Fördern statt Wiederholen – wie Hamburg das Sitzenbleiben erfolgreich abgeschafft hat

Dr. Britta Pohlmann vom IfBQ über die Grundidee der Lernförderung in Hamburg – und Indizien, dass sie funktioniert

Wer in Hamburg eine 5 oder 6 im Zeugnis stehen hat, muss nicht fürchten, die Klasse zu wiederholen – stattdessen darf er sich auf zusätzlichen Unterricht in der Lernförderung einstellen. Wie gut dieses Alternativmodell zum Sitzenbleiben funktioniert, darüber hat Dr. Britta Pohlmann vom Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung im Interview gesprochen.

Redaktion: Frau Dr. Pohlmann, könnten Sie uns kurz erläutern, was die Hauptziele der Maßnahme „Fördern statt Wiederholen“ in Hamburg sind? Was hat den Anstoß gegeben, dieses Förderkonzept zu entwickeln?

Dr. Britta Pohlmann: Verschiedene Studien haben über die Jahre immer wieder gezeigt, dass Sitzenbleiben nicht wirksam ist, dass sich also nachhaltig keine günstigen Effekte auf die Leistungsentwicklung zeigen – und schon gar nicht auf die Motivation der Schülerinnen und Schüler. Hamburg hat deshalb das Schulgesetz geändert, so dass bereits seit 2011 das Sitzenbleiben in Hamburger Schulen – bis auf einige Ausnahmefälle – grundsätzlich abgeschafft ist. Schülerinnen und Schüler mit schwachen, nicht ausreichenden Leistungen erhalten stattdessen eine kostenlose Lernförderung, die von der jeweiligen Schule organisiert wird. Das hat den Effekt, dass die Hürden für die Förderung sehr niedrig sind und Sorgeberechtigte sich nicht um Nachhilfe kümmern müssen.

Redaktion: Wie wurde die Lernförderung konkret umgesetzt?

Pohlmann: Es ist vorgesehen, dass die Lernförderung additiv stattfindet, in der Regel 90 Minuten wöchentlich zusätzlich zum Regelunterricht, so dass bei diesem nichts verpasst wird und Lernrückstände tatsächlich aufgeholt werden können. Sie findet in der Regel in kleinen Gruppen statt. Die meisten Förderkurse sind weniger als fünf Schülerinnen und Schüler groß, in größeren Stadtteilschulen und in den Kernfächern können es auch bis zu zehn Schülerinnen und Schüler werden. In der Gestaltung der Angebote sind die Schulen weitgehend frei, zum Teil werden eigene Lehrkräfte für die Förderung eingesetzt. Heute machen sie etwa ein Viertel des Personals in der Lernförderung aus. Des Weiteren kommen oftmals Lehramtsstudierende zum Einsatz, zum Teil auch gewerbliche Anbieter und an Gymnasien ältere Schülerinnen und Schüler aus der Oberstufe.

Redaktion: Das Institut für Bildungsforschung und Qualitätsentwicklung hat die Lernförderung seit Beginn durch ein Monitoring begleitet. Welche Entwicklung konnten Sie dabei feststellen?

Pohlmann: Wir ermitteln zunächst einmal die Anzahl und den Anteil der geförderten Schülerinnen und Schüler und wie er sich auf die Schulformen verteilt. Auch in welchen Fächern und in welchen Jahrgangsstufen besonders gefördert wird, können wir nachvollziehen. Insgesamt liegen wir bei etwa 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen der Lernförderung gefördert werden. Wenn ich diese Zahl nenne, wird oftmals fälschlicherweise angenommen, dass dies der Anteil der Lernenden sei, der sonst sitzen geblieben wäre. Das ist nicht richtig, denn die Lernförderung greift ja bereits, sobald in einem Fach eine schwache Note erzielt wird. Für das Sitzenbleiben braucht man bekanntlich in zwei Fächern die Note 5. Dieser Wert von 15 Prozent ist über die Jahre sehr stabil geblieben.

Redaktion: Wie lange bleiben die Schülerinnen und Schüler in der Lernförderung?

Pohlmann: Über 55 Prozent der Schülerinnen und Schüler können die Lernförderung nach einem Jahr verlassen. Weitere knapp 30 Prozent verlassen die Förderung nach zwei Jahren. Das ist für uns ein wichtiger Erfolgsindikator, auch wenn wir keine echte Referenz dazu haben, was mit Schülerinnen und Schülern passiert wäre, wenn sie keine Lernförderung erhalten hätten. Dennoch ist es plausibel, dass bei gleichbleibenden Entwicklungen die meisten Lernenden auf ihrer Note bleiben würden. Bei der Lernförderung können wir feststellen, dass 56 Prozent – in manchen Fächern wie Englisch ist es sogar noch mehr – nach einem Jahr ihre Note so deutlich verbessern, dass sie die Förderung verlassen können.

Redaktion: Erst kürzlich hat die Linksfraktion in Hamburg die Lernförderung allerdings stark kritisiert. Die ‚Erfolgsquote‘ sei mit lediglich 39 Prozent über alle Schulformen hinweg zweifelhaft – bei den Grundschulen seien sogar nur 23,78 Prozent ‚erfolgreich‘. Auf was beziehen sich diese Zahlen und wie passen sie mit den von Ihnen genannten zusammen?

Pohlmann: Uns erschließt sich nicht, woher diese Zahlen stammen. In unseren Monitoring-Berichten lassen sich keine entsprechenden Werte finden oder daraus berechnen. Wir berichten den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Lernförderung erfolgreich verlassen. Dies sind die bereits erwähnten gut 55 Prozent, wobei es zwischen den Fächern und Jahrgangsstufen Unterschiede gibt. So liegt die Quote in den unteren Jahrgangsstufen und damit in der Grundschule, wo häufig ein längerfristiger Förderansatz verfolgt wird, mit etwa 49 Prozent unter der Quote an den weiterführenden Schulen, wo die Quote etwa 60 Prozent beträgt.

Redaktion: Die Anfrage wies zudem auf fehlende Standards bei der Überprüfung der Qualität des Angebotes und der Qualifikation der Honorarkräfte hin, außerdem auf ein fehlendes Monitoring von Ausfall und Ersatz der Lernförderung. Sehen Sie da auch Verbesserungsbedarf?

Pohlmann: Die Schulen sind verantwortlich für die Gestaltung der Lernförderung, für die Sicherung der Qualität und die Qualifikation des eingesetzten Personals. Umsetzung und Erfolg der Lernförderung werden regelhaft zwischen Schulen und ihren Schulaufsichten auf Grundlage der vorliegenden Monitoringdaten reflektiert. Es ist richtig, dass wir im Rahmen des Monitorings keine Prozessdaten zur Qualität der Förderkurse erheben. Derartige Erhebungen – dies müssten idealerweise kriterienorientierte Unterrichtsbeobachtungen an einer repräsentativen Stichprobe der Lernförderkurse in den verschiedenen Jahrgangsstufen und Fächern sein – wären mit einem extremen Aufwand verbunden und im Rahmen eines Monitorings schlicht nicht leistbar. Wünschenswert wäre aber eine tiefergehende Evaluation, wobei auch Prozessdaten und Einschätzungen und Erfahrungen aller beteiligten Akteure einbezogen werden. Dies wäre ein größeres, ressourcenintensives Vorhaben, und man müsste vorher gut ausloten, welche Zielsetzungen eine derartige Evaluation verfolgen sollte und welche konkreten Fragestellungen damit beantwortet werden sollen.

Zum Ausfall und Ersatz der Förderkurse werden im Rahmen des Monitorings in der Tat keine Daten erhoben. Für die Schulen würde dies einen weiteren erheblichen Mehraufwand in der Dokumentation und Datenlieferung bedeuten. Bereits jetzt sind die Schulen mit vielen Verwaltungstätigkeiten und Berichtspflichten schon erheblich belastet, und es muss immer gut abgewogen werden, welche Daten man zu welchem Zweck erhebt und ob Aufwand und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Man bedenke, dass insgesamt rund 12.000 Lernförderkurse pro Schuljahr stattfinden, in einigen Schule mehrere Hundert Kurse, für die dann in jeder vorgesehenen Stunde Ausfall und Ersatz dokumentiert werden müsste. Das ist nicht nur datenschutzrechtlich nicht ohne, sondern auch hinsichtlich der Erhebung und Verarbeitung der Daten.

Redaktion: Wann und wie genau wird entschieden, ob ein Kind in die Lernförderung kommt?

Pohlmann: Dieser Entscheidungsprozess läuft prinzipiell entsprechend dem des Sitzenbleibens in anderen Bundesländern. Der Auslöser ist also die 5 oder 6 im Zeugnis, beziehungsweise die vorausgehende Zeugniskonferenz. Dann folgt ein Gespräch mit den Sorgeberechtigten und den Schülern und Schülerinnen, es wird eine Fördervereinbarung für die verbindliche Teilnahme geschlossen. Auf Grundlage der Monitoring-Ergebnisse und entsprechender Reflexionen dazu mit Beauftragten aus Behörde und Praxis wurde entschieden, dass man im Grunde etwas früher ansetzen sollte, wenn die Zeichen bei einem Schüler oder einer Schülerin schon auf 5 stehen, um ihnen rechtzeitig eine Kurskorrektur zu ermöglichen. Daher greift seit ein paar Jahren bereits bei schwach ausreichenden Noten die Lernförderung.

Redaktion: Was wissen Sie über die Schülerinnen und Schüler, die in die Lernförderung kommen? 

Pohlmann: Tatsächlich stellen wir hier die im deutschen Bildungssystem üblichen Ungleichheiten fest: Kinder mit Zuwanderungshintergrund, aus schwachen sozioökonomischen Elternhäusern finden sich vermehrt in der Förderung wieder. Es sind auch mehr Jungen als Mädchen. Wir können zudem über die in Hamburg übliche Kompetenzerhebung prüfen, ob ihre schlechte Note wirklich auf mangelhafte Kompetenzen zurückzuführen ist, oder ob hier eventuell eine Form der Benachteiligung oder besonderer Zuschreibungen vorliegt. Dabei können wir feststellen, dass die Notenvergabe und die daraus folgende Förderung weitestgehend kompetenzorientiert erfolgt. Das spricht grundsätzlich für die diagnostische Kompetenz der Hamburger Lehrkräfte. Wir finden lediglich einen leichten Bias beim Geschlecht. Das heißt, Jungen landen häufiger in der Förderung, als es ihre Kompetenzen erwarten lassen. Das ist allerdings ein größeres Phänomen: Wir stellen an vielen Stellen fest, dass Jungen bei gleichen Kompetenzen, die wir standardisiert messen, schlechtere Noten bekommen als Mädchen.

Redaktion: Gibt es bestimmte Gelingensbedingungen oder Faktoren, die eine höhere Wirksamkeit der Lernförderung andeuten?

Pohlmann: Wir können keine tieferen Einblicke in die Förderkurse nehmen und vor Ort Beobachtungen machen, das wäre zu aufwendig und komplex. Aber wir erfragen, welches Personal die Lernförderung durchführt und erheben viele aufschlussreiche Rahmendaten. Aus ihnen ergibt sich allerdings keine eindeutige Tendenz: Kleinere Kurse sind nicht unbedingt erfolgreicher, auch nicht jene, die von Lehrkräften geführt werden. Ein Indiz auf Basis einer kleineren Stichprobe deutet darauf hin, dass es sich nicht unbedingt günstig auf den Lernerfolg in der Förderung auswirkt, wenn Lehrkräfte, die den Regelunterricht machen, ebenfalls die Lernförderung betreuen. Aber insgesamt muss man feststellen, dass es kein eindeutiges Erfolgsrezept gibt, keinen Königsweg für die Lernförderung, sondern es immer auf die jeweiligen Rahmenbedingungen anzukommen scheint.

Redaktion: Gibt es Herausforderungen bei der Umsetzung, die sie identifizieren können?

Pohlmann: Da kommen im Rahmen des Monitorings beim Austausch mit den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren eine Reihe zur Sprache: Eine der ständigen Herausforderungen ist es, die richtigen Zeiten für die Förderung zu finden. Als Beispiel: Die Lernförderung um 17 Uhr als letzte Stunde im Ganztag anzusetzen ist natürlich eher schädlich für die Motivation, wenn etwa zur selben Zeit andere Mitschülerinnen und Mitschüler Fußball spielen. Die Frage ist also: Wie bekommt man die Lernförderung so in den Schulalltag integriert, dass nicht die attraktiven Angebote für die Geförderten wegfallen? Gerade leistungsschwache Schülerinnen und Schüler haben häufig in mehreren Fächern Förderbedarf. Auch hier muss eine gute Organisation gefunden werden, die Lernenden dürfen natürlich auch nicht überfordert werden. Eine weitere Herausforderung ist die sinnvolle Abstimmung mit anderen Förderangeboten wie der sonderpädagogischen Förderung oder der Sprachförderung. Auch die Organisation der Förderung durch externe Honorarkräfte wie Studierende ist nicht immer einfach. Hierbei müssen rechtliche Vorgaben berücksichtigt werden, wenn es darum geht, diese Förderkräfte in den Schulbetrieb einzubeziehen. Da geht es etwa um Fragen, welche personenbezogenen Dokumente, Daten und Ergebnisse ihrer Klientel von ihnen eingesehen werden dürfen, oder welche Materialien der Schule sie nutzen dürfen. Hier hat Hamburg inzwischen mit dem Lernförderportal IGEL (Zugang mit Gastzugang möglich) reagiert, das eine systematische Bereitstellung von Hinweisen, Formblättern und qualitätsgesicherten Materialien für Honorarkräfte bietet.

Redaktion: Halten Sie das Hamburger Modell der Lernförderung auch in anderen Bundesländern für gut umsetzbar?

Pohlmann: Ja, ich glaube, die Umsetzung kann auch an Schulen in anderen Bundesländern gut gelingen. Natürlich ist es in Hamburg eventuell leichter, Personal zu finden, etwa weil man als Universitätsstadt viele Lehramtsstudierende hat. Aber dennoch ist das Modell des Sitzenbleibens eindeutig überholt. Es ist nachgewiesen, dass Klassenwiederholungen wenig bringen, teuer sind, Kinder abhängen und demotivieren. Ich finde, davon müssen wir überall in Deutschland wegkommen. 

Redaktion: Frau Doktorin Pohlmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Britta Pohlmann ist Leiterin der Abteilung „Bildungsmonitoring und Systemanalysen“ am Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) in Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Evaluation von Sprachfördermaßnahmen, der Erfassung überfachlicher Kompetenzen und der Untersuchung von Fragen der Bildungsgerechtigkeit.

  • Hattie, J. (2009). Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses-Relating to Achievement. Routledge.
  • Klemm, K. (2009). Die Kosten des Sitzenbleibens: Eine bildungspolitische finanzwirtschaftliche Analyse. Bertelsmann Stiftung.