Förderbedarf gerecht zuweisen: „Wir brauchen eine präzise Definition“

Weil die Feststellungsverfahren für sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf oft willkürlich sind, hat NRW ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben. Über die Ergebnisse spricht Co-Autor Prof. Gino Casale im Interview.

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die sonderpädagogische Unterstützung benötigen, ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Über den Bedarf an Förderung entscheidet ein Feststellungsverfahren. Ein Gutachten im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen kommt nun zu dem Schluss: Die Kriterien für dieses Verfahren entsprechen nicht dem Stand der Forschung.

Redaktion: Herr Casale, das Land Nordrhein-Westfalen hat im Jahr 2022 den „Wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung" in Auftrag gegeben. Welchen Stellenwert hat das Thema derzeit für Schulen und die Bildungspolitik? 

Prof. Dr. Gino Casale: Bundesweit steigt in vielen Förderschwerpunkten die Anzahl der Feststellungsverfahren und auch die der bescheinigten Förderbedarfe. Allein diese rein quantitative Entwicklung deutet darauf hin, dass das Thema im Schulsystem aktuell von Bedeutung ist. Aus meiner Perspektive haben sowohl die Bildungspolitik als auch die Schulen erkannt, dass das aktuelle System nicht mehr tragbar ist und es effizientere und inklusiver gedachte Verbesserungen in der Feststellung sonderpädagogischer Förderbedarfe braucht.

Redaktion: Wie haben sich die Zahlen von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den letzten Jahren entwickelt?

Casale: Von 2016/2017 bis zum Schuljahr 2021/2022 verzeichnet die Schulstatistik der Kultusministerkonferenz einen Anstieg von knapp 540.000 auf knapp 600.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf – das entspricht einer Steigerung von etwa 10 Prozent. Natürlich gibt es förderschwerpunktspezifische Unterschiede. Im Förderschwerpunkt Lernen beispielsweise sinken die Zahlen bundesweit. In allen anderen Schwerpunkten ist jedoch ein deutlicher Zuwachs festzustellen.

Sonderpädagogische Förderschwerpunkte

Durch ein sonderpädagogisches Feststellungsverfahren wird geprüft, welche spezifische Unterstützung ein Kind aufgrund von Beeinträchtigungen seiner Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten benötigt, um erfolgreich an Unterricht und Schulleben teilhaben und Bildungsziele erreichen zu können.
Dafür werden sieben sonderpädagogische Förderschwerpunkte unterschieden:

  • Lernen
  • Sprache
  • Emotionale und soziale Entwicklung
  • Hören 
  • Sehen
  • Geistige Entwicklung
  • Körperliche und motorische Entwicklung

Redaktion: Welche Hauptursachen sehen Sie für den Anstieg der Schülerzahlen mit sonderpädagogischem Förderbedarf?

Casale: Hierzu gibt es leider keine belastbaren Zahlen. Ein bildungspolitischer Faktor ist sicherlich die Umsetzung der inklusiven Bildung seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009. Seit dem Jahr steigen die Zahlen an Förderbedarfen besonders stark. Gleichzeitig hat auch die Belastung von Lehrkräften sowie die Ressourcenknappheit aufgrund des Lehrkräftemangels zugenommen. Deshalb kann die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs besonders herausfordernder Schülerinnen und Schüler die Hoffnung auf Entlastung stärken. 

„Das Thema Diversität erhält mehr Raum. Dadurch wächst auch die gesellschaftliche Lobby für Schüler:innen mit Förderbedarf.“

Prof. Dr. Gino Casale

Redaktion: Wie hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den letzten Jahren verändert?

Casale: Da sich gesellschaftliche Perspektiven und Haltungen auf politische Entscheidungen und damit auch mittelbar auf das Schulsystem auswirken, ist das eine nicht zu unterschätzende Frage. Im Grunde gibt es zwei Antworten. Auf der einen Seite gibt es empirische Befunde aus der Forschung zu Einstellungen, Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Behinderungen beziehungsweise Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Diese zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Lern- und Verhaltensstörungen negative Reaktionen aus ihrer Umwelt erhalten. Diese können von Lehrkräften und Peers stammen, aber auch von den Eltern der Mitschülerinnen und Mitschüler. Hier zeigt sich eine Form von gesellschaftlichem Ableismus – eine systemimmanente Diskriminierung aufgrund einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten.

Auf der anderen Seite stelle ich in meinem privaten und beruflichen Alltag fest, dass das Bewusstsein für diese Problematik wächst und auch die gesamtgesellschaftliche Bereitschaft zunimmt, sich damit zu befassen . Zudem erhält das Thema Diversität mehr Raum. Insbesondere bei jungen Menschen wird Diversität als etwas Positives und Wünschenswertes betrachtet und der Umgang mit „Behinderung“ hat sich verändert. Dadurch wächst auch die gesellschaftliche Lobby für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf.

Redaktion: Im April dieses Jahres ist das Gutachten zum „Wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung" erschienen. Zu welchem Ergebnis kommen Sie und Ihre Mitautorinnen und Mitautoren?

Casale: Ich kann hier vor allem für Nordrhein-Westfalen sprechen. Die Definitionen der einzelnen Förderbedarfe sind dort leider sehr breit, wenig präzise und kaum evidenzbasiert – wir sprechen von einer „Forschungs-Praxis-Lücke“. Außerdem zeigen wir auf, dass unklar ist, was im Rahmen der Feststellungsverfahren eigentlich passiert und welche Kriterien für die Diagnose zugrunde gelegt werden. Für den zeitlichen Ablauf konnten wir teilweise regionale Unterschiede feststellen. Das deutet darauf hin, dass einige Regierungsbezirke standardisierter beziehungsweise effizienter arbeiten als andere.

„Bestimmte schulische Probleme bei Kindern und Jugendlichen treten nur deshalb auf, weil sich das System noch nicht gut genug auf sie eingestellt hat.“

Prof. Dr. Gino Casale

Redaktion: Folgerichtig fordern Sie und Ihre Mitautorinnen und Mitautoren in Ihrem Gutachten eine möglichst präzise Definition für Bedarfe an sonderpädagogischer Unterstützung. Was bedeutet das genau?

Casale: Ein sonderpädagogischer Förderbedarf ist eine formale, bildungspolitische Kategorie, die den Anspruch auf eine Ressource regelt – nämlich eine hochwertige sonderpädagogische Förderung in der Schule. Logisch – nicht inhaltlich – lässt sich dies mit der Diagnose einer Krankheit vergleichen. Nehmen wir als Beispiel Diabetes. Hier ist die Diagnose erforderlich, damit bestimmte evidenzbasierte Hilfen und Therapien angeboten werden können, unter anderem die Gabe von Insulin. Die Voraussetzung dafür ist, dass eindeutig geregelt ist, wann und unter welchen Umständen die Diagnose festgestellt wird . Ähnliches sollte auch für den sonderpädagogischen Förderbedarf gelten: Allen Beteiligten muss klar sein, wann die Kategorie vergeben wird und unter welchen Umständen dies nicht der Fall ist. Dabei sollte ein soziales Verständnis von Behinderung zugrunde gelegt werden, das anerkennt, dass bestimmte schulische Probleme bei Kindern und Jugendlichen nur deshalb auftreten, weil sich das System noch nicht gut genug auf sie eingestellt hat. Auf dieser Basis kann anschließend konkretisiert werden, welche Hilfen an die Diagnose gekoppelt sind. 

Redaktion: Welche Vorteile hat eine klare Definition für Lehrkräfte auf der einen und Schülerinnen, Schüler und Eltern auf der anderen Seite?

Casale: Lehrkräfte erhalten Handlungssicherheit und Struktur in einer aktuell sehr herausfordernden Arbeitssituation. Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern erhalten Sicherheit bezüglich der Ansprüche für ihre schulische Förderung. Zudem sind sie weniger der Willkür einzelner Entscheidungsträger ausgesetzt.

Redaktion: Zusätzlich zu einer präzisen Definition empfehlen Sie eine Standardisierung der Feststellungsverfahren. Wie gelingt dies in einem föderalen System?

Casale: Wir empfehlen, die Standardisierung auf Landesebene umzusetzen und stärker zu kontrollieren. Das bedeutet aber auch, dass die Feststellungsdiagnostik vereinfacht werden muss, zum Beispiel über eine digitalisierte Umsetzung. Ich bin mir sicher, dass dies auf Landesebene gelingen kann. Bundeslandübergreifend bezweifle ich dies allerdings, da die Voraussetzung einer technischen Standardisierung eine programmatische Standardisierung ist und diese über alle Bundesländer hinweg nicht vorliegt.

Redaktion: Welche Bereiche liegen laut Forschung darüber hinaus im Argen, wenn es um die sonderpädagogische Förderung geht?

Casale: In der sonderpädagogischen Praxis existieren nach wie vor vier zentrale Lücken, die es zu schließen gilt. Zum einen ist dies die „Service-Lücke“: Viele Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen sind im System unterversorgt. Die „Professionalisierungslücke“ zeigt den großen Qualifizierungsbedarf in verschiedenen sonderpädagogischen Handlungsfeldern für aktuell in der Praxis tätige Lehrkräfte. Mit der „Forschungs-Praxis-Lücke“ beschreiben wir den noch unzureichenden Einsatz evidenzbasierter Diagnose- und Fördertools in der Praxis. Dabei zeigt sich auch, dass Regelschulen ihr Potenzial für eine wirksame und präventiv ausgerichtete inklusive Förderung von Schülerinnen und Schülern noch lange nicht ausgeschöpft haben. Zuletzt verweist die „Bedarf-Ziel-Lücke “ auf die fehlende Passung von (meist durch die Lehrkräfte gesetzten) Förderzielen und den tatsächlichen Bedarfen der Kinder und Jugendlichen. 

„Ein inklusives Bildungssystem sollte die Bedürfnisse aller Lernenden jedoch auch ohne eine solche Etikettierung erfüllen.“

Prof. Dr. Gino Casale

Redaktion: In Ihrem Gutachten sprechen Sie zudem von einem derzeit existierenden „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“. Können Sie diesen Zwiespalt näher beschreiben? 

Casale: Aktuell sind die Ressourcen für sonderpädagogische Förderung an einen formalen Bedarf sonderpädagogischer Unterstützung gekoppelt. Ein inklusives Bildungssystem sollte die Bedürfnisse aller Lernenden jedoch auch ohne eine solche Etikettierung erfüllen. Allgemeine Schulen haben einen Auftrag zur Prävention und zur individuellen Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Dazu zählen hinreichende Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten ebenso wie personelle Ressourcen und damit auch Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung – unabhängig von einem formal festgestellten Förderbedarf.

Redaktion: Wie gelingt der Weg von diesem Status quo hin zu der im Gutachten geforderten präventiven Unterstützung im allgemeinen Bildungssystem?

Casale: Die vollständige Auflösung jeder Form von Etikettierung ist zwar wünschenswert, real jedoch eine Utopie. Aus pädagogischer Perspektive gibt es hierfür allerdings durchaus Ansätze. Evidenzbasiert sind zum Beispiel mehrstufige Förderkonzepte. Dabei werden Schülerinnen und Schüler schulweit datengesteuert und kooperativ auf unterschiedlichen Stufen gefördert. Universelle Screenings überprüfen regelmäßig, ob eine Schülerin oder ein Schüler zusätzliche pädagogische Unterstützung benötigt. Das Konzept stammt aus den USA und wird zunehmend auch in Europa und auch in Deutschland erprobt. 

Studien hierzu zeigen, dass sich diese Methoden positiv auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auswirken und insgesamt weniger Förderbedarfe zugewiesen werden. Zudem zahlen sich diese Förderkonzepte volkswirtschaftlich aus, da sie die Integration vulnerabler Schülerinnen und Schüler in den Arbeitsmarkt fördern und kompensierende Folgekosten vermeiden. Allein, ein solches Konzept erfolgreich umzusetzen dauert mehrere Jahre und erfordert ein hohes Engagement der Lehrkräfte. Gelingt die Umsetzung, sind jedoch nicht nur die Entwicklungserfolge der Schülerinnen und Schüler höher, auch die Lehrkräfte berichten von einer größeren Zufriedenheit und weniger Belastung im Beruf.

Redaktion: Herr Professor Casale, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Gino Casale leitet den Forschungsbereich Methodik und Didaktik in den Förderschwerpunkten Lernen sowie emotionale und soziale Entwicklung an der Bergischen Universität Wuppertal.