„Mehrsprachigkeit ist ein Schatz, der noch nicht wirklich gehoben ist.”
Dr. Till Woerfel erläutert die Bedeutung von Mehrsprachigkeit und die Vorteile eines staatlich organisierten herkunftssprachlichen Unterrichts für Schüler:innen und für unsere Demokratie.
Die deutsche Schülerschaft wird zunehmend mehrsprachig. Während Englisch und Französisch oft positiv bewertet werden, haben andere Sprachen ein Imageproblem. Dabei können Herkunftssprachen das (Deutsch)Lernen erleichtern. Dr. Till Woerfel spricht über das Potenzial von Herkunftssprachen und wie wir Unterricht neu denken sollten.
Redaktion: Herr Woerfel, Sie sind Sprachwissenschaftler und beschäftigen sich unter anderem mit sprachlicher Bildung, Multilingualismus und digitaler Bildung. Was bedeutet Ihnen Mehrsprachigkeit?
Dr. Till Woerfel: Mehrsprachigkeit ist für mich allgegenwärtig, aber eine unterschätzte Ressource. Aus individueller Perspektive, weil meine eigenen Kinder mehrsprachig aufwachsen und ich schon immer einen sprachlich diversen Freundeskreis hatte. Auf institutioneller Ebene, weil Mehrsprachigkeit ein Schatz ist, der noch nicht wirklich gehoben ist.
Redaktion: Welchen Stellenwert hat Mehrsprachigkeit bislang an Schulen?
Woerfel: Mehrsprachigkeit findet vor allem im Fremdsprachenunterricht statt, umfasst jedoch in der Regel einige wenige europäische Nationalsprachen. Dieser eurozentristische Blick auf Sprachen ist in unserem Schulsystem bis heute dominant. Vereinzelt gibt es positive Ausnahmeerscheinungen. Ich denke hier vor allem an Schulen, die Mehrsprachigkeit in ihre Konzepte einbeziehen, beispielsweise durch einen verstärkten Fremdsprachenunterricht oder bilinguale Zweige. Als Leuchtturmprojekte sind außerdem Schulen zu nennen, die tatsächlich bilinguale oder mehrsprachige Partnersprachenprogramme anbieten wie zum Beispiel die Staatliche Europa-Schule Berlin.
„Wir wissen, dass bestimmte Kompetenzen, die in einer Sprache verfügbar sind, auch für andere Sprachen genutzt werden können.“
Dr. Till Woerfel
Darüber hinaus kann Mehrsprachigkeit auch unabhängig von einem bestimmten Schulprofil in den Unterricht einbezogen werden. Dafür gibt es unterschiedliche didaktische Möglichkeiten. Aktuell populär und positiv konnotiert ist der Ansatz des Translanguaging. Dabei werden Schülerinnen und Schüler dazu angeleitet, beim Lernen auch ganz bewusst ihre Herkunftssprache zu nutzen. Aus der Forschung wissen wir, dass bestimmte Kompetenzen, die in einer Sprache verfügbar sind, auch für andere Sprachen genutzt werden können. Dazu gehören beispielsweise (meta)kognitive Prozesse, die dem Lernen zugrunde liegen und sprachenübergreifend gelten. Wenn eine Schülerin in der Herkunftssprache gelernt hat, Lesestrategien auf einen Text anzuwenden, dann kann sie die gleiche Strategie für deutsche Texte anwenden und umgekehrt. In vielen Köpfen hält sich jedoch der Mythos, dass herkunftssprachliche Kompetenzen die Deutschkompetenzen beeinträchtigen. Dabei werden genau dann Ressourcen nicht genutzt, wenn die Herkunftssprache außen vor bleibt.
Herkunftssprachlicher Unterricht in Deutschland
Der Herkunftssprachliche Unterricht (HSU) wurde im Zuge der „Gastarbeiter-Bewegungen“ der 1960er/70er-Jahre als zusätzliches Bildungsangebot eingeführt. Er sollte es den Arbeiterinnen und Arbeitern ermöglichen, die eigenen Kinder für die angestrebten zwei Jahre nach Deutschland mitzunehmen, ohne dass es zu Lücken in ihrer Schullaufbahn kommt. Da viele der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nicht wieder zurückgekehrt, sondern hiergeblieben sind, hat sich auch das Angebot des HSU gehalten. Heute hat sich die Zielperspektive geändert, es haben sich jedoch unterschiedliche Modelle herauskristallisiert mit Bezeichnungen wie Herkunftssprachlicher Unterricht, Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht oder Erstsprachenunterricht. Einige Bundesländer haben den HSU verstaatlicht, andere nicht. In den letztgenannten bieten bis heute nur die Konsulate der Herkunftsländer (sogenannter Konsulatsunterricht) oder Vereine und Elterninitiativen diesen Unterricht an.
Redaktion: In meiner eigenen Schulzeit war für meine Mehrsprachigkeit in der Regelschule kein Platz. Stattdessen habe ich zusätzlich zum Regelunterricht den „Muttersprachlichen Ergänzungsunterricht” besucht. Jedes Bundesland hat hier eigenen Regeln. Wie wird Herkunftssprachlicher Unterricht im deutschen Bildungssystem zur Förderung von Mehrsprachigkeit genutzt?
Woerfel: Herkunftssprachlicher Unterricht kann konsularisch oder staatlich organisiert sein (Anmerkung der Redaktion: siehe Infobox). Diese Unterscheidung hat weitreichende Folgen. In Bundesländern, in denen HSU staatlich organisiert ist, wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, ist das Land dafür zuständig, kompetente Lehrkräfte einzustellen und die Inhalte des Unterrichts curricular so festzulegen, dass sie mit den Kernlehrplänen verzahnt sind.
Beim Konsulatsunterricht werden in der Regel Beamte als Lehrkräfte eingesetzt, die für maximal fünf Jahre aus dem Herkunftsland entsandt und von diesem bezahlt werden. Der Beamtenstatus sagt dabei nichts über die pädagogischen Fähigkeiten aus. Auch erhalten der Konsulatsunterricht und die dort absolvierten Leistungen wenig Anerkennung, da diese mit den Leistungen in den Fremdsprachen der Regelschule nicht vergleichbar sind. In den vergangenen Jahren wurde zudem über die politische Dimension des Konsulatsunterrichts diskutiert. Ausgangspunkt der Debatte ist die Sorge, dass aus dem Ausland Einfluss auf die Identitätsprägung der Kinder und Jugendlichen genommen wird. Diese Befürchtungen konnten bisher nicht nachgewiesen werden, halten sich aber hartnäckig.
Redaktion: Wie wird dieses Angebot in den Bundesländern angenommen?
Woerfel: Das ist eine entscheidende Frage und hängt in erster Linie davon ab, wie gut die Eltern erreicht werden. Oft wissen diese gar nicht, dass es ein staatliches Angebot gibt. Zudem ist die Finanzierung meist unklar. In den Bundesländern, in denen HSU in staatlicher Verantwortung liegt, gibt es klare Finanzierungsmodelle. In Nordrhein-Westfalen beispielswiese müssen die Stadt oder der Landkreis HSU anbieten, wenn sich in der Grundschule mindestens 15 Eltern zusammenschließen und gemeinsam Bedarf anmelden. Der Konsulatsunterricht hängt dagegen von den dafür bereitgestellten Ressourcen des Herkunftslandes ab.
Redaktion: Welche Forschungserkenntnisse gibt es zu Herkunftssprachlichem Unterricht?
Woerfel: In Deutschland wissen wir vor allem noch zu wenig über den Zusammenhang von HSU und dem Ausbau sprachlicher Kompetenzen. Bisher wissen wir eigentlich nur, dass HSU nicht zulasten des Deutschen gehen soll. Doch das Forschungsfeld entwickelt sich aktuell. Da es bildungspolitisch relevant ist, Vor- und Nachteile benennen zu können, arbeiten wir im BMBF-Projekt HSU-Interregio daran, die laufende Forschung in Deutschland aus verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen und sichtbar zu machen.
Redaktion: An welchen Best-Practice-Beispielen für Herkunftssprachlichen Unterricht aus anderen Ländern könnte sich Deutschland orientieren?
Woerfel: Insbesondere was das Prestige von Sprachen betrifft, stehen andere Länder vor ähnlichen Herausforderungen wie Deutschland. Jedoch haben sich bestimmte Länder bereits deutlich früher als Einwanderungsland verstanden. Deutschland bekennt sich offiziell erst seit 2007 zu diesem Status. Kanada beispielsweise hat in diesem Bereich früh eine starke Policy entwickelt. Als zweisprachiges Land hat es Immersionsprogramme eingeführt, die partnersprachliche Strukturen zwischen den beiden Amtssprachen aufweisen. Schon seit erster Forschung Anfang der 2000er-Jahre wissen wir, dass dies der Königsweg zu einem angemessenen Umgang mit Mehrsprachigkeit ist. Durch Immersionsprogramme bilden Lernende Kenntnisse in der primären Unterrichtssprache aus und erhalten gleichzeitig ihre herkunftssprachlichen Kompetenzen und können diese auf einem fachbildungssprachlichen Niveau ausbauen.
„Ich wünsche mir, dass Mehrsprachigkeit und Sprachförderung verstärkt zusammengedacht werden.“
Dr. Till Woerfel
Redaktion: Welche konkrete Schritte sind notwendig, um einen zukunftsfähigen herkunftssprachlichen Unterricht in Deutschland umzusetzen?
Woerfel: Ich befürworte eine staatliche Organisationsstruktur. Einerseits, da das Angebot hierdurch gesichert wird. Andererseits, weil es eine Chance ist, Haltung zu zeigen und sich als mehrsprachiges Land zu präsentieren, in dem alle in Deutschland gesprochenen, eingewanderten, mitgebrachten oder hier erworbenen Sprachen Teil der Gesellschaft sind.
Um effektiven HSU anzubieten, müssten jedoch zunächst entsprechende Lehrkräfte ausgebildet werden. Aktuell übernehmen Quereinsteiger oder auch Lehramtsstudierende, die selbst mehrsprachig aufgewachsen sind, den Herkunftssprachlichen Unterricht. Allerdings haben die wenigsten dieser Lehrkräfte auch gelernt, die entsprechende Sprache zu unterrichten. Zudem sollte es mehr Möglichkeiten geben, sich mit anderen Lehrkräften auszutauschen und den Unterricht entsprechend abzustimmen.
Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass nicht nur die Schülerinnen und Schüler von HSU profitieren, die mit dieser Sprache aufgewachsen sind. Vielmehr sollte das Fremdsprachenangebot für Herkunftssprachen geöffnet werden. Dadurch würde eine kulturelle Verständigung zwischen mehrsprachig und einsprachig, also lediglich mit Deutsch aufgewachsen Schülerinnen und Schülern gefördert. Darin liegt für mich viel Potenzial mit Blick auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf unsere Demokratie.
Redaktion: Wenn Sie einen Wunsch an das Kultusministerium richten könnten, was würden Sie sich wünschen?
Woerfel: Sie kommen aus Baden-Württemberg, einem Bundesland, in dem HSU nicht staatlich organisiert wird. Für Ihr Bundesland würde ich mir zunächst wünschen, nach dem Vorbild von Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder Berlin zu handeln und das Angebot in die Hoheit des Landes zu legen. Darüber hinaus würde ich mir wünschen, dass Herkunftssprachen z. B. auch im Orientierungsrahmen VKL [Vorbereitungsklassen, Anmerkung der Redaktion] als Ressource anerkannt und als Bestandteil einer mehrsprachigen Didaktik integriert werden. Außerdem würde ich das Kultusministerium dazu anregen, einen Studiengang zur Ausbildung von Lehrkräften für Herkunftssprachen einzuführen. In Nordrhein-Westfalen gibt es an der Universität Duisburg-Essen bereits Studiengänge, die den Herkunftssprachlichen Unterricht Türkisch für die Primar- und Sekundarstufe anbieten – leider ist dies bislang das einzige Angebot an deutschen Universitäten.
Redaktion: Herr Doktor Woerfel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Dr. Till Woerfel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität Köln.