, Unterrichtsgegenstände, Themen, Lehr- und Lernprozesse, Lernorte und vor allem Prüfungsformate müssen gleichermaßen weitergedacht werden. Den Schulleitungen kommt dabei eine zentrale Bedeutung bei der Gestaltung dieses Wandels zu. Deshalb ist es wichtig, dass bei den Fortbildungsangeboten für diese Berufsgruppe, der Erwerb entsprechender Kompetenzen im Fokus steht. Von politischer Seite sind darüber hinaus entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, die neben einer verlässlichen Infrastruktur die Entscheidungsfreiheit von Schulleitungen erhöhen und organisatorische und unterrichtsstrukturelle Veränderungen erlaubt. 

Redaktion: Frau Professorin Hauck-Thum, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Uta Hauck-Thum ist Professorin für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Bevor sie in die Wissenschaft wechselte, war sie 8 Jahre Lehrerin an verschiedenen Münchner Grund- und Mittelschulen. Sie beschäftigt sich in Forschung und Lehre mit schulischen Transformationsprozessen im Kontext von Digitalität und Nachhaltigkeit.