Engagiert, erschöpft, enttäuscht: Impulse aus der Jugendstudie für die Schulpraxis
Was die aktuelle Jugendstudie aus Baden-Württemberg über die Lebensrealität von Jugendlichen aussagt – und welche Konsequenzen Schulen daraus ziehen können

Die Lebenswelt von Jugendlichen hat sich im vergangenen Jahrzehnt stark verändert, sie sind in Zeiten von großen Krisen und Unsicherheiten groß geworden. Die aktuelle Jugendstudie des baden-württembergischen Kultusministeriums, an der mehr als 2800 Neuntklässlerinnen und Neuntklässler teilgenommen haben, zeigt: Jugendliche sind heute engagiert, vielfältig interessiert – stehen aber zugleich unter erheblichem psychischen Druck und blicken mit wachsender Skepsis auf politische Prozesse. Was heißt das für Schulen? Welche Erkenntnisse sind für Lehrkräfte und Schulleitungen relevant? Ein Überblick.
1. Wille zum Engagement ist da – wenn der Stress ihn nicht schluckt
Die Baden-Württemberger Studie offenbart eine erfreuliche Seite der Jugend: Mindestens zwei Drittel der Jugendlichen engagieren sich mindestens auf eine Art, der Großteil davon in einem Verein (68 Prozent). Aber auch in Gemeinden oder religiösen Gruppen (21 Prozent), in der Freiwilligen Feuerwehr oder beim Rettungsdienst (9 Prozent) übernehmen sie Verantwortung. Weit vorne beim Engagement stehen auch Aufgaben in der Schule wie Gruppen oder AGs (22 Prozent) und die SMV (15 Prozent).
Allerdings benannten die Jugendlichen auch, was sie von Engagement abhält. “Schulstress war der mit Abstand am häufigsten genannte Grund (33 Prozent)”, heißt es in den Studienergebnissen. Wer mit Hausaufgaben und Prüfungen ausgelastet ist, hat oft nicht mehr viel Kapazitäten für anderes. Schulen sollten daher nicht nur das Engagement von Schülerinnen und Schülern aktiv fördern, sondern auch kritisch in den Blick nehmen, welche Freiräume sie ihnen noch lassen.
2. Mitbestimmung funktioniert – aber nur in manchen Bereichen
Wo dürfen Schüler:innen mitreden? Die neue Jugendstudie zeigt: Bei der Gestaltung des Klassenzimmers, der Sitzordnung oder Klassenfahrten werden Jugendliche berücksichtigt: 42 Prozent durften zur Gestaltung des Klassenzimmers ihre Meinung sagen, 31 Prozent aktiv mitbestimmen; bei der Sitzordnung waren es 47 Prozent beziehungsweise 27 Prozent; bei der Auswahl von Klassenfahrtzielen 39 beziehungsweise 25 Prozent.
Bei Unterrichtsthemen, Hausaufgaben oder Leistungsbewertung hört die Beteiligung aber meist auf. Dabei biete “insbesondere die Festlegung von Regeln im Unterricht eine unmittelbare Gelegenheit zum Erproben demokratischer Prozesse im Schulalltag, so dass hier eine hohe Mitbestimmungsrate zu erwarten wäre”, heißt es im Bericht. Die Antworten der Schülerinnen und Schüler spiegelten allerdings “eine andere Wirklichkeit wider”: In allen Schularten gab die größte Gruppe der Jugendlichen an, bei Unterrichtsthemen nicht mitbestimmen zu können. An Gymnasien und Realschulen waren dies mit jeweils 53 Prozent sogar mehr als die Hälfte, an Gemeinschaftsschulen 42 Prozent und an Werkrealschulen/Hauptschulen 36 Prozent. Auch die eigene Meinung zu den Regeln im Unterricht konnten nur 37 Prozent der Jugendlichen an Gymnasien äußern (an Werkrealschulen/Hauptschulen waren das 36 Prozent, an Gemeinschaftsschulen 31 Prozent, an Realschulen 29 Prozent).
3. Psychische Last macht sich bemerkbar – vor allem bei Mädchen
Covid, Kriege, Klima, Terror und Rechtsextremismus – die heutige Jugend wächst in herausfordernden Zeiten auf, und das macht sich bemerkbar: Eine weitere zentrale Erkenntnis der Studie ist die hohe psychische Belastung vieler Jugendlicher, wobei Mädchen signifikant stärker betroffen waren: “So hatten die Mädchen beispielsweise häufiger schlecht geschlafen als die Jungen, waren häufiger deprimiert oder niedergeschlagen, fühlten sich häufiger einsam, waren häufiger traurig und hatten seltener bewusst das Leben genossen”, heißt es im Ergebnisbericht der Jugendstudie.
Und: Nicht jeder junge Mensch hat eine/n Ansprechpartner:in für seine Sorgen: “Dass sie niemanden haben, dem oder der sie sich anvertrauen können, gaben 7,6 Prozent an. Zusätzlich gaben 24 Prozent an, sich an niemanden wenden zu wollen und ihre Sorgen und Belastungen lieber mit sich selbst auszumachen.“ Schulen können hier ansetzen und mit einfachen Zugängen zu Ansprechpersonen wichtige Hilfe leisten: etwa durch Schulsozialarbeit, Vertrauenslehrkräfte – und grundsätzlich eine offene Haltung und Gesprächskultur, welche die mentale Gesundheit und Wohlbefinden der Schüler:innen ernst nimmt.
4. Berufsvorstellungen – oft konkret und nicht ohne Klischees
Viele Jugendliche haben bereits recht konkrete Berufsvorstellungen. Knapp die Hälfte der Befragten strebt ein Studium an, 55 Prozent der Jugendlichen geben an, bereits über ihre berufliche Zukunft nachgedacht “und eine ungefähre Idee zu haben, in welche Richtung es gehen soll”, legt der Ergebnisbericht dar. Dabei zeigt sich auch ein gewisses Muster: Mädchen tendieren zu sozialen, Jungen zu technischen, handwerklichen oder unternehmerischen Berufen.
Schulen können dabei helfen, diese Muster wahrzunehmen – und aufzubrechen: Durch geschlechtersensible Berufsorientierung können Vorbilder identifiziert, Klischees hinterfragt und Jugendlichen ein breites Spektrum an Möglichkeiten für die professionelle Entwicklung aufgezeigt werden. Die Jugendlichen gaben zudem an, dass Eltern eine wichtige Rolle bei der Berufsorientierung bieten. Schulen tun daher gut daran, sie als Partner in den Orientierungsprozess einzubinden.
5. Demokratie-Frust – und der Wunsch nach mehr Mitsprache
Nur noch rund ein Viertel der Jugendlichen ist mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zufrieden. Die Unzufriedenheit hat sich gegenüber der letzten Erhebung fast verdoppelt – und ist an Gymnasien mit 41 Prozent besonders hoch. In der aktuellen Jugendstudie sagten nur 27 Prozent der Schülerinnen und Schüler, dass sie mit der Demokratie in Deutschland zufrieden oder sehr zufrieden sind. “Dies ist eine deutliche Abnahme im Vergleich zur Jugendstudie Baden-Württemberg 2022, wo knapp die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler (47 Prozent) äußerst oder eher zufrieden mit der Demokratie in Deutschland war”, heißt es im Studienergebnis.
Gleichzeitig stehen rund 80 Prozent der Jugendlichen grundsätzlich hinter der Demokratie als Staatsform. Ein steigender Anteil der befragten Schüler:innen wünscht sich zudem mehr Mitspracherechte: 78 Prozent der Befragten wollen, dass Bürgerinnen und Bürger regelmäßig direktdemokratisch involviert werden. Zwei Jahre zuvor lag dieser Wert 13 Prozentpunkte niedriger bei 65 Prozent.
Dieses Ergebnis ist ein deutliches Zeichen dafür, wie gefragt und notwendig politische Bildung und Teilhabe bereits in frühen Schuljahren ist. Mit Raum für Diskussionen, Projekte wie Jugendparlamente oder die Einbeziehung in schulische Entscheidungen können Kinder und Jugendliche entscheidende positiv prägende Demokratieerfahrungen machen.
Fazit: Schule nicht nur als Lern-, sondern auch als Lebensort
Die Jugendstudie Baden-Württemberg 2024 zeichnet das Bild einer engagierten, reflektierten und zugleich belasteten Altersgruppe. Sie könnte von Schulen profitieren, in denen ihr unter den fordernden Bedingungen dieser Welt zugehört wird, in denen sie beteiligt wird und in denen ihre Probleme ernst genommen werden. Dafür müssen Lehrkräfte und Schulleitungen Schule als einen Ort gestalten, der die belasteten heranwachsenden Menschen nicht nur bildet, sondern auch ein Stück weit in ihren Bedürfnissen und Nöten auffängt.
Zum Thema: