Gewaltprävention in der Schule: Was wirklich wirkt

Professor Herbert Scheithauer spricht über Ursachen, Prävention und den richtigen Umgang mit Gewalt im Schulalltag

Prävention beginnt lange vor dem ersten Vorfall. Entwicklungspsychologe Prof. Herbert Scheithauer erklärt, warum sozial-emotionales Lernen so wichtig ist, welche Strategien Schulen bei akuter Gewalt anwenden können und warum sich das Anzeigeverhalten verändert hat.

Redaktion: Herr Professor Dr. Scheithauer, aktuelle Studien zeigen eine Zunahme von Gewalt an Schulen, auch gegen Lehrkräfte. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Prof. Dr. Herbert Scheithauer: Zunächst ist es wichtig zu betonen, dass es beim Thema Gewalt teils erhebliche Unterschiede zwischen den Schulen gibt. Es gibt jedoch nur wenige repräsentative Studien, die die Situation über längere Zeiträume hinweg mit denselben Methoden untersucht haben, sodass wir belastbare Aussagen über Trends treffen könnten. Was wir aus der Forschung wissen: Es gab nach Corona eine Zunahme der gemeldeten Gewaltkriminalität, auch im schulischen Umfeld. Andererseits sehen wir in den Dunkelfeld-Statistiken, also wissenschaftlichen Befragungen von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften, keine enorme Zunahme von Gewalt, wie sie in einigen Studien oder in der Hellfeld-Statistik suggeriert wird. Das bedeutet, wir haben offensichtlich eine Angleichung des Hellfeldes an das Dunkelfeld, was auf ein verändertes Anzeigeverhalten oder eine erhöhte Sensibilisierung hindeuten könnte. ​

Hellfeld – Dunkelfeld

In der Kriminologie bezeichnet der Begriff Hellfeld alle Straftaten, die den Strafverfolgungsbehörden bekannt geworden und in offiziellen Statistiken, wie der Polizeilichen Kriminalstatistik, erfasst sind. Das Hellfeld umfasst somit die registrierte Kriminalität, während das Dunkelfeld jene Straftaten beinhaltet, die nicht zur Anzeige gebracht wurden und folglich nicht in den offiziellen Statistiken erscheinen.

Redaktion: Das bedeutet, die Gewalt an Schulen nimmt nicht unbedingt zu, sie wird nur sichtbarer, etwa durch ein verändertes Anzeigeverhalten?

Scheithauer: Das ist richtig. Die zunehmende Bereitschaft, bestimmte Vorfälle zu melden oder zur Anzeige zu bringen, beeinflusst die Wahrnehmung von Gewalt an Schulen. Unsere Untersuchungen der Gewalt-Meldebögen an Berliner Schulen haben gezeigt (siehe “Weiterführende Literatur” unter diesem Interview, Anm. d. Red.), dass das Meldeverhalten subjektiv geprägt ist und nicht immer mit dem tatsächlichen Kriminalitätsgeschehen übereinstimmt. Es hängt oft davon ab, ob Vorfälle offiziell gemeldet oder intern durch pädagogische Maßnahmen geregelt werden. In der Kriminalstatistik unterscheidet sich das Anzeigeverhalten oft vom tatsächlichen Vorkommen bestimmter Delikte. Ähnlich verhält es sich auf dem Schulhof: Die Sensibilität hat zugenommen und Vorfälle werden häufiger gemeldet. Das ist positiv, da Ereignisse ernst genommen werden, die früher möglicherweise übersehen wurden.​

Dennoch gibt es natürlich auch problematische Entwicklungen beim Thema Gewalt. Viele Schülerinnen und Schüler weisen nach der Pandemie Defizite in sozial-emotionalen Kompetenzen auf. Es ist auch wichtig zu betonen und anzuerkennen, dass es Vorfälle gibt, bei denen Lehrkräfte Gewalt durch Schülerinnen und Schüler erfahren. Jeder dieser Vorfälle ist ernst zu nehmen, und die daraus resultierende Angst der Lehrkräfte ist besorgniserregend. Es bedarf klarer Handlungsstrategien, um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Redaktion: Was können Schulleitungen und Lehrkräfte tun, wenn sie akut mit Gewalt im Klassenzimmer konfrontiert werden? Welche Schritte sind in solchen Situationen ratsam?​

Scheithauer: Im Falle eines physischen Angriffs steht der Eigenschutz an erster Stelle. Lehrkräfte sollten wissen, wie sie sich und andere schützen können und wann es notwendig ist, externe Hilfe, beispielsweise durch die Polizei, hinzuzuziehen. Es ist wichtig, dass solche Situationen schnell und entschieden gehandhabt werden, um weitere Eskalationen zu verhindern.​

Nach einem Vorfall sollten sowohl die Opfer als auch die Täter angemessen betreut werden. Für die betroffenen Lehrkräfte ist es wichtig, Unterstützung zu erhalten, sei es durch kollegiale Beratung, schulinterne Unterstützungssysteme oder externe Fachkräfte. Gleichzeitig müssen mit den Tätern pädagogische Maßnahmen ergriffen werden, die je nach Schwere des Vorfalls bis hin zu disziplinarischen Konsequenzen reichen können. Die Einbindung der Eltern und die Information der gesamten Schulgemeinschaft sind ebenfalls wichtige Schritte, um Transparenz zu schaffen und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Schule zu stärken.​

„Jeder Gewaltvorfall sollte ernst genommen und auf jeden sollte konsequent und konsistent reagiert werden. Das ist essentiell für ein positives Schulklima.“

Prof. Dr. Herbert Scheithauer

Redaktion: Welche Rolle spielen etablierte Strukturen und Handlungspläne an Schulen beim Thema Gewalt?

Scheithauer: Es ist entscheidend, dass Schulleitungen und Lehrkräfte vorbereitet sind, dass Schulen über festgelegte Strukturen und Abläufe verfügen, um in Krisensituationen schnell und angemessen reagieren zu können.​ Bei diesem Thema ist es wichtig, dass Schulen klare Handlungspläne entwickeln, die den rechtlichen Rahmen berücksichtigen und festlegen, wann bestimmte Verhaltensweisen zur Anzeige gebracht werden müssen. Lehrkräfte sollten über ihre Handlungskompetenzen informiert sein und wissen, welche Schritte in verschiedenen Situationen erforderlich sind.

Ein zentraler Bestandteil der Vorbereitung ist die Einrichtung eines Krisenteams innerhalb der Schule. Dieses Team sollte aus geschultem Personal bestehen und klare Zuständigkeiten haben, um im Ernstfall schnell handeln zu können. Die Mitglieder des Krisenteams sollten regelmäßig geschult werden und mit externen Partnern wie Schulpsychologen, Beratungsstellen und der Polizei vernetzt sein.​

Es ist wichtig zu betonen, dass eine gute Vorbereitung nicht mit Panikmache gleichzusetzen ist. Durch klare Strukturen und regelmäßige Schulungen können Schulen ein sicheres Umfeld schaffen, in dem sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler wissen, wie sie in Krisensituationen handeln müssen. Jeder Gewaltvorfall sollte ernst genommen und auf jeden sollte konsequent und konsistent reagiert werden. Das ist essentiell für ein positives Schulklima.

Redaktion: Gewalt tritt im Klassenzimmer auch oft in verbaler Form auf. Wie sollten Lehrkräfte reagieren, wenn sie im Klassenzimmer von Schüler:innen beschimpft oder beleidigt werden?​

Scheithauer: In der akuten Situation sollte die Lehrkraft ruhig bleiben und das respektlose Verhalten nicht ignorieren. Eine klare Ansage, dass solche Äußerungen inakzeptabel sind, ist notwendig, um die Grenzen aufzuzeigen. Gleichzeitig sollte die Lehrkraft überlegen, ob es sinnvoll ist, die Situation sofort im Klassenverband zu klären oder in einem späteren Einzelgespräch mit dem Schüler oder der Schülerin. Dabei ist es wichtig, das richtige Maß an Konsequenz zu finden, um weder überzureagieren noch das Verhalten unkommentiert zu lassen und dabei auch die Reaktion der anderen Schülerinnen oder Schüler im Klassenverband im Blick zu haben.

Es kann hilfreich sein, weitere Kolleginnen, Kollegen oder die Schulleitung einzubeziehen, insbesondere wenn es sich um wiederholte Vorfälle handelt oder die Situation eskaliert. Ein gemeinsames Vorgehen und klare Absprachen im Kollegium tragen dazu bei, einheitlich und konsequent auf respektloses Verhalten zu reagieren. Zudem sollte die Lehrkraft überlegen, ob es notwendig ist, die Eltern des betreffenden Schülers oder der Schülerin zu informieren, um gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten.​

Es ist auch wichtig, zu sagen, dass solche Situationen häufig nicht plötzlich auftreten; oftmals gibt es Anzeichen oder Veränderungen im Verhalten des Schülers oder der Schülerin im Vorfeld. Es ist daher ratsam, aufmerksam zu beobachten und bei auffälligen Veränderungen frühzeitig das Gespräch zu suchen, um mögliche Ursachen wie familiäre Probleme oder persönliche Krisen zu identifizieren.​

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Redaktion: Sie haben an verschiedenen Programmen zur Gewaltprävention an Schulen mitgewirkt. Was sind die entscheidenden Faktoren, damit sie Wirkung zeigen?

Scheithauer: Ein erster wichtiger Schritt besteht darin, sich in einem Team zu informieren und beispielsweise Online-Ressourcen wie die "Grüne Liste Prävention" zu nutzen. Dort kann man nach wissenschaftlichen Kriterien bewertete gute Maßnahmen finden. Aus der Forschung wissen wir, dass es bestimmte Gelingensbedingungen für erfolgreiche Gewaltprävention gibt. Selbst das beste Programm wird keine Wirkung zeigen, wenn es verändert, verkürzt oder nur halb durchgeführt wird, wenn die Beteiligten nicht fortgebildet sind oder keine begleitende Unterstützung erhalten.​ Wirksam sind Maßnahmen, die über längere Zeiträume durchgeführt werden, beispielsweise über neun Monate, und die wiederkehrend und nachhaltig sind. Solche Programme adressieren eine Vielzahl an Kompetenzbereichen und Problemen. Ein Schlüsselthema ist dabei immer die Förderung der sozial-emotionalen Kompetenz. Dieses sollte in allen umgesetzten Maßnahmen eine zentrale Rolle spielen, da sie wesentlich zur Gewaltprävention beiträgt.​

Redaktion: Warum ist sozial-emotionales Lernen beim Thema Gewaltprävention so entscheidend?

Scheithauer: Sozial-emotionales Lernen stattet die Schülerinnen und Schüler mit fundamentalen Kompetenzen in Bezug auf den Umgang mit anderen Menschen aus: Sie lernen, eigene Emotionen und die anderer zu erkennen und angemessen zu reagieren. Sie entwickeln die Fähigkeit, ihre Gefühle zu regulieren, Empathie und Fürsorge für Mitmenschen zu empfinden und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Der Aufbau positiver Beziehungen stellt einen wesentlichen Schutzfaktor dar. Zudem lernen sie, herausfordernde Situationen konstruktiv zu lösen, indem sie persönliche Ziele erreichen, ohne Normen oder die Interessen anderer zu missachten.

Diese Schlüsselkompetenzen bilden die Grundlage jedes effektiven Gewaltpräventionsprogramms. Wichtig ist, dass das sozial-emotionale Lernen nicht isoliert stattfindet, sondern als Querschnittsthema im gesamten Unterricht verankert wird. Der Erfolg hängt jedoch von einer strukturierten Herangehensweise ab. Es funktioniert nicht nach dem Hauruck-Prinzip: 'Ein soziales Defizit beobachten, eine Maßnahme umsetzen, Problem gelöst.' Vielmehr sind ein unterstützendes Klassenklima und förderliche soziale Normen wichtige Voraussetzungen. Ohne diese Basis werden Schülerinnen und Schüler zum Beispiel nicht bereit sein, über ihre Gefühle zu sprechen. Wissenschaftlich fundierte Programme geben daher eine bestimmte Abfolge von Schritten vor, die eingehalten werden muss, damit sich diese sozialen Fertigkeiten erfolgreich entwickeln können.

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Redaktion: Können Sie ein Beispiel geben, wie eine der Maßnahmen in einem solchen wissenschaftlich fundierten Programm aussehen kann?

Scheithauer: Ein konkretes Beispiel aus dem Bereich des sozial-emotionalen Lernens ist der 'Identifikationskreis', den wir in unserem Programm 'Medienhelden' einsetzen. Dabei handelt es sich um ein Rollenspiel, das unterschiedliche Empfindungen und Sichtweisen zu einem Problem aufdeckt. Wir nutzen etwa einen Film über Cybermobbing (Let's Fight It Together). Dabei wird eine Schlüsselszene pausiert und die Schülerinnen und Schüler übernehmen die Rollen der Beteiligten. Sie versetzen sich in deren Sichtweisen: Wie fühlen sie sich? Was wünschen sie sich?

In diesem Prozess werden schließlich unterschiedliche Handlungsoptionen gesammelt und deren Konsequenzen diskutiert. Die besseren Handlungsoptionen werden im Rollenspiel nachgespielt. Diese Maßnahme ist zwar etwas komplexer in der Umsetzung und erfordert Übung seitens der Lehrkraft, deckt aber mit einfachen Mitteln alle wichtigen Aspekte des sozial-emotionalen Lernens ab. In Fortbildungen werden Lehrkräfte auf die Umsetzung der Methoden vorbereitet und bei der Umsetzung begleitet.

Redaktion: Wie können Eltern in die Gewaltprävention an Schulen eingebunden werden?

Scheithauer: Eltern und Elternhaus spielen eine entscheidende Rolle bei der Gewaltprävention. Wichtig ist zu verstehen, dass viele Formen von Gewalt, die wir in der Schule beobachten, ihre Wurzeln im familiären Kontext haben. Wenn ein Kind zu Hause erlebt, dass der Vater oder große Bruder sich dominierend, schreiend oder gewalttätig durchsetzt, nimmt es diese Verhaltensweisen mit in die Schule. Nachhaltige Lösungen erfordern daher die Einbeziehung der Eltern. Und diese ist nicht immer leicht. Viele Eltern haben eine Reihe von Verpflichtungen, etwa wenn sie Kinder an verschiedenen Schulen haben und entsprechend viele Elternabende besuchen müssen. Wir müssen auch bedenken, dass Eltern mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen möglicherweise andere Vorstellungen davon haben, wie Schule funktioniert.

In unserem Cybermobbing-Präventionsprogramm haben wir als einen Lösungsansatz 'Parent Media' entwickelt – niedrigschwellige Materialien und Elternabende, die Medienkompetenz vermitteln und gemeinsame Reflexionen über Mediennutzung anregen. Wir schaffen Situationen, in denen Eltern und Kinder in einen Dialog treten, etwa darüber, wie sie Medien nutzen und welche Regeln gelten sollten. Dabei stellen wir oft fest, dass Eltern und Kinder aneinander vorbeireden, dabei aber durchaus gemeinsame Interessen haben könnten – wenn sie nur miteinander ins Gespräch kämen.

Redaktion: Welche Bedeutung hat die Gestaltung des Schulraums für die Prävention von Gewalt?

Scheithauer: Die Gestaltung des Schulraums spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewaltprävention. Jede und jeder merkt, welchen Unterschied es macht, ob ich eine neu gebaute, helle, nach modernen Konzepten gestaltete Schule betrete, in der es gut riecht, oder eine dunkle Einrichtung mit kaputten Toiletten und einem unattraktiven Schulhof. Das tägliche Erleben in solchen Räumen beeinflusst sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler erheblich. Schulen müssen als soziale Lebensorte gestaltet sein, an denen sich alle wohlfühlen und in ihren Bedürfnissen ernst genommen werden. Dabei ist es wichtig, Schülerinnen und Schüler an der Gestaltung zu beteiligen.

Bei unserer Arbeit in einer Berufsschule mit massiven Gewaltproblemen zeigte sich, dass viele Konflikte durch ungünstige räumliche und organisatorische Strukturen entstanden – etwa wenn tausende Schülerinnen und Schüler gleichzeitig Pause haben, aber nur ein kleiner Laden mit wenig Personal geöffnet hat, oder wenn rauchende Schülerinnen und Schüler bei jedem Wetter an einem ungeschützten Ort stehen müssen.

Wir haben in Schulen häufig ein Stressproblem durch zu viel gleichzeitige Bewegung auf engem Raum. Die Gestaltung des Schulraums muss dazu beitragen, solche Situationen zu entzerren und mehr Ruhe zu schaffen. Es geht also nicht nur um sozial-emotionale Lernmaßnahmen, sondern auch um die grundlegende Gestaltung von Räumen und Abläufen, die das Wohlbefinden fördern und Stresssituationen reduzieren, die zu Gewalt führen können.

Redaktion: Herr Professor Scheithauer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Herbert Scheithauer ist Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gewaltprävention, Mobbing, soziale Kompetenzförderung und die Entwicklung wirksamer Präventionsprogramme für Schulen. Er ist Mitentwickler wissenschaftlich fundierter Präventionsansätze wie Medienhelden zur Cybermobbing-Prävention und Papilio zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen in der Schule.