Fokus statt Abschweifen: So bleiben Schüler:innen im Unterricht bei der Sache

Schüler:innen, die gedanklich häufig abschweifen, erzielen schlechtere Prüfungsergebnisse. Gezielte Strategien gegen Mind Wandering können helfen, die Aufmerksamkeit zu stärken.

Gerade noch im Matheunterricht, schon denkt man darüber nach, welches Foto man später auf Instagram postet. Wenn Gedanken im Unterricht abschweifen, wird der Lernprozess unterbrochen. Schüler:innen, die häufig von Mind Wandering betroffen sind, erzielen oft schlechtere Ergebnisse in Prüfungen. Dr. Babette Bühler erläutert, wie sich Schüler:innen wieder auf ihre Aufgaben konzentrieren können.

Redaktion: Frau Dr. Bühler, Ihre Forschung befasst sich mit dem Phänomen des Mind Wandering. Was versteht man darunter?

Dr. Babette Bühler: Mind Wandering beschreibt das Phänomen, bei dem die Aufmerksamkeit von einer gegenwärtigen Aufgabe abschweift und sich auf Gedanken oder Themen konzentriert, die keinen Bezug zur aktuellen Tätigkeit haben. Im Alltag tritt Mind Wandering zum Beispiel auf, wenn man einen Text liest und plötzlich merkt, dass man den letzten Absatz nicht wirklich aufgenommen hat, sondern überlegt, was man zum Abendessen einkaufen muss. Oft drehen sich diese Gedanken um alltägliche Probleme, Tagträume oder den aktuellen Zustand, wie beispielsweise ein Hungergefühl.

Redaktion: Welche Auswirkungen haben abschweifende Gedanken im schulischen Kontext?

Bühler: Im Unterricht kommt es häufig vor, dass Lernende für längere Zeiträume hinweg in Gedanken abschweifen. Laut einer Metaanalyse von Wong und Kollegen aus dem Jahr 2023 geschieht dies in etwa 30 Prozent der Zeit, die für Lernaktivitäten aufgebracht wird. Wenn Lernende abschweifen, wird die Informationsverarbeitung unterbrochen. Studien zeigen, dass Mind Wandering messbare negative Auswirkungen auf die Leistung hat. Schülerinnen und Schüler, deren Gedanken häufiger abschweifen, schneiden in Tests und Lernaufgaben schlechter ab. Besonders kritisch ist dies, wenn die Gedanken bei komplexen Aufgaben abschweifen. Dann fällt es Lernenden zusehends schwer, Zusammenhänge zu verstehen und Wissen zu verknüpfen.

Redaktion: Sind abschweifende Gedanken also immer ein Problem?

Bühler: Entscheidend ist, ob die Gedanken inhaltlich mit der Aufgabe verknüpft bleiben. Wenn Schülerinnen und Schüler während einer Mathematikaufgabe über alternative Lösungswege nachdenken, kann dies das Verständnis vertiefen. Abschweifen zu völlig anderen Themen, wie es beim Mind Wandering der Fall ist, wirkt sich meist negativ aus.

Redaktion: Welche Faktoren beeinflussen wie häufig Schüler:innen während des Unterrichts zu anderen Themen abschweifen?

Bühler: Mind Wandering wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Auf individueller Ebene spielen Motivation und Interesse eine entscheidende Rolle: Je weniger relevant oder ansprechend der Lernstoff für die Schülerinnen und Schüler ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass ihre Aufmerksamkeit abschweift. Auch die kognitive Belastung ist ein wichtiger Faktor: Ist eine Aufgabe zu einfach, verlieren Lernende schnell das Interesse, während eine zu schwierige Aufgabe Überforderung verursachen kann, die ebenfalls zum Abschweifen führt.

Zusätzlich beeinflusst die Art der Lernaktivität das Abschweifen. Bei passiven Formaten wie Frontalunterricht oder Videolektionen schweifen Schülerinnen und Schüler häufiger ab als bei eigenständigem Lesen oder interaktiven Aufgaben. Interaktive Methoden, kurze aktivierende Elemente oder spielerische Ansätze könnten dabei helfen, die Aufmerksamkeit gezielter zu steuern und das Abschweifen zu verringern.

Weiterlesen: Langeweile: Wie sie entsteht und welche Strategien für Motivation sorgen 
Dr. Lisa Stempfer, Bildungspsychologin an der Universität Wien, erforscht, wann Schüler:innen Langeweile empfinden. Und wie sich diese gezielt verringern lässt.

 

Redaktion: In Ihrer Studie zeigten Sie Studierenden gezielt ein solches passives Format. Zu welchem Ergebnis kommt Ihre Studie?

Bühler: In unserer Studie untersuchten wir, wie häufig und in welcher Form Studierende beim Ansehen einer Videoaufzeichnung im Fernunterricht gedanklich abschweifen. Dazu unterbrachen wir die Videovorlesung in unregelmäßigen Abständen und fragten die Teilnehmenden, worauf ihre Aufmerksamkeit in diesem Moment gerichtet war. Falls sie abgeschweift waren, wollten wir zudem wissen, ob sie sich dessen bereits vor der Unterbrechung bewusst waren. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Mind Wandering in diesem Setting häufig auftritt: In 41 Prozent der Zeit waren die Teilnehmenden nicht mehr bei der Sache. 60 Prozent bemerkten ihr Abschweifen, steuerten aber nicht immer aktiv dagegen.

Redaktion: Lernende können sich also durchaus bewusst darüber sein, dass ihre Gedanken abschweifen?

Bühler: Das Abschweifen von einer Aufgabe beginnt oft unbewusst. Irgendwann wird den Lernenden jedoch bewusst, dass ihre Gedanken abgeschweift sind. In diesem Moment könnten sie sich dazu entscheiden, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die eigentliche Aufgabe zu richten. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen Menschen das Mind Wandering fortsetzen. In meiner Forschung unterscheide ich zwischen diesen beiden Zuständen, die ich als bewusstes und unbewusstes Mind Wandering bezeichne. Der Unterschied zwischen diesen Zuständen hat Auswirkungen darauf, wie wir zu einer Aufgabe zurückkehren und wie sich dies auf unsere Lernleistung auswirkt.

Redaktion: Können Sie das näher erläutern?

Bühler: Unbewusstes Mind Wandering kann problematisch sein, da es die Fähigkeit zur Selbststeuerung der Aufmerksamkeit beeinträchtigt und die Rückkehr zur Aufgabe erschwert. Im Gegensatz dazu kann bewusstes Mind Wandering unterschiedliche Ursachen haben. Es könnte beispielsweise als eine Form der Selbstregulation betrachtet werden, bei der Lernende ihre Aufmerksamkeit absichtlich von der Aufgabe abziehen, um etwa Frustration oder Langeweile zu bewältigen. Unsere Analysen zeigen, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob das Mind Wandering bewusst oder unbewusst stattfindet. Unbewusstes Abschweifen war mit schlechteren Leistungen bei Fakten- und Verständnisfragen verbunden, während bewusstes Mind Wandering vor allem das Verständnis beeinträchtigte.

Außerdem zeigte sich, dass Studierende, die häufig bewusst abschweiften, über weniger positive Emotionen während des Lernens berichteten. Dies könnte darauf hindeuten, dass bewusstes Mind Wandering eine adaptive Funktion hat, etwa als Reaktion auf Frustration oder mangelnde Motivation, und sich die Studierenden kurzfristig mental distanzieren, um langfristig ihre Lernmotivation aufrechtzuerhalten.

„Wenn Schülerinnen und Schüler intrinsisch motiviert sind und den Lernstoff als relevant empfinden, neigen sie weniger dazu, geistig abzuschweifen.“

Dr. Babette Bühler

Redaktion: Inwieweit lassen sich Ihre Ergebnisse auch auf das schulische Umfeld übertragen?

Bühler: Die Studienergebnisse lassen sich nicht direkt auf jüngere Kinder und den Präsenzunterricht übertragen, doch viele Mechanismen des Mind Wandering finden sich auch im schulischen Kontext. Studien zeigen, dass Mind Wandering in allen Altersgruppen auftritt, mit altersbedingten Unterschieden: Jugendliche und junge Erwachsene neigen häufiger dazu als ältere Erwachsene.

Eine Studie von Cherry et al. (2024) ergab, dass 8- bis 9-jährige Kinder beim Zuhören von Audio-Geschichten im Schnitt 24 Prozent der Zeit unaufmerksam waren, wobei 9 Prozent auf Mind Wandering entfielen. Kinder mit höheren Mind-Wandering-Raten erinnerten sich sowohl sofort als auch eine Woche später schlechter an die Inhalte, was auf eine früh einsetzende Beeinflussung des Lernens hinweist. Jüngere Kinder zeigten zwar weniger Mind Wandering als Erwachsene, wurden aber ähnlich häufig durch externe Reize abgelenkt. Unklar ist, wie bewusstes und unbewusstes Mind Wandering in diesem Alter wirkt. Da unsere Studie zeigt, dass diese Unterscheidung für die Unterstützung entscheidend ist, wäre weitere Forschung nötig, um kognitive Strategien zur Aufmerksamkeitsregulation bei Kindern zu untersuchen.

Redaktion: Welche Strategien können Lehrkräfte anwenden, um MindWandering zu minimieren?

Bühler: Eine effektive Methode ist die Integration von aktiven Lernformaten – Schülerinnen und Schüler schweifen seltener ab, wenn sie aktiv am Unterricht beteiligt sind, etwa durch Diskussionsrunden, Gruppenarbeiten oder interaktive Aufgaben. Auch regelmäßige Zwischenfragen oder kurze Tests können helfen, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Studien zeigen, dass solche Tests nicht nur die Konzentration fördern, sondern auch das Lernen verbessern. Die Gestaltung der Lernmaterialien spielt ebenfalls eine Rolle. Zu einfache oder zu schwierige Aufgaben begünstigen Mind Wandering. Lehrkräfte können daher durch adaptive oder differenzierte Aufgabenstellungen sicherstellen, dass die kognitive Belastung angemessen bleibt. Im Fernunterricht sollten Videoeinheiten durch interaktive Elemente wie kurze Reflexionsfragen oder Quizze unterbrochen werden.

Redaktion: Welche Hilfestellungen können für Schülerinnen und Schüler sinnvoll sein?

Bühler: Eine zentrale Herausforderung besteht darin, Schüler:innen zu helfen, ihre Aufmerksamkeit bewusst zu steuern und produktives Denken von hinderlichem Abschweifen zu unterscheiden. Dafür sollten sie Strategien zur Selbstregulation erlernen. Lehrkräfte können dies unterstützen, indem sie metakognitive Strategien vermitteln und gezielt Reflexionsphasen in den Unterricht einbauen.

Weiterlesen: Selbstreguliertes Lernen – ein Schlüssel für zeitgemäßen Unterricht 
Lehrkräfte entlasten, Schüler:innen befähigen – im selbstregulierten Lernen steckt viel Potential. Wie beides gefördert werden kann, erklärt Prof. Ferdinand Stebner im Interview

 

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Motivation. Wenn Schülerinnen und Schüler intrinsisch motiviert sind und den Lernstoff als relevant empfinden, neigen sie weniger dazu, geistig abzuschweifen. Lehrkräfte können dies fördern, indem sie Verbindungen zu realen Anwendungen des Lernstoffs herstellen oder durch adaptive Lernmethoden individuelle Interessen der Schülerinnen und Schüler ansprechen.

Redaktion: Frau Doktorin Bühler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Babette Bühler ist Postdoktorandin am Lehrstuhl für Human-Centered Technologies for Learning an der Technischen Universität München.

  • Bühler, B., Bozkir, E., Goldberg, P., Deininger, H., D'Mello, S., Gerjets, P., Trautwein, U. & Kasneci, E. (2024). Temporal dynamics of meta-awareness of mind wandering during lecture viewing: Implications for learning and automated assessment using machine learning. Journal of Educational Psychology.
  • Cherry, J., McCormack, T., & Graham, A. J. (2024). Listen up, kids! How mind wandering affects immediate and delayed memory in children. Memory & Cognition, 52(4), 909-925.
  • Schooler, J. W., Smallwood, J., Christoff, K., Handy, T. C., Reichle, E. D., & Sayette, M. A. (2011). Meta-awareness, perceptual decoupling and the wandering mind. Trends in cognitive sciences, 15(7), 319-326.
  • Wong, A. Y., Smith, S. L., McGrath, C. A., Flynn, L. E., & Mills, C. (2022). Task-unrelated thought during educational activities: A meta-analysis of its occurrence and relationship with learning. Contemporary Educational Psychology, 71, 102098.