"Hey ChatGPT, woher weiß ich, ob mein Freund mich liebt?"
Sexualaufklärung per KI-Chatbot ist keine Seltenheit mehr. Schulen sollten daher Kompetenzen im Umgang mit sexualbezogener KI-Nutzung gezielt fördern.

Gespräche über Themen wie Selbstbefriedigung, sexuelle Fantasien oder Liebeskummer empfinden viele Schüler:innen im schulischen Umfeld als zu persönlich. Gleichzeitig fehlt es ihnen oft an geeigneten Ansprechpersonen. Die Folge: Drängende Fragen bleiben unbeantwortet. Immer mehr Jugendliche wenden sich deshalb an ChatGPT und andere KI-Chatbots als niedrigschwellige Informationsquellen. Prof. Dr. Nicola Döring erläutert die Rolle und die möglichen Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz in der sexuellen Bildung.
Sexuelle Entwicklung von Jugendlichen
Die Auseinandersetzung mit ersten sexuellen Wünschen und Erfahrungen ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe im Jugendalter. Jugendliche sind keine Kinder mehr – zwischen 14 und 17 Jahren haben sie die biologische Geschlechtsreife erreicht und gelten in Deutschland als sexuell mündig. Viele erleben erste Küsse und Zärtlichkeiten, während sie mit dem „ersten Mal“ oft auf die große Liebe oder ein Gefühl der inneren Bereitschaft warten. Statistisch findet der erste Geschlechtsverkehr meist mit 17 Jahren oder später statt (Scharmanski & Hessling, 2021a, 2022). Zwischen dem Beginn der Geschlechtsreife und dem aktiven Liebesleben liegen daher häufig mehrere Jahre, in denen Jugendliche ihre romantischen und sexuellen Bedürfnisse vor allem in der Fantasie, durch Selbstbefriedigung oder über Medien ausleben (Döring, 2023b).
Zum Thema: Dark Romance: Schulen müssen Medien- und Sexualkompetenz fördern
Prof. Dr. Nicola Döring erklärt im Interview, warum eine fundierte sexuelle und mediale Bildung für Jugendliche unerlässlich ist.
Lücken in der schulischen Sexualaufklärung
Die elterliche und schulische Sexualaufklärung ist in Deutschland insgesamt gut (Gröning, 2025; Scharmanski & Hessling, 2021c, 2021d). Die Mehrheit der Jugendlichen fühlt sich über Themen wie Pubertät, Verhütung, Schwangerschaft und sexuelle Gewalt gut informiert. Studien zeigen, dass umfassende Sexualaufklärung mit verantwortungsvollem Sexualverhalten einhergeht (Döring et al., 2024).
Offen bleiben jedoch Fragen zu emotionalen und lustbezogenen Aspekten: Wie fühlt sich echte Liebe an? Was passiert beim Oralsex? Wie bekomme ich als Mädchen einen Orgasmus? Woran erkenne ich, ob ich pornosüchtig bin? Solche Fragen formulieren Jugendliche anonym in sexualpädagogischen Projekten – sofern sie einmal mit externen Fachkräften sprechen können (Döring, 2017). Denn Gespräche über intime Themen wie Selbstbefriedigung, sexuelle Fantasien oder Liebeskummer sind mit Eltern oder Lehrkräften oft mit Scham besetzt. Gleichzeitig sind Kontakte zu Fachkräften meist auf wenige Schulstunden in der Mittelstufe begrenzt – je nach Bundesland und Schultyp.
Internet statt Aufklärungsgespräche
Wenn Jugendliche sexuelle Wissenslücken schließen wollen, wenden sie sich heute überwiegend an das Internet – 69 Prozent nutzen es bevorzugt zur Sexualaufklärung (Scharmanski & Hessling, 2021b). Online erhalten sie schnell und diskret Antworten, ohne Scham oder Angst vor Bewertung. Digitale Medien haben damit alle anderen Medien sowie auch persönliche Ansprechpersonen längst überholt (Döring, 2017).
Am häufigsten greifen Jugendliche auf Suchmaschinen wie Google zurück. Die Suchergebnisse (zum Beispiel zu „Kondom“ oder „Oralsex“) führen zu Fachportalen wie pro familia, staatlichen Kampagnen wie Liebesleben.de, Wikipedia, journalistischen Beiträgen oder Foren. Wenn der Google-Filter SafeSearch ausgeschaltet ist und gleichzeitig die Suchanfragen eher vulgär als informationsorientiert formuliert werden, können auch Pornoseiten auf den oberen Plätzen der Trefferliste auftauchen. Sie sind aber als solche vor dem Anklicken meist erkennbar. Social-Media-Plattformen wie YouTube, Instagram und TikTok spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: Dort bevorzugen viele Jugendliche anschauliche Erklärvideos und finden neben Expert:innen auch Gleichaltrige, die eigene Erfahrungen teilen (Döring & Lehmann, 2022).
Mit der Verbreitung generativer Künstlicher Intelligenz (KI) nutzen Jugendliche inzwischen ganz selbstverständlich auch KI-Chatbots wie ChatGPT oder Gemini, um Antworten auf ihre sexuellen Fragen zu finden (Döring, 2023a, 2025).
Sexualaufklärung per KI-Chatbot
Dabei kann man KI-Chatbots dieselben Fragen stellen, die man beispielsweise auch bei einer Google- oder YouTube-Recherche in die Suchmaske eingibt. Der Vorteil: Statt einer Trefferliste liefert ein KI-Chatbot eine direkt formulierte Antwort. Mit gezielten Eingaben (Prompts) lassen sich Informationen individuell aufbereiten, zum Beispiel als Tabelle zu Verhütungsmethoden mit Angaben zu Sicherheit, Anwendung und Kosten – sortiert und in einfacher Sprache oder verschiedenen Sprachen. Auch Produktempfehlungen, etwa für Kondome, kann die KI liefern.
Neben Sachinformationen übernehmen KI-Chatbots zunehmend auch beratende Funktionen. Jugendliche beschreiben ChatGPT teils als „eine gute Freundin“, mit der sie über Liebeskummer, Beziehungskonflikte oder Unsicherheiten sprechen. Wer sich nicht sicher ist, welche Hintergedanken der Schwarm hat, kann von der KI konkrete Analysen, Denkanstöße und Formulierungshilfen erhalten – auf der Basis der geschilderten Situationen oder sogar auf Grundlage eingelesener WhatsApp-Chats. Die Verantwortung für Entscheidungen bleibt jedoch bei den Nutzenden, so wie bei einem Ratschlag im Freundeskreis.
Zudem verweisen viele KI-Tools aktiv auf ihre Grenzen: Sie geben sich nicht als Fachpersonen aus und empfehlen bei ernsteren Anliegen häufig den Kontakt zu Beratungsstellen oder medizinischem und psychologischem Fachpersonal. Auch konkrete Adressen und Öffnungszeiten können genannt werden.
Zwar fehlen bislang belastbare Daten zur Nutzung von KI-Chatbots in der sexuellen Bildung, doch zahlreiche Hinweise – etwa Diskussionen auf TikTok unter dem Hashtag #ChatGPT – zeigen: Jugendliche nutzen KI intensiv, reflektieren die Qualität der Antworten, tauschen sich über nützliche Prompts aus oder machen sich gemeinsam darüber lustig, dass ChatGPT die Tendenz hat, auch absurden Ideen enthusiastisch zuzustimmen. Eine Analyse authentischer Dialoge im „Wildchat“-Datensatz belegt zudem, dass sexualbezogene Inhalte zu den häufigsten Themen der ChatGPT-Nutzung gehören (Longpre et al., 2024, S. 10).
Praxisimpuls: Mit Jugendlichen kritisch über sexuelle Fragen reflektieren
Diese authentischen sexuellen Fragen wurden von Jugendlichen in sexualpädagogischen Projekten anonym auf Zettel geschrieben (Döring, 2017, S. 1017):
- Welche Penisgröße ist normal?
- Was ist sicherer/besser: Pille oder Kondom? Oder beides?
- Welche Stellung ist für das erste Mal am besten?
- Haben Jungs auch Gefühle oder zeigen sie diese nur nicht?
- Was kann ich gegen Liebeskummer tun?
- Woran merke ich, dass er mich wirklich liebt und nicht nur verarschen will?
- Was passiert beim Frauenarzt?
- Wie kann man sicher sein, dass die Partnerin keine Geschlechtskrankheiten hat?
- Wieso kann man schon mit 14 Jahren Geschlechtsverkehr haben, aber Pornos erst ab 18 ansehen?
- Warum sagen manche Leute, dass schwul eine Beleidigung ist?
Reflexionsanstöße:
- Wem würden Jugendliche unterschiedlichen Alters, Geschlechts, sexueller Orientierung, religiöser und kultureller Prägung außerhalb von sexualpädagogischen Projekten derartige sexuelle Fragen stellen und wem nicht?
- Welche Antworten würden sie von unterschiedlichen Ansprechpersonen wie Mutter, Vater, Biologielehrkraft, Frauenärztin, Peers erhalten?
- Welche Antworten würden sie in herkömmlichen Aufklärungsmaterialien wie Biologiebuch oder pro-familia-Broschüre finden?
- Welche Antworten erhalten sie von verschiedenen KI-Chatbots? Zum Beispiel ChatGPT, DeepSeek, Grok, Claude, Gemini oder MyAI in Snapchat?
- Wie ähnlich oder unterschiedlich sind die Antworten, die verschiedene KI-Chatbots zu den unterschiedlichen sexuellen Fragen liefern?
- Wie unterscheiden sich die Modell-Merkmale und Nutzungsbedingungen der verschiedenen KI-Chatbots?
KI überzeugt in Information – und zunehmend auch in Beratung
Bei sexualbezogenen Sachfragen wünschen sich Jugendliche von KI-Chatbots wie ChatGPT vor allem eines: verlässliche, faktenbasierte Informationen. Wissenschaftliche Qualitätsanalysen zeigen, dass viele Antworten auf Fragen zu Themen wie Konsens, Verhütung oder Erektionsproblemen inhaltlich korrekt und gut aufbereitet sind. Fachleute bewerteten die KI-Antworten als vergleichbar mit qualitätsgeprüften Materialien, etwa von pro familia oder dem Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (für eine Zusammenfassung des internationalen Forschungsstandes siehe Döring et al., 2025).
In der sexualbezogenen Beratung geht es dagegen stärker um Einfühlungsvermögen und individuelle Ansprache – Fähigkeiten, die man eher Menschen zuschreibt. Kritiker:innen argumentieren, dass KI keine echte Empathie empfinden könne, da sie weder Emotionen noch eigenes Erfahrungswissen besitzt. Chatbots würden lediglich statistisch passende Wortfolgen generieren, ohne sich wirklich in eine Situation hineindenken zu können – die oft zitierte Metapher des „stochastischen Papageis“.
Empirische Daten zeichnen jedoch ein differenzierteres Bild: Erste Studien liegen vor, in denen man sexualitäts- und beziehungsbezogene Beratungsdialoge mit der KI entsprechenden Dialogen mit menschlichen Fachkräften gegenübergestellt hat. Die Ergebnisse zeigen, dass KI-gestützte Beratungsdialoge teilweise als ebenso empathisch und hilfreich empfunden werden wie Gespräche mit Fachkräften (Döring et al., 2025). Die KI überzeugt oft durch Geduld, Sachlichkeit und einen vorurteilsfreien und akzeptierenden Raum, in dem sich Ratsuchende sicher vor Abwertung fühlen – auch ohne nonverbale Kommunikation.
Chancen und Risiken von Sexualaufklärung durch KI-Chatbots
Nach den bisherigen Ausführungen und vorliegenden ersten Studienergebnissen (Döring et al., 2025) könnte man nun zu dem Schluss kommen, dass die Verfügbarkeit von KI-Chatbots für die Sexualaufklärung große Chancen birgt. Large Language Models (LLMs) stellen Jugendlichen und Erwachsenen eine zusätzliche, jederzeit erreichbare Quelle für sexuelle Informationen und Beratung bereit. Sie liefern qualitativ hochwertige Antworten, vermitteln Empathie, sind geduldig und orientieren sich ethisch an Menschenrechten. Besonders in ländlichen Regionen, außerhalb üblicher Beratungszeiten oder für Menschen mit Sprachbarrieren können sie wichtige Unterstützung bieten.
Dabei soll KI andere Informationsquellen und menschliche Ansprechpartner:innen nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen. Wichtig ist, zu verstehen, wann die Nutzung von KI sinnvoll, schnell und hilfreich ist – und wann der Kontakt zu Fachpersonen notwendig bleibt. Künftig wird es also nicht um ein Entweder-Oder gehen, sondern um eine kluge Kombination verschiedener Angebote.
Gleichzeitig muss die Würdigung der Chancen der KI mit einem kritischen Blick auf die Risiken einhergehen. Auf individueller Ebene bedeutet das einen bewussten und kompetenten Umgang mit KI oder gegebenenfalls einen bewussten Verzicht. Auf systemischer Ebene sind politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen gefragt, die sexualfreundliche, evidenzbasierte und menschenrechtskonforme KI-Modelle sicherstellen. Im Fokus stehen insbesondere sechs zentrale Risiken:
- Fehler und Verzerrungen im KI-Output: KI kann sachlich falsche oder stereotype Inhalte erzeugen – etwa heteronormative Darstellungen als Standard. Nutzende müssen daher Inhalte kritisch prüfen und durch gezielte Prompts bei Bedarf vielfältigere Perspektiven abrufen.
- Sexuelle Werte und Ethik: KI-Modelle folgen bislang menschenrechtlichen Standards, können sich aber durch politischen Einfluss – insbesondere aus den USA – verändern. Eine EU-regulierte KI wäre wünschenswert. Auch Nutzende tragen Verantwortung, indem sie KI-Tools von ethisch ausgerichteten Unternehmen bewusst auswählen und nutzen.
- Blockierung sexueller Inhalte: Die Content-Moderation der KI-Modelle blockiert nicht nur problematische, sondern immer wieder auch sexualpädagogisch sinnvolle Fragen. Nutzende können lernen, ihre Fragen so zu stellen, dass sie seltener blockiert werden, etwa durch die Verwendung von Fachbegriffen oder den Hinweis, dass die Information für ein Bildungsprojekt benötigt wird. Weiterhin geht es darum, die Inhaltsfilter der KI-Modelle zukünftig so auszugestalten, dass ausreichend Raum für Fragen sexueller Bildung bleibt.
- Datenschutz: Gerade bei sensiblen Themen wie Sexualität ist Datensparsamkeit zentral. Viele KI-Chatbots speichern Eingaben. Nutzende sollten sich über Datenschutz informieren und möglichst sichere KI-Modelle wählen, die es einfach erlauben, den eigenen Account wieder zu löschen und der Datenspeicherung zu widersprechen.
- Kinder- und Jugendmedienschutz: KI-Modelle dürfen keine gefährdenden oder entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalte verbreiten, oft legen Anbieter zudem Altersgrenzen fest. In verschiedenen Bundesländern wird mit KI an Schulen unterschiedlich umgegangen, teilweise wird ein Einsatz zu Bildungszwecken erprobt (Scheiter et al., 2025).
- Qualitätsvolle KI-Modelle: Gute KI braucht finanzielle Unterstützung. Wer für ethische KI-Tools bezahlt oder bei offenen Bildungsprojekten mitwirkt, etwa durch Datenbereitstellung, stärkt sexualpädagogisch fundierte KI-Modelle.
Über Chancen und Risiken von KI in der sexuellen Bildung darf nicht nur spekuliert werden – belastbare Daten sind nötig. Für eine sachgerechte Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Grenzen von KI ist ein systematischer Vergleich mit dem bisherigen Status quo unverzichtbar, anstatt von der KI Perfektion zu erwarten. Denn viele Herausforderungen bestehen auch bei Offline-Informationsquellen – teilweise sogar verschärft. Wie viel Datenschutz, wie wenig Vorurteile („Bias“) oder Falschinformationen können beispielsweise eine schwangere Minderjährige oder ein schwuler Jugendlicher in einem konservativen Umfeld von Lehrkräften oder Familienmitgliedern erwarten? KI-Ergebnisse müssen nicht perfekt sein, um hilfreich zu sein, solange sie bestehende Angebote ergänzen oder übertreffen.
KI-Kompetenzförderung in der schulischen Sexualbildung
Die breite Nutzung von KI-Tools unter Jugendlichen stellt Schulen vor die Aufgabe, KI-Kompetenzen auch im Bereich der sexuellen Bildung zu vermitteln. Dafür ist gemeinsames Ausprobieren und kritisches Reflektieren mit den Jugendlichen zentral – etwa im Biologieunterricht bei Aufklärungsthemen, im Religions- oder Ethikunterricht bei Wertfragen, im Deutschunterricht bei der Analyse von KI-Texten oder in sexualpädagogischen Projekten. Dabei geht es darum, dass Jugendliche ihre sexualbezogenen Anliegen in wirkungsvolle und passgenaue Prompts überführen sowie den KI-Output hinsichtlich vermittelter Sachinformationen und Werthaltungen kritisch einordnen können. Grundlegende Sexualerziehung, die sexualbezogene Fragen für Jugendliche überhaupt erst verbalisierbar macht, ist somit eine wichtige Grundlage für sexualbezogene Internet- und KI-Nutzung.
Je nach Altersgruppe, schulischen Regelungen und Bundesland kann die Nutzung von KI-Tools unterschiedlich gestaltet werden: von der Live-Demonstration und gemeinsamem Ausprobieren am KI-Modell (wenn erlaubt, etwa über datenschutzkonformen Schul-Schnittstellen zu ChatGPT oder anderen KI-Modellen, Scheiter et al., 2025) bis hin zur Diskussion typischer Nutzungsszenarien oder der Analyse von KI-Antworten, die von Lehrkräften mitgebracht werden.
Damit Jugendliche ihre KI-Kompetenz sachgerecht entwickeln, müssen pädagogische Fachkräfte sich mit KI-Technologien, insbesondere sexualbezogenen Anwendungen, auseinandersetzen. Dazu gehört, eigene Erfahrungen zu sammeln, sich fortzubilden und den aktuellen Forschungsstand zu verfolgen.




