Hochbegabung – wie sie erkannt wird und warum sie gefördert werden sollte
Die Förderung von hochbegabten Kindern kommt im Schulalltag häufig zu kurz. Im Interview spricht Junior-Prof. Julia Schiefer darüber, warum sich das ändern muss.
Hochbegabtenförderung galt in Deutschland lange Zeit als elitär. Doch Begabungsförderung ist keine „Luxussache“, wie der Psychologe William Stern bereits im Jahr 1910 formulierte. Mit der richtigen Förderung können begabte Kinder und Jugendliche ihr Potential nicht nur entfalten, sie können ihren Intelligenzquotienten sogar verbessern. Wie Lehrkräfte Begabungen erkennen und hochbegabte Kinder und Jugendliche fördern können, erläutert Junior-Prof. Julia Schiefer von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Interview.
Redaktion: Frau Junior-Professorin Schiefer, Ihre Forschung beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Hochbegabung und Bildungsgerechtigkeit. Diskussionen über gerechtere Bildung lenken den Blick in der Regel jedoch auf benachteiligte Kinder und Jugendliche. Weshalb setzen Sie den Fokus auf besonders begabte junge Menschen?
Junior-Professorin Julia Schiefer: Besonders begabte und hochbegabte Kinder und Jugendliche haben genau wie alle anderen ein Recht auf eine ihrer Begabung entsprechende Förderung, um sich gut entwickeln zu können. Werden Begabungen übersehen oder diese Kinder nicht entsprechend gefördert, können diese Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten bekommen und ihre Potentiale nicht entfalten. Verhaltensauffälligkeiten, Motivationsprobleme oder Leistungsverweigerungen können dann die Folge sein.
„Es ist wichtig, dass auch besonders begabte und hochbegabte Kinder an ihre Leistungsgrenzen gebracht werden und lernen, sich anzustrengen.“
Junior-Professorin Julia Schiefer
Redaktion: Um solchen negativen Folgen vorzubeugen, werden bundesweit Förderangebote für hochbegabte Kindern und Jugendliche entwickelt. Welches Ziel verfolgen diese Maßnahmen?
Schiefer: Die Förderung verfolgt sehr individuelle Ziele. Generell ist jedoch wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten und Interessen entfalten und umsetzen können und den Spaß am Lernen behalten. Zudem ist es wichtig, dass auch besonders begabte und hochbegabte Kinder an ihre Leistungsgrenzen gebracht werden und lernen, sich anzustrengen. Wenn dies verpasst wird, können die Leistungen irgendwann deutlich hinter den Möglichkeiten zurückbleiben.
Redaktion: Wann gelten Fördermaßnahmen für Hochbegabte als erfolgreich?
Schiefer: Die „Messung“ des Erfolgs setzt auf ganz unterschiedlichen Ebenen an. Zum Beispiel Rückmeldungen zur Leistungs- und Motivationsentwicklung, Durchführung von Längsschnittstudien oder qualitativ hochwertigen Studien in enger Zusammenarbeit mit der Bildungspraxis. Die Wirksamkeit der Angebote in dem Förderprogramm, in dem ich bis vor kurzem mitgearbeitet habe – den Hector Kinderakademien – wird beispielsweise regelmäßig durch solche Studien untersucht. So kann genau geprüft werden, ob die Kurse ihre Ziele erreichen und die Kinder durch eine Teilnahme auch tatsächlich ihr Wissen, ihre Kompetenzen, ihre Interessen oder ihre Motivation steigern können.
Redaktion: Vergangene Pisa-Studien zeigen dennoch, dass es in Deutschland vergleichsweise wenige leistungsstarke Schülerinnen und Schüler gibt – wo können Fördermaßnahmen hier gezielter ansetzen?
Schiefer: Diese Ergebnisse zeigen in der Tat ganz deutlich, dass wir im internationalen Vergleich recht wenige Schülerinnen und Schüler mit Spitzenleistungen haben. Gezielte Fördermöglichkeiten wie vertiefende schulische Aufgaben, das Überspringen von Klassen oder die Teilnahme an außerunterrichtlichen Kursen und Wettbewerben können diesen Schülerinnen und Schülern genau die Lernumgebung und die Anforderungen bieten, die sie aufgrund ihrer hohen intellektuellen Fähigkeiten benötigen. Dabei ist es wichtig, dass die Förderangebote über den „normalen“ Stoff der Schule hinausgehen und langfristig Interesse und Motivation dafür wecken, sich intensiv mit einem Thema zu beschäftigen.
Hochbegabung in Deutschland
Legt man einer Hochbegabung hauptsächlich die hohen intellektuellen Fähigkeiten zugrunde, dann gelten Kinder und Jugendliche ab etwa einem Intelligenzquotienten (IQ) von 130 als hochbegabt. Dies sind circa zwei bis drei Prozent einer Altersgruppe, also in Deutschland insgesamt circa 250.000 Schülerinnen und Schüler. Man kann somit davon ausgehen, dass in fast jeder Klasse ein hochbegabtes Kind sitzt, wenn man den Bereich auf die oberen zehn Prozent mit einem besonderen Förderbedarf ausweitet, sind es sogar zwei bis drei überdurchschnittlich begabte bis hochbegabte Kinder pro Klasse.
Redaktion: Entgegen landläufiger Klischees, entwickelten Kinder und Jugendlichen ihre Hochbegabung nicht dadurch, dass ihnen bereits im Mutterbauch Musik von Mozart vorgespielt wird – wie entstehen Talent und Hochbegabung?
Schiefer: Bei der Entwicklung von Talenten und Hochbegabung geht man inzwischen von einem engen Zusammenspiel von Anlagen (unter anderem den Genen) und Umwelt (unter anderem der Förderung) aus. Begabungen sind zu einem Großteil genetisch bedingt. Genetische Faktoren sind für circa 50-70 Prozent der Varianz der Intelligenz in der Bevölkerung verantwortlich. Das bedeutet, dass nicht angeborene Einflüsse wie die Förderung, die schulische Unterstützung auch einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung und Entstehung einer Hochbegabung nehmen können. Damit Talente und Potentiale sich irgendwann in außergewöhnlichen Leistungen zeigen können, ist zudem ein hohes Maß an Übung, Training, Ausdauer und Fleiß erforderlich. Im Bereich Sport oder Musik ist das längst bekannt. Aber auch im Bereich einer intellektuellen Hochbegabung ist dies wichtig, weshalb ein frühes Erkennen und Fördern dieser Kinder und Jugendlichen so entscheidend ist.
Redaktion: Welche Rolle spielt der Intelligenzquotient für die Begabungsförderung? Und wie stabil sind die Testergebnisse über die Zeit – gerade, wenn die Förderung früh beginnt?
Schiefer: Der Intelligenzquotient spielt insofern eine Rolle, als dass er hohe intellektuelle Fähigkeiten quantifizierbar und messbar macht. Insofern stellt eine hohe Intelligenz das wichtigste Kernelement und die wesentliche Schnittstelle von verschiedenen Hochbegabungsmodellen dar. Gleichwohl gehen inzwischen die meisten Begabungsmodelle davon aus, dass weitaus mehr Faktoren als der reine „IQ“ für eine Hochbegabung relevant ist. Der Intelligenzquotient unterliegt dabei vor allem bei jüngeren Kindern im Vorschul- oder frühen Grundschulalter noch deutlichen Schwankungen. Ab der 3. Klasse ist er jedoch insgesamt recht stabil. Zudem ist es wichtig zu wissen, dass sich der IQ in Abhängigkeit der Förderung verbessern oder verschlechtern kann.
„Hochbegabung ist ein zuverlässiger Prädiktor für Erfolg und Lebenszufriedenheit.“
Junior-Professorin Julia Schiefer
Redaktion: Der Begriff „Hochbegabung“ ist noch immer mit vielen Klischees behaftet – vom „kleinen Genie“ bis zum „sonderbaren Nerd“. Woher kommen diese Stereotype?
Schiefer: Diese Stereotype entstehen – wie viele andere Stereotype auch – häufig durch Unwissen, falsche Vorstellungen oder die Verallgemeinerung von sehr besonderen „Einzelfällen“. Zudem hat die Darstellung in Filmen und den Medien bestimmt einen gewissen Anteil, da dort Hochbegabte häufig als „Nerds“ oder „Genies“ dargestellt werden. Beides wird hochbegabten Kindern und Jugendlichen nicht gerecht. Diese verfügen einfach über ein sehr hohes intellektuelles Potential. Wenn man sich repräsentative Studien anschaut, finden sich insgesamt nämlich keine Hinweise auf psychische Störungen oder besondere emotionale oder soziale Auffälligkeiten bei Hochbegabten. Hochbegabung ist sogar ein zuverlässiger Prädiktor für Erfolg und Lebenszufriedenheit.
Redaktion: Welche Rolle spielen solche Stereotype und falsche Erwartungen bei der Identifikation von hochbegabten Kindern?
Schiefer: Die Forschung zeigt, dass vor allem Mädchen, aber auch Kinder aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status oder Kinder mit Migrationshintergrund seltener als hochbegabt erkannt werden. Somit besteht bei diesen Schülerinnen und Schülern ein erhöhtes Risiko, dass sie nicht ihren Begabungen gemäß gefördert werden. Es gibt beispielsweise Studien, die zeigen, dass Lehrkräfte bei Jungen besondere Leistungen eher auf deren Begabung und bei Mädchen eher auf ihren Fleiß zurückführen. Die Aufklärung und das Bewusstmachen solcher Beurteilungsfehler ist somit ein wichtiger Schritt, um solchen Fehleinschätzungen entgegenwirken zu können.
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Vorurteile haben Folgen. Was das im Schulalltag für Mädchen und Jungen bedeutet, erläutert Prof. Dr. Ursula Kessels in einem Gastbeitrag.
„Es empfiehlt sich, dass Lehrkräfte nicht nur auf Noten achten, sondern auch auf besondere Denkleistungen.“
Junior-Professorin Julia Schiefer
Redaktion: Wie können hohe Begabungen in der Schule erkannt werden?
Schiefer: Je höher die Intelligenz, desto höher sind in der Regel auch die Schulleistungen. Aber es gibt natürlich Ausnahmen in beide Richtungen, also zum einen Schülerinnen und Schüler, die beispielsweise durch sehr hohen Fleiß bei durchschnittlicher Intelligenz gute bis sehr gute Schulleistungen zeigen. Zum anderen die sogenannten „Underachiever“, deren Leistungen deutlich hinter dem zurückbleiben, was man aufgrund der hohen Intelligenz erwarten würde. Es empfiehlt sich daher, dass Lehrkräfte nicht nur auf die Noten achten, sondern genau hinschauen und vor allem darauf achten, wo sie in ihrem Unterricht besondere Denkleistungen von Schülerinnen und Schülern beobachten können. Diese können sich zum Beispiel an einem weit über das Alter hinausgehenden Fachwissen, einer besonders differenzierten Ausdrucksweise, dem Erkennen von Regeln und Gesetzmäßigkeiten, dem Hinterfragen von Sachverhalten, einem besonderen räumlichen Vorstellungsvermögen, einem hohen Abstraktionsvermögen oder einer besonders schnellen Lern- und Auffassungsgabe zeigen.
Redaktion: Durch die steigende Heterogenität im Klassenzimmer steigen auch die Anforderungen an Lehrkräfte. Wie können Lehrkräfte bei der individuellen Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen unterstützt werden?
Schiefer: Zum einen ist es wichtig, dass der Umgang mit den unterschiedlichen Facetten von Heterogenität im Klassenzimmer zum festen Bestandteil der Ausbildung von Lehrkräften gehört. Hierbei sind zum Beispiel das Wissen über die kognitive Aktivierung von Schülerinnen und Schülern sowie Kenntnisse über Unterrichtsmethoden zur Differenzierung erforderlich. Wichtig ist auch der Aufbau eines kollegialen Netzwerks zum gegenseitigen Austausch und Unterstützung, sowie die Einbettung in regionale Strukturen – zum Beispiel die Zusammenarbeit mit den Schulämtern, den Schulpsychologischen Beratungsstellen oder Fachpraxen zur Diagnostik und Beratung.
Zertifikatsstudium Begabtenförderung und Potenzialentwicklung
Wie können Fördermöglichkeiten für hochbegabte Schülerinnen und Schüler innerhalb und außerhalb des Unterrichts aussehen und gestaltet werden? Und wie lassen sich besondere Begabungen überhaupt erkennen? An der Universität Tübingen widmet sich das Zertifikatsstudium „Begabtenförderung und Potenzialentwicklung“ diesen Fragen und legt ein wissenschaftsbasiertes Fundament für ein (künftiges) Arbeiten in der Begabtenförderung.
Redaktion: Welche Qualifizierung von Lehrkräften ist notwendig, um Begabungen richtig zu erkennen und gezielt fördern zu können?
Schiefer: Zunächst einmal ist es wichtig, dass Lehrkräfte ein solides Grundlagenwissen zum Thema Intelligenz und Hochbegabung besitzen. Es existieren hier immer noch viele Mythen und Fehlvorstellungen, zum Beispiel dass es mehr hochbegabte Jungen als Mädchen gibt oder dass sich hochbegabte Schülerinnen und Schüler auch ohne eine entsprechende Förderung automatisch gut entwickeln. Aktuelle Forschungsbefunde zu den Eigenarten und der Entwicklung können hierbei eine wichtige Grundlage für Lehrkräfte sein, um besonders begabte und hochbegabte Kinder zu erkennen und adäquat zu fördern. Beispielsweise ist es für Lehrkräfte wichtig zu wissen, wie sich hohe Denkfähigkeiten in unterschiedlichen Fächern zeigen können. Zudem sind Kenntnisse über die Gestaltung eines kognitiv aktivierenden Unterrichts sowie über effektive Fördermaßnahmen relevant. Zudem sollte es an jeder Schule Ansprechpartnerinnen und -partner geben, die Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräfte kompetent beraten und die mit allen im Bereich der Hochbegabtenförderung beteiligten Akteurinnen und Akteuren in einer Region gut vernetzt sind.
Redaktion: Frau Junior-Professorin Schiefer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Julia Schiefer ist Junior-Professorin für Pädagogische Psychologie am Institut für Pädagogisch-Psychologische Lehr- und Lernforschung (IPL) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zuvor war sie Mitglied der Wissenschaftlichen Begleitung der Hector Kinderakademien im Forschungsbereich Potentialentwicklung und Hochbegabung am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen. Sie hat zudem langjährige Erfahrungen als Schulpsychologin sowie in der Diagnostik und Beratung hochbegabter Schülerinnen und Schüler.