„Empirische Erkenntnisse sind höchst relevant für schulpolitische Entscheidungen”
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, über anstehende Herausforderungen im Schulwesen und den Beitrag der Bildungsforschung, diese zu meistern.
Lehrkräftemangel, Kompetenzverlust bei Grundschüler:innen, Digitalisierung – das sind nur einige der Herausforderungen für die Kultusministerkonferenz (KMK). An ihrer Seite steht seit etwa anderthalb Jahren die Ständige Wissenschaftliche Kommission. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit? Kommt der wissenschaftliche Rat bei der Politik an? Und wie gelingt eine fruchtbare Kooperation? Darüber spricht die Präsidentin der KMK, Karin Prien, im Interview.
Redaktion: Frau Prien, mit ihrem „Konstanzer Beschluss" hat die KMK die sogenannte „Empirische Wende" eingeleitet. Das war vor 25 Jahren. Wie bedeutsam sind heute empirische Erkenntnisse aus der Wissenschaft für schulpolitische Entscheidungen und die Arbeit der KMK?
Karin Prien: Empirische Erkenntnisse aus der Wissenschaft sind höchst relevant für schulpolitische Entscheidungen sowohl auf Länderebene als auch auf Ebene der KMK. Zahlreiche Maßnahmen wurden bereits basierend auf empirischen Erkenntnissen initiiert: Dazu gehören etwa die Verständigung auf Bildungsstandards für die grundlegenden Fächer von der Grundschule bis zur allgemeinen Hochschulreife, Maßnahmen zur Förderung der Sprach- und Lesekompetenz in Grundschule und Sekundarstufe I, Standards für die Lehrerbildung, und ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung, die Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark" und nicht zuletzt die Einrichtung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission selbst.
Redaktion: Neben anderen Einrichtungen liefert auch das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wichtige empirische Daten, die für die Schulpolitik relevant sind. Welche Konsequenzen zieht die KMK aus den Ergebnissen des aktuellen IQB-Trends und dem dort diagnostizierten Kompetenzverlust bei Grundschülerinnen und Grundschülern?
Prien: Wir nehmen die IQB-Daten immer zum Anlass, uns in der Kultusministerkonferenz gemeinsam und auch auf Länderebene spezifisch über erforderliche politische Konzepte und Maßnahmen auseinanderzusetzen. Das werden wir auch diesmal tun und beraten, welche Konsequenzen geeignet sind. Ohne einer noch anstehenden gründlichen Analyse der Ergebnisse vorweggreifen zu wollen, sind sich die Länder in der Kultusministerkonferenz einig, dass die Förderung aller Schülerinnen und Schüler noch effizienter gestaltet werden muss. Besonderes Augenmerk muss auf die Basiskompetenzen Schreiben, Lesen und Mathematik gelegt werden, die für den weiteren Bildungserfolg in Schule, Ausbildung, Studium und Beruf entscheidend sind und erst eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Erwachsenenalter erlauben.
Die aktuellen Ergebnisse zeigen, dass die leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler besonderer Unterstützung bedürfen. Dies ist voranzutreiben, allerdings ohne die Förderung der anderen, auch der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler zu vernachlässigen. Zugleich muss aber auch eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die Schule hinaus angestoßen werden, die die sozialen Disparitäten grundsätzlicher beleuchtet. Wenn die sozialen Lagen so entscheidend für den Bildungserfolg sind, dann sind nicht nur schulpolitische Maßnahmen, sondern auch sozialpolitische Strategien zur Verbesserung der Gesamtlage erforderlich. Aktuelle Programme, etwa LeMaS, Schule macht stark, Aufholen nach Corona, Bildung durch Sprache und Schrift - BiSS-Transfer, führen wir fort und ergänzen Sie langfristig durch das im Koalitionsvertrag des Bundes angestoßene Startchancen Programm.
„Die Politik ist seit mehreren Jahren mit der Sicherung des Lehrkräftebedarfs befasst. Sie hat längst erkannt, dass verschiedene Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Bedarf an Lehrkräften kurz-, mittel- und langfristig zu decken.“
Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz
Redaktion: Es gibt Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher, die sagen, dass es sich hier nicht um einen coronabedingten Abwärtstrend handelt, sondern dass seit Jahren ein genereller Leistungsverlust in den Schulen festzustellen ist. Wie sehen Sie das?
Prien: Trotz überdurchschnittlicher Leistungen Deutschlands in PISA 2018 sind die Leistungen in Deutschland leicht rückläufig. Auch die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends zeigen auf Bundesebene für die Sekundarstufe I im Fach Deutsch eine Leistungsabnahme seit 2009, für den Gymnasialbereich Leistungsabnahmen in Mathematik und den Naturwissenschaften seit 2012, für den Grundschulbereich Leistungsabnahmen in Deutsch und Mathematik bereits seit 2011.
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für rückläufige Ergebnisse seit 2016. Die Zusammensetzung der Schülerschaft hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert, nicht nur durch die Fluchtbewegungen 2015/2016, sondern auch sonst sind kontinuierlich deutlich mehr Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund – auch aus der EU, zum Beispiel aus Rumänien und Bulgarien – in den Schulen. Durch fortschreitende Inklusion sind auch mehr Schülerinnen und Schüler im allgemeinen Schulsystem, die besondere Förderung und Unterstützung benötigen und auch zieldifferent, also ohne entsprechenden Schulabschluss, unterrichtet werden. Dies beeinflusst die Ergebnisse. Selbst wenn Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht in die Ergebnisse mit eingehen, sind Lehrkräfte mit steigender Inklusion mit zunehmender Heterogenität konfrontiert. Hinzu kommen Strukturreformen im Schulbereich wie Einführung neuer Schularten, der Wechsel von G9 zu G8. Diese sind noch nicht hinreichend konsolidiert. Des Weiteren gibt es Hinweise auf negative Entwicklungen in den allgemeinen kognitiven Grundlagen, etwa Konzentrationsvermögen und Exekutivfunktionen bei Kindern bereits bei der Einschulung. Die Stressresilienz hat abgenommen. Hier sehen wir einen Auftrag an die Forschung zur genaueren Klärung und zum Entgegenwirken auch beim Thema psychische Gesundheit. Kinder sind heute anders als früher.
Redaktion: Über solche Fragen wird ja auch am 17. Oktober auf der Fachtagung „IQB-Bildungstrend - Perspektiven nach Corona" diskutiert. Sie werden teilnehmen, ein Grußwort sprechen und im Podium diskutieren. Was erwarten Sie sich von dieser Veranstaltung, was kann sie leisten?
Prien: Die Fachtagung „IQB-Bildungstrend – Perspektiven nach Corona" bietet eine Plattform, auf der Vertreterinnen und Vertreter aller 16 Länder sowie die Bundesebene aus den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends gemeinsam wichtige Konsequenzen ableiten können, die für die Schülerinnen und Schüler aller Länder zu positiven Ergebnissen führen. Die anstehenden Herausforderungen wie die Senkung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg, Digitalisierung, die demographische Entwicklung, Fachkräfte- und Lehrkräftemangel oder die Verbesserung der Schul-Infrastruktur erfordern eine gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen offene und proaktive, auf strategische und langfristige Lösungen orientierte Haltung von allen an Schule Beteiligten und dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld von Schule und Bildungssystem. Wir brauchen Kontinuität und eine gemeinsame strategische Ausrichtung der bildungspolitischen Programme und Förderkonzepte und entsprechend eine Kontinuität in der Bildungspolitik. Es müssen Synergien zwischen den Ländern geschaffen und die Herausforderungen gemeinsam angegangen werden. Dafür brauchen wir neben den politischen Gremien auch solche Austauschformate wie die Fachtagung zum IQB-Bildungstrend.
Redaktion: Über Corona hinaus, bei welchen Themen und schulpolitischen Herausforderungen ist für sie die Unterstützung der Bildungsforschung besonders wünschenswert?
Prien: Die Unterstützung der Bildungsforschung ist insbesondere wünschenswert bei Themen wie der gezielten Förderung aller Potenziale von Kindern und Jugendlichen. Auch wäre es gut, die frühkindliche Bildung stärker zu adressieren: Maßnahmen müssen früher ansetzen und frühkindliche Bildung muss konsequent weiterentwickelt werden. Dazu gehört auch eine frühe Diagnostik, um individuelle Lernausgangslagen besser zu berücksichtigen Wünschenswert ist auch eine bessere Evaluation und ein besserer Einsatz von Maßnahmen im Bildungsbereich: Dazu gibt es eine Anregung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, die in ihrem Impulspapier vom 10. Mai 2022 für die Entwicklung von Leitlinien für das Monitoring und die Evaluation von Förderprogrammen im Bildungsbereich plädiert. Wir müssen wissen, welche Programme und Maßnahmen über die Länder hinweg wirksam sind.
Vor dem Hintergrund aktueller Krisen sollten Resilienz und Gesundheit von Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Schulleitungen gestärkt werden. Hier benötigen wir mehr Forschung dazu, was wirkt. Wir brauchen eine neue Qualität im Dialog zwischen Schulpraxis, Bildungsforschung, Bildungspolitik und Fortbildungsinstituten. Die Probleme sind komplex und mehrdimensional und so müssen wir sie bearbeiten. Die Akteure haben unterschiedliche Logiken. Wir brauchen eine wissenschaftliche Übersetzungsfunktion.
Redaktion: Der Lehrkräfte-Mangel ist momentan eine der größten Herausforderungen der Bildungspolitik der kommenden Jahre und stellt die Bundesländer schon jetzt vor enorme Herausforderungen. Bildungsforscherinnen und -forscher haben bereits vor Jahren davor gewarnt. Hat die Politik hier nicht ausreichend hingehört?
Prien: Auch die Politik ist seit mehreren Jahren mit der Sicherung des Lehrkräftebedarfs befasst. Sie hat längst erkannt, dass verschiedene Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Bedarf an Lehrkräften kurz-, mittel- und langfristig zu decken. Zusatzbedarfe erwachsen auch aus politischen Entwicklungen, die nicht immer zu den Zeiträumen passen, die für die qualifizierte Ausbildung von Lehrkräften nötig sind. Exemplarisch verweise ich auf den erhöhten Bedarf durch den Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung von Kindern im Grundschulalter, die schulische Inklusion auf der Grundlage der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie die zusätzliche Unterstützung von Schülerinnen und Schülern und ihrer Schulen in herausfordernden sozialen Lagen. Und auch weltpolitische Veränderungen tragen maßgeblich zu einem deutlich erhöhten Bedarf bei. Neben den fast 190.000 ukrainischen Kindern und Jugendlichen, die seit März 2022 an unseren Schulen aufgenommen wurden, steigt aktuell auch wieder die Zahl der Menschen, die aus anderen Krisenregionen in Deutschland Zuflucht suchen. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang aber auch die steigende Zahl zugewanderter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten der EU, deren Kinder in unseren Schulen integriert werden.n. Die Akteure haben unterschiedliche Logiken. Wir brauchen eine wissenschaftliche Übersetzungsfunktion.
„Die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission sind äußerst wertvoll und spielen eine große Rolle bei Entscheidungen innerhalb der KMK.“
Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz
Die KMK hat Vorschläge entwickelt, wie das Bild von den Fächern, in denen der Lehrkräftemangel besonders groß ist, insbesondere Mathematik und Naturwissenschaften, so verändert werden kann, dass mehr Abiturientinnen und Abiturienten ein Lehramtsstudium in einem dieser Fächer aufnehmen und infolgedessen das Angebot erhöht wird. Zudem verstärken die Länder ihre Informationen zum Lehrerberuf im Rahmen der Berufs- und Studienorientierung an den zur Allgemeinen Hochschulreife führenden Bildungsgängen. Dazu gehört, die gesellschaftliche Bedeutung sowie die Attraktivität des Lehrerberufs herauszustellen und Aufstiegsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Länder haben zudem zur kurz- und mittelfristigen Absicherung der Unterrichtsversorgung vielfältige Maßnahmen ergriffen, wie die Aufstockung von Teilzeitlehrkräften, die Abordnung von Lehrkräften eines anderen Lehramtstyps, die Ausweitung der Qualifizierung sogenannter Seiten- beziehungsweise Quereinsteiger, die Ausweitung von Weiterbildungsmaßnahmen, mit denen im Dienst befindliche Lehrkräfte eine Lehrbefähigung für eine andere Schulart oder ein weiteres Unterrichtsfach erwerben können, Abordnungen, Einsetzen bereits pensionierter Lehrer oder die Flexibilisierung von Einstellungsterminen.
Mit Blick auf die Entlastung von Lehrkräften haben die Länder bislang verschiedene Vorhaben umgesetzt, wie Anrechnungsstunden für ältere Lehrkräfte, Ausweitung der Stellen für Büro- und Verwaltungskräfte zur Entlastung von Lehrkräften bei Verwaltungsaufgaben, Ausweitung der Schulsozialarbeit zur Entlastung im konkreten Unterrichtsgeschehen und die Aufwertung der Stellen von Grundschullehrkräften.
Redaktion: Die KMK hat inzwischen ein eigenes Beratungsgremium eingerichtet, die sogenannte Ständige Wissenschaftliche Kommission. Welche Rolle spielen die Empfehlungen dieser Bildungsexpertinnen und -experten bei Entscheidungen innerhalb der KMK? Können Sie dazu ein Beispiel geben?
Prien: Die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission sind äußerst wertvoll und spielen eine große Rolle bei Entscheidungen innerhalb der KMK. Ein Beispiel ist die Stellungnahme der SWK zur Weiterentwicklung der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt" vom 7. Oktober 2010. Diese hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der ergänzenden Empfehlung „Lehren und Lernen in der digitalen Welt", die von der 376. KMK am 9. Dezember 2021 beschlossen wurde.
Redaktion: Mit welcher Schlagzeile würden Sie die bisherige Zusammenarbeit der KMK mit diesem bildungswissenschaftlichen Gremium beschreiben und können Sie bitte kurz erläutern, warum?
Prien: „Bildungswissenschaft meets Bildungspolitik: eine win-win-Situation” Die Zusammenarbeit zwischen SWK und KMK ist nicht nur für die Bildungspolitik in unserem Land sehr befruchtend. In der gemeinsamen Diskussion der durch die SWK bearbeiteten Themen erfolgt eine beidseitige Annäherung an die jeweils „andere Seite" mit ihren unterschiedlichen Logiken und Zielsetzungen. Die Bildungspolitik profitiert ungemein von den Hinweisen, Anregungen und Empfehlungen der SWK. Das haben die ersten Empfehlungen zum Umgang mit der Pandemie oder den Herausforderungen des Bildungssystems, die durch die Fluchtbewegungen des Ukraine Kriegs ausgelöst wurden, und zuletzt das Gutachten zur Digitalisierung deutlich gezeigt. Für diese Empfehlungen sind wir sehr dankbar. Die Bildungswissenschaft profitiert aber gleichfalls von der Zusammenarbeit: Sie erhält Impulse zur Ausrichtung ihrer Forschung und erfährt eine gewisse Erdung durch die Zusammenarbeit und den Dialog mit der Kultusministerkonferenz.
Redaktion: Frau Prien, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Karin Prien ist Bildungsministerin des Landes Schleswig-Holstein und Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Sie ist zudem eine von fünf stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU.