„Es gibt kein Bundesland, das ansatzweise Chancengerechtigkeit erzielt“

Florian Schoner vom ifo-Institut erläutert die Studie zu ungleich verteilten Bildungschancen in den Bundesländern

Die familiäre Herkunft und der sozio-ökonomische Hintergrund haben in Deutschland einen besonders großen Einfluss auf den Bildungserfolg. Das belegen wissenschaftliche Studien seit vielen Jahren. Jetzt hat das ifo-Institut erstmals untersucht, inwieweit die Bildungschancen auch damit zu tun haben, in welchem Bundesland man lebt. Nach Meinung von Mitautor Florian Schoner erfüllt kein Bundesland auch nur ansatzweise den Anspruch auf Chancengerechtigkeit.

Redaktion: Herr Schoner, Sie haben in Ihrer Studie gemessen, wie gerecht die Bildungschancen von jungen Menschen in Deutschland sind und die einzelnen Bundesländer miteinander verglichen. Wann können wir von gerechten Bildungschancen sprechen?

Florian Schoner: Bildungschancen sind dann gerecht, wenn die Chancen auf Bildungserfolg nicht vom familiären Hintergrund oder der sozialen Herkunft abhängen. Übertragen auf unsere Studie bedeutet dies, dass der Gymnasialbesuch in den Gruppen mit niedrigerem und höherem familiärem Hintergrund gleich sein sollte. Das ist er jedoch nicht: Deutschlandweit besuchen rund 27 Prozent der Kinder mit niedrigerem Hintergrund das Gymnasium, während dies auf 60 Prozent der Kinder mit höherem Hintergrund zutrifft. Bei Chancengerechtigkeit sollte dieser Unterschied nicht 33, sondern null Prozentpunkte betragen.

Redaktion: Wie kann man Bildungschancen messen, was genau haben Sie untersucht?

Schoner: Es gibt mehrere Möglichkeiten, Bildungschancen zu messen. In unserer Studie vergleichen wir die Wahrscheinlichkeit, mit der Kinder mit niedrigem beziehungsweise höherem familiärem Hintergrund ein Gymnasium besuchen. Die Chancengerechtigkeit messen wir dann auf zwei verschiedene Weisen: die Chancendifferenz, also der absolute Unterschied der beiden Wahrscheinlichkeiten, und das Chancenverhältnis, also der Quotient der beiden Wahrscheinlichkeiten. Die Chancendifferenz ignoriert dabei die Größe des Gymnasialsektors in einem Bundesland, während das Chancenverhältnis diesen Faktor implizit berücksichtigt. Beide Maße sind deshalb weder richtig noch falsch. Mit beiden Maßen ist der Befund aber gleich: In Deutschland ist es leider nicht gut um die Chancengerechtigkeit bestellt. Gleichzeitig gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern im Hinblick darauf, wie weit sie von Chancengerechtigkeit entfernt sind.

Studie des ifo-Zentrums: „Ungleiche Bildungschancen: Ein Blick in die Bundesländer“

Die neue Studie „Ungleiche Bildungschancen: Ein Blick in die Bundesländer“ des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik vergleicht die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs für Kinder mit niedrigerem Hintergrund (weder ein Elternteil mit Abitur noch oberes Viertel der Haushaltseinkommen) mit der für Kinder mit höherem Hintergrund (mindestens ein Elternteil mit Abitur und/oder oberes Viertel der Haushaltseinkommen). Das Ergebnis: Die Ungleichheit der Bildungschancen ist in allen Bundesländern sehr stark ausgeprägt. Bei Betrachtung des relativen Unterschieds weisen Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz etwas bessere Chancenverhältnisse auf (zwischen 52 und 54 Prozent), Bayern und Sachsen schlechtere (38,1 beziehungsweise 40,1 Prozent). Bei Betrachtung des absoluten Unterschieds ist die Chancendifferenz in Sachsen und Sachsen-Anhalt (40,1 beziehungsweise 38,1 Prozentpunkte) besonders stark ausgeprägt, in Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz (26,4 beziehungsweise 28,4 Prozentpunkte) am geringsten. Die Daten der Studie beruhen auf dem Mikrozensus 2018 und 2019. Für eine Stichprobe von 102.005 Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren liefert er Informationen über den Gymnasialbesuch und den familiären Hintergrund. Die berücksichtigten Fälle liegen in Bremen bei 947 Kindern (kleinste Zahl), in Nordrhein-Westfalen bei 23.022 (größte Zahl).

Redaktion: Inwieweit ist die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, ein guter Gradmesser für gerechte Bildungschancen?

Schoner: Der Gymnasialbesuch ist nur einer von vielen möglichen Indikatoren. Dieser ist jedoch in unseren Daten gut beobachtbar, leicht interpretierbar und bedeutsam für die wirtschaftlichen Chancen eines Kindes. Wir sagen damit nicht, dass der Gymnasialbesuch für jedes Kind die richtige Entscheidung ist. Die Chance darauf darf jedoch nicht vom Elternhaus abhängen.

„Die Bundesländer sollten sich vor allem auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen konzentrieren, die aus unterschiedlichen Gründen schlechtere Lernvoraussetzungen haben.“

Florian Schoner

Redaktion: Ihre Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Was sind die Gründe für die ungleiche Verteilung von Bildungschancen?

Schoner: Das lässt sich gar nicht so leicht beantworten, denn der erreichte Grad an Bildungschancen hängt nämlich nicht davon ab, wie hoch die Gymnasialbesuchsquote pro Bundesland ist. Wir finden auch keinen Zusammenhang zwischen der Chancengleichheit und dem Anteil an Kindern pro Bundesland mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund oder Migrationshintergrund. Auch mit den bundeslandspezifischen Bildungsausgaben oder dem Bruttoinlandsprodukt besteht kein Zusammenhang. Es muss also an anderen Faktoren liegen – etwa daran, wie gezielt benachteiligte Kinder in den einzelnen Bundesländern unterstützt werden. So lässt sich beispielsweise feststellen, dass eine spätere Aufteilung der Kinder auf weiterführende Schularten mit größerer Chancengleichheit korrespondiert. Das gleiche gilt für zahlreiche Programme, mit denen benachteiligte Kinder und Jugendliche gezielt gefördert werden. Die haben nachweislich positive Effekte. Die Bundesländer sollten sich daher vor allem auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen konzentrieren, die aus unterschiedlichen Gründen schlechtere Lernvoraussetzungen haben.

Redaktion: In Ihrem Ranking kommen Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz auf das Siegerpodest. Bayern und Sachsen sind die Schlusslichter. Was machen die einen besser als die anderen?

Schoner: Leider ist die Verteilung von Bildungschancen in allen Bundesländern sehr ungerecht. Es gibt also kein Bundesland, das ansatzweise Chancengerechtigkeit erzielt. Zwar gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern, aber es existiert in Deutschland kein Datensatz, der es zulässt, die einzelnen schul- und familienpolitischen Maßnahmen der Bundesländer vergleichend zu betrachten. Auffallend ist jedoch, dass gerade in Berlin und Brandenburg, wo die Aufteilung auf weiterführende Schulen erst nach der sechsten und nicht bereits nach der vierten Klasse geschieht, ein höheres Maß an Chancengerechtigkeit feststellbar ist.

Redaktion: Wir wissen seit langem, dass in Deutschland der sozioökonomische und familiäre Hintergrund die Bildungschancen junger Menschen entscheidend bestimmt. In der Diskussion wird dann häufig unseren Schulen beziehungsweise unserem Schulsystem Versagen attestiert. Ist das gerechtfertigt, inwieweit können Schulen diesen Zusammenhang überhaupt ausgleichen?

Schoner: Es stimmt. Ungleiche Bildungsergebnisse gibt es bereits im frühkindlichen Alter. Das Problem beginnt also bereits weit vor Schulbeginn. Dennoch haben Schulen den Auftrag und auch die Möglichkeit, Chancenungerechtigkeiten auszugleichen. So kann dort etwa eine intensive Sprachförderung stattfinden, beispielsweise durch tägliches verpflichtendes Lesetraining, wie dies in Hamburg der Fall ist. Auch die Unterstützung von Schulleitungen an Brennpunktschulen kann helfen, die Schulentwicklung und -qualität zu verbessern, was in der Regel auch mit einer nachhaltigeren Förderung benachteiligter Kinder einhergeht.

Redaktion: Sie nennen in Ihrer Studie acht konkrete Handlungsmöglichkeiten, mit denen die Bildungschancen für Kinder aus unterschiedlichen familiären Verhältnissen effektiv ausgeglichen werden könnten. Wie sehen die aus?

Schoner: Wir beschreiben Handlungsmöglichkeiten entlang der gesamten Bildungsbiographie. Generell gilt: je früher, desto besser. Wichtig dabei ist, dass die Maßnahmen gezielt auf benachteiligte Kinder und Jugendliche ausgerichtet werden. Wir empfehlen, frühkindliche Förderprogramme auszubauen, Eltern und Schulen in herausfordernden Lagen zu unterstützen, datenbasierte Sprachförderung einzusetzen, Kinder erst später auf weiterführende Schulen aufzuteilen und Mentoring-Programme für benachteiligte Jugendliche auszubauen.

„Als Gesellschaft sollten wir daher den Anspruch haben, dass jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft sein Potenzial entfalten kann.“

Florian Schoner

Redaktion: Welche Best Practice Beispiele sind für Sie dabei besonders erwähnenswert?

Schoner: Ein effektives Unterstützungsprogramm ist das Chancenreich-Programm für Eltern von Neugeborenen in Herford. Es besteht aus kostenlosen Elternkursen, Hausbesuchen und gesundheitlichen Vorsorgeuntersuchungen für die Kinder. Bei erfolgreicher Teilnahme erhalten die Familien einen Geldbonus in Höhe von 500 Euro. Damit werden gerade benachteiligte Familien vom Programm erreicht. Erwähnenswert ist auch die verbindliche Sprachförderung in Hamburg, die für alle Kinder mit Förderbedarf bereits im Vorschulalter beginnt und über die gesamte Schulzeit datenbasiert fortgeführt wird. Auch im Jugendalter kann noch viel für Chancengerechtigkeit getan werden: So zeigt das Mentoring-Programm „Rock Your Life!“, dass regelmäßige Treffen zwischen studentischen Mentorinnen und Mentoren und benachteiligten Kindern und Jugendlichen an Hauptschulen positive Effekte auf die spätere Arbeitsmarktbeteiligung der Jugendlichen haben. Es wäre wichtig, dass solche Programme flächendeckend eingeführt werden.

Redaktion: Wie beurteilen Sie ganz allgemein die bildungspolitischen Bestrebungen um gerechtere Bildungschancen in Deutschland?

Schoner: Bildung ist ein wichtiger Grundstein für die persönliche und wirtschaftliche Entwicklung. Als Gesellschaft sollten wir daher den Anspruch haben, dass jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft sein Potenzial entfalten kann. Das Thema muss also dringend prominenter diskutiert werden. Initiativen wie das Startchancen-Programm sind insofern begrüßenswert, als sie auf benachteiligte Kinder und Jugendliche abzielen und Förderung nicht nach dem „Gießkannenprinzip“ geschieht. Allerdings muss sichergestellt werden, dass die Unterstützung verstetigt wird und in ausreichender Höhe stattfindet.

Redaktion: Wie optimistisch sind Sie, dass sich in absehbarer Zeit etwas zum Besseren bewegt?

Schoner: Ein Vergleich über die letzten zehn Jahre zeigt: An der Ungleichheit der Bildungschancen hat sich kaum etwas getan. Das ist ernüchternd, gerade wenn man bedenkt, wie wichtig Bildung für Wirtschaft und Gesellschaft ist. Durch unsere Studie möchten wir dazu beitragen, dass das Thema endlich die gebührende Aufmerksamkeit erhält.

Redaktion: Herr Schoner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Florian Schoner ist Volkswirt und promoviert derzeit am ifo-Zentrum für Bildungsökonomik in München. Seine Forschung dreht sich um Kompetenzen, insbesondere wie sie im Bildungssystem entstehen und welche Erträge sie am Arbeitsmarkt haben. Zudem forscht er zur Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem.