Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype in der Schule?

Vorurteile haben Folgen. Was das im Schulalltag für Mädchen und Jungen bedeutet, erläutert Prof. Dr. Ursula Kessels in einem Gastbeitrag.

Seit Jahren versuchen Förderprogramme insbesondere die Vorurteile gegenüber Mädchen in MINT-Fächern abzubauen. Geschlechterstereotype reichen jedoch tiefer als eine Einteilung in typische „Mädchen- und Jungenfächer“. Wie sich Stereotype unterschiedlich auf Mädchen und Jungen auswirken und worauf Lehrkräfte im Klassenzimmer achten sollten, schildert Prof. Ursula Kessels von der Freien Universität Berlin in einem Gastbeitrag.

Was sind Stereotype und wie beeinflussen sie unsere Wahrnehmung und unser Verhalten?

Die Zuordnung von Menschen zu einem Geschlecht geschieht in der Regel unmittelbar und automatisch. Im Schulkontext bedeutet dies: Kinder und Jugendliche werden entweder zur Gruppe der Jungen oder der Gruppe der Mädchen zugeordnet. Dabei wird das vorhandene, schematische Vorwissen über die Merkmale dieser Gruppe – zum Beispiel  was als „typisch Mädchen“ oder als „typisch Jungs“ gilt – auf ein einzelnes Kind übertragen. Für die Interaktion mit diesem Kind hat das weitreichende Folgen: Die Zuordnung zu einem Geschlecht beeinflusst, welche Verhaltensweisen von diesem Kind erwartet werden und wie ihr oder sein Verhalten interpretiert und erinnert wird. Stereotype sind also generalisierte kognitive Schemata darüber, welche Eigenschaften die Mitglieder einer sozialen Gruppe aufweisen. Geschlechterstereotype sind entsprechend die innerhalb einer Kultur geteilten Annahmen darüber, welche Eigenschaften, Rollen und Verhaltensweisen männliche und weibliche Personen aufweisen. Zentral am Denken in Stereotypen ist ihre Verallgemeinerung: Es werden dabei allen Angehörigen der jeweiligen Gruppe die gleichen Eigenschaften zugeschrieben. Neben solchen beschreibenden Aspekten („Wie ist ein typisches Mädchen?“) enthalten Geschlechterstereotype aber auch normative Erwartungen, wie sich männliche und weibliche Personen verhalten sollten – nämlich in Übereinstimmung mit den jeweiligen Geschlechterstereotypen. 

Wo zeigen sich Geschlechterstereotype im Schulalltag?

Bei den Zuschreibungen, wem bestimmte Fächer eher leicht- oder aber schwerfallen, treten solche Geschlechterstereotype auch im Schulalltag zutage. Untersuchungen zeigen, dass mathematische und naturwissenschaftliche Fächer (MINT-Fächer) bei Erwachsenen und bei Schülerinnen und Schülern oft als „männliche“ Domäne gelten: Hier werden Jungen und Männer im Durchschnitt als begabter, kompetenter und interessierter eingeschätzt. Mädchen und Frauen werden im Gegenzug Vorteile in den Sprachen oder in Kunst zugeschrieben. Und je stärker ein Mädchen das Fach Mathematik als männliche Domäne ansieht, desto weniger ist es selbst am Fach interessiert. 

„Die Zuschreibungen, wie sich Mädchen und Jungen verhalten, wie sie lernen und Leistungen erbringen, sind Bestandteile der Geschlechterstereotype.“

Prof. Dr. Ursula Kessels

Aber es werden nicht nur die einzelnen Schulfächer geschlechtstypisiert, indem sie als „Jungenfächer“ (Physik, Sport, Mathematik) oder „Mädchenfächer“ (Kunst, Deutsch) gelten. Auch bestimmte Verhaltensweisen in der Schule gelten als entweder typisch für Jungen oder typisch für Mädchen. Diese Zuschreibungen, wie sich die Geschlechter jeweils verhalten, wie sie lernen und Leistungen erbringen, sind ebenfalls Bestandteile der Geschlechterstereotype. 

Welche Auswirkungen haben Stereotype auf die Schullaufbahn?

Werden Jungen und Mädchen zu ihrem schulischen Verhalten befragt, zeigen sich im Mittel Unterschiede: Mädchen geben im Vergleich zu Jungen an, mehr Zeit mit der Bearbeitung von Hausaufgaben zu verbringen und sich im Unterricht stärker zu beteiligen. Jungen dagegen behaupten von sich selbst, häufiger zu stören und zur Arbeitsvermeidung zu neigen. Diese Mittelwertsunterschiede in den Selbstbeschreibungen spiegeln sich auch in entsprechenden Stereotypen wider, also den verallgemeinernden Annahmen darüber, wie Mädchen und Jungen lernen. 

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den normativen Aspekt der Geschlechterstereotype im Gedächtnis zu behalten: Störverhalten und demonstrative Faulheit gelten als typisches Jungenverhalten. Dagegen wird starkes schulisches Engagement als typisch weibliches Verhalten angesehen. Wir haben hierzu mehrere Untersuchungen durchgeführt und konnten zeigen, dass Jugendlichen mehr Maskulinität zugeschrieben wird, wenn sie den Unterricht stören und nicht mitarbeiten, wohingegen Jugendlichen, die sich in der Schule anstrengen, viele feminine Eigenschaften zugeschrieben werden. 

„Es hält sich das Bild der männlichen intellektuellen Überlegenheit: Jungen hätten im Durchschnitt nur deshalb schlechtere Noten, weil sie nichts für die Schule tun.“

Prof. Dr. Ursula Kessels

Diese stereotypen Zuschreibungen haben sowohl für Mädchen als auch für Jungen negative Auswirkungen auf die Schullaufbahn. Jungen beispielsweise müssen stärker als Mädchen befürchten, negative Reaktionen von ihren Mitschülern zu erhalten, wenn sie sich in der Schule anstrengen – und tun entsprechend weniger beziehungsweise können sich nur „heimlich“ auf Arbeiten vorbereiten.

Inwieweit sind besonders Mädchen betroffen?

Für Mädchen haben diese Zuschreibungen ebenfalls weitreichende Konsequenzen. Zwar gilt schulisches Engagement gemeinhin als gute Voraussetzung dafür, etwas zu lernen und auch entsprechend gute Leistungen zu erbringen, aber das Stereotyp des „fleißigen Mädchens“ hat auch seine Schattenseiten.

Die guten Schulnoten von Mädchen werden damit vorrangig als Ergebnis großer Anstrengung und harter Arbeit angesehen und weniger als Resultat ihrer hohen Fähigkeiten. Wenn die (angeblich) „faulen Jungen“ bei Leistungsabfragen hingegen gut abschneiden, so gelten sie als besonders intelligent. Erhalten Jungen schlechte Noten, so liegt es gemäß Stereotyp nicht an ihren fehlenden Fähigkeiten, sondern an der fehlenden Anstrengung. Die eigenen schlechten Leistungen auf fehlende Anstrengung (und nicht auf fehlende Fähigkeiten) zurückzuführen, ist eine Attribution, die dem Selbstwert dient. So profitieren die Jungen in psychologischer Hinsicht von dem Mythos der „braven Mädchen und faulen Jungen“.

Durch diesen Stereotyp werden die derzeit – im Durchschnitt – besseren Schulleistungen der Mädchen insgesamt abgewertet, denn es wird unterstellt, dass sie lediglich aus dem viel größeren Einsatz und Fleiß der Mädchen resultieren. Gleichzeitig hält sich das Bild der männlichen intellektuellen Überlegenheit: Jungen hätten im Durchschnitt nur deshalb schlechtere Noten, weil sie nichts für die Schule tun. Daraus folgt: Würden sie sich ein wenig mehr anstrengen, wären ihre Leistungen besser als die der Mädchen. Interviewstudien zeigen, dass dieser Mythos vor allem von Jungen aktiv verbreitet wird. 

Welchen Einfluss haben Vorurteile auf den Karriereweg?

Mit der Annahme, dass Mädchen ihre guten Leistungen in erster Linie durch große Anstrengung erreichen, wird zudem eine extra Hürde aufgebaut, die Mädchen den Zugang zu MINT-Fächern erschwert. Denn auch über verschiedene Fachdomänen gibt es sozial geteilte Annahmen in unserer Gesellschaft. Verschiedene Studien zeigen, dass sich in Bezug auf mathematiklastige MINT-Fächer das Vorurteil hält, dass hier vor allem außergewöhnliches Talent zum Erfolg führt, wohingegen Anstrengung vergleichsweise wenig nütze.

„Dies zeigt deutlich, welche weitreichenden ungünstigen Auswirkungen das Stereotyp des „fleißigen Mädchens“ auf die Karrierewege junger Frauen im MINT-Bereich haben kann.“

Prof. Dr. Ursula Kessels

Der Vergleich verschiedener Studienfächer zeigt, dass der Frauenanteil umso geringer ausfällt, je eher für ein Fach angeblich „Brillanz“ notwendig ist, also eine außergewöhnlich hohe Begabung, die nicht erlernbar ist. Experimentelle Studien belegen, dass sich weibliche Studierende eher Fächer zutrauten, die so beschrieben wurden, dass sie hohes Engagement erfordern, als solche, die eine hohe Begabung voraussetzten. An diesen Studien zeigt sich nochmals deutlich, welche weitreichenden ungünstigen Auswirkungen das Stereotyp des „fleißigen Mädchens“ auf die Karrierewege junger Frauen haben kann.

Wie können Schulleitungen und Lehrkräften mit Stereotypen umgehen?

Wie sich Geschlechterstereotypen verändern und im Schulalltag abbauen lassen, dazu möchte ich an dieser Stelle nur den wichtigsten Punkt hervorheben: Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern müssen sich über die Existenz dieser Stereotype bewusst sein, sie sollten sie reflektieren können und sie nicht aktiv selbst im Schullalltag perpetuieren, indem sie beispielsweise Mädchen in erster Linie für ihr braves Verhalten loben und verstärken. Auch sollte der Kategorie Geschlecht keine übermäßige Bedeutung zugewiesen werden. Die Kinder und Jugendlichen sollten also möglichst nicht explizit als Angehörige der Gruppe der Jungen oder Mädchen angesprochen werden und es sollte gleichfalls nicht unnötig auf Unterschiede zwischen diesen Gruppen verwiesen werden. Studien zeigen, dass in der Schule bereits die explizite Ansprache von Kindern als „Mädchen“ oder „Jungen“ geschlechtstypisierteres Verhalten nach sich zieht und eine stärkere Abgrenzung vom anderen Geschlecht stattfindet, als wenn diese Kategorisierung im Unterrichtsalltag nicht vorgenommen wird. Die Geschlechtszugehörigkeit nicht extra hervorzuheben, sondern in den Hintergrund treten zu lassen, erscheint daher als ein erster sinnvoller Schritt, die an die jeweiligen Geschlechter geknüpften Erwartungen weniger wirksam werden zu lassen.