Frühkindliche Sprachförderung mit Lyrik: Reime, Klangspiele und Poesie im Alltag

Wie poetische Sprache Kreativität, Diversität und soziale Kompetenzen bei Kindern stärkt

Poetische Sprache ist weit mehr als Unterhaltung: Schon in der frühen Kindheit eröffnet Lyrik Kindern spielerisch Zugänge zur Sprache, fördert Kreativität, stärkt Selbstbewusstsein und soziale Kompetenzen. Prof. Sandra Niebuhr-Siebert erklärt, welche Potenziale poetische Elemente für den Bildungsalltag bieten.

Redaktion: Frau Professorin Niebuhr-Siebert, wenn Sie an Situationen denken, in denen Kinder ganz in Sprache eintauchen, zum Beispiel beim Reimen, was beobachten Sie dabei? Welche sprachlichen oder entwicklungsbezogenen Prozesse lassen sich in diesen Momenten besonders gut erkennen? 

Prof. Sandra Niebuhr-Siebert: Wenn Kinder beim Reimen, Singen oder freien Erzählen ganz in Sprache eintauchen, zeigen sich besonders deutlich eine Reihe sprachlicher und entwicklungsbezogener Prozesse. Beim Singen und Reimen entwickeln sie ein Gefühl für Melodie, Betonung und Rhythmus, was die phonologische Bewusstheit stärkt, eine wichtige Vorläuferfähigkeit für Lesen und Schreiben. Gleichzeitig erweitern sie ihren Wortschatz, indem sie bekannte Wörter nutzen und neue Begriffe aus Liedern oder Geschichten übernehmen. 

Beim freien Erzählen experimentieren Kinder mit Satzstrukturen, Zeitformen und Verbindungen zwischen Ereignissen. Sie lernen, Geschichten zu strukturieren, Zusammenhänge herzustellen und Perspektiven zu wechseln. Sprache dient dabei auch als Denkwerkzeug: Kinder üben Abstraktion, logisches Denken und Perspektivübernahme. 

In sprachanregenden Situationen treten Kinder in Beziehung: mit anderen Kindern, mit Erwachsenen oder mit Figuren in Geschichten. Sie lernen, Gefühle auszudrücken, zuzuhören und sich mitzuteilen. Besonders im Erzählen oder Rollenspiel entfalten sie ihre Vorstellungskraft, erleben sich als kompetent und nutzen Sprache zur Selbstvergewisserung. So zeigt sich, wie eng Sprache mit Emotion, Beziehung und Denken verbunden ist und wie Kinder dadurch nicht nur sprachlich, sondern auch persönlich wachsen.

Redaktion: In Ihrer Forschung beschreiben Sie Sprache als „ästhetische Erfahrung". Was genau verstehen Sie darunter und welche Bedeutung hat dieses Verständnis für die sprachbildende Praxis in der frühen Kindheit? 

Niebuhr-Siebert: „Sprache als ästhetische Erfahrung“ betrachtet Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern als sinnlich, kreativ und emotional erfahrbares Medium. Wenn Sprache als schön und ausdrucksstark erlebt wird, steigt die Motivation, sich mitzuteilen und Neues auszuprobieren. Kinder entwickeln eigene Sprachstile, drücken Gefühle aus und entfalten sich kreativ, was Selbstbewusstsein und Identitätsbildung stärkt. Ästhetische Zugänge erleichtern zudem Kindern mit unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen, etwa mehrsprachig aufwachsenden, den Zugang zur Sprachgestaltung.

Redaktion: Welche Rolle spielt poetische Sprache für Diversität und Inklusion im frühkindlichen Bereich?

Niebuhr-Siebert: Die besondere Struktur und Ästhetik poetischer Sprache bietet alternative Zugänge zur Sprache, die über das rein Kognitive hinausgehen und den Druck von Normativität aufbrechen. Wiederkehrende Muster erleichtern das Verstehen und Einprägen, während musikalische Qualität, Lautmalerei und Klangspiele Kindern mit auditiven oder kognitiven Beeinträchtigungen Sprache über den Klang zugänglich machen – unabhängig vom Sprachniveau. 

Mehrsprachige Reime oder Lieder fördern Sprachbewusstsein und transkulturelle Kompetenz, ohne dass Deutschkenntnisse Voraussetzung sind. Die ästhetische Qualität poetischer Sprache – Musikalität, Bildhaftigkeit und Emotionalität – macht sie besonders zugänglich. Gemeinsames Sprechen, Singen und Reimen schafft soziale Nähe, emotionale Sicherheit und Zugehörigkeit. Poetische Verfahren unterstützen Empathie und Perspektivübernahme, etwa durch das Nachvollziehen von Gefühlen oder das Interpretieren poetischer Bilder. In interkulturellen Kontexten kann Lyrik Brücken zwischen Sprachen und Kulturen bauen. 

Darüber hinaus regt poetische Sprache zur kreativen Entfaltung an: Kinder erfinden eigene Reime, verändern Verse oder gestalten neue Texte, was ihre Selbstwirksamkeit stärkt und die Freude an Sprache fördert, ohne dass starre Regeln sie einschränken. 

Redaktion: Welche Wirkung hat die Mehrdeutigkeit von Gedichten auf Kinder? 

Niebuhr-Siebert: Das Spiel mit offenen Bedeutungen, Bildern und sprachlichen Rätseln ist ein zentrales Merkmal poetischer Sprache. Kinder reagieren darauf unterschiedlich, je nach Alter, sprachlicher Erfahrung und Anknüpfungspunkten. Bildhafte Sprache wie „sprechende Wolken“ oder „tanzende Wörter“ regt eigene Vorstellungen, Geschichten und Bedeutungen an und lädt zum Spielen, Umdeuten und Neuschreiben ein. 

Mehrdeutige Verse fördern das Sprachbewusstsein, eröffnen Perspektiven und zeigen, dass Sprache nicht immer eindeutig ist. Jüngere Kinder oder Kinder mit geringen Deutschkenntnissen profitieren von gemeinsamer Erschließung durch Bilder, Bewegung, Fragen oder Übersetzungen. Wichtig ist, eine offene Haltung zu wahren: Es gibt nicht „die eine“ Bedeutung, sondern viele mögliche, was kreative und sprachliche Entfaltung unterstützt.

Redaktion: Wie können pädagogische Fachkräfte poetische Elemente auch ohne spezielles Vorwissen in den Alltag integrieren? 

Niebuhr-Siebert: Viele Reime, Lieder, Sprachspiele und Rituale sind bereits Teil kindlicher Lebenswelten. Entscheidend ist eine offene, spielerische Haltung zur Sprache. Kurze Reime können Begrüßung, Übergänge oder Verabschiedung begleiten, Kinderlieder oder einfache Gedichte lassen sich täglich singen oder sprechen. Kinder experimentieren gerne mit Lauten und erfinden eigene Reime zu Bildern, Tieren oder Gefühlen. Entscheidend ist die Freude am sprachlichen Gestalten: Poetische Elemente brauchen kein Expertenwissen, wirken sinnlich, emotional und gemeinschaftlich und fördern Ausdruckslust und Sprachrhythmus.

Redaktion: Wie schätzen Sie die gesellschaftliche Bedeutung ein, Kindern frühzeitig Zugang zu Poesie zu ermöglichen?

Niebuhr-Siebert: Früher Zugang zu Poesie ist gesellschaftlich und bildungspolitisch wichtig, wird aber oft unterschätzt. Poetische Sprache fördert Sprachlust statt Leistungsdruck, ermöglicht spielerischen Zugang zur Sprache und unterstützt eigene Ausdrucksformen. Gedichte, Reime und Lieder vermitteln kulturelle Bedeutungen, eröffnen Perspektivwechsel und Empathie und stärken die Fähigkeit, sich selbst und andere sprachlich zu verstehen, was eine zentrale Kompetenz für demokratisches Zusammenleben ist.

Redaktion: Frau Professorin Niebuhr-Siebert, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 

Zur Person

Prof. Dr. Sandra Niebuhr-Siebert ist Prorektorin für Forschung und Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erziehung und Bildung im Kindesalter an der Humanistischen Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit und Sprachästhetisches Alltagshandeln.