ICILS 2023: Digitale Kompetenzen nehmen ab – wie steuern deutsche Schulen dagegen?

Deutsche Achtklässler haben sich laut der aktuellen ICIL-Studie in ihren digitalen Kompetenzen seit 2013 deutlich verschlechtert. Wie können Schulen reagieren? Darüber spricht Studienleiterin Prof. Dr. Birgit Eickelmann im Interview.

Deutsche Achtklässler schneiden laut der aktuellen ICIL-Studie 2023 bei den digitalen Kompetenzen schlechter ab als noch vor einem Jahrzehnt. Welche Maßnahmen sind jetzt notwendig, um Schüler:innen besser auf eine digital geprägte Welt vorzubereiten? Studienleiterin Prof. Dr. Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn gibt im Interview Einblicke in die zentralen Ergebnisse der ICIL-Studie und zeigt sechs Entwicklungsperspektiven für die digitale Transformation im Bildungssystem.

Redaktion: Frau Eickelmann, die ICILS-Studie hat ergeben, dass deutsche Schüler:innen der 8.Klasse seit 2013 beim Thema digitale Kompetenzen abbauen. Wieso ist das so?

Prof. Dr. Birgit Eickelmann: Ein „Wieso“ erfasst die Studie nicht. ICILS ist, wie PISA, TIMSS und IGLU, als Querschnittsstudie angelegt. Man kann Zusammenhänge abbilden, aber keine Kausalitäten. Dennoch finden sich in den Daten natürlich Hinweise auf Entwicklungsbereiche, bei denen wir – auf der Grundlage des theoretischen Modells der Studie und auch auf der Grundlage von Erfahrungsberichten aus der Praxis – davon ausgehen können, dass sie durchaus relevante Beiträge zum Erwerb der digitalen Kompetenzen der Schüler:innen leisten. Wir unterscheiden in der Studie zwischen den schulischen Rahmenbedingungen und den Prozessen in Schulen. Schaut man auf die Rahmenbedingungen, dann stellt man fest, dass sich in Deutschland statistisch weiterhin vier Schüler:innen ein schulisches Endgerät zum Lernen teilen. Statistisch, weil das ja heißt, dass ein Jugendlicher eins hat und drei leer ausgehen. Ein Drittel der Schüler:innen in Deutschland hat zudem weiterhin keinen Zugang zu WLAN in der Schule zum Lernen. Hier zeigen sich auch schon die ersten Gründe für die großen, man könnte sagen eklatanten Bildungsungleichheiten ab, die wir für Deutschland festgestellt haben.

Redaktion: Welche weiteren Auffälligkeiten zeigten sich bei den Rahmenbedingungen der Schulen?

Eickelmann: Auffällig war für mich, dass nur für circa ein Drittel der Lehrkräfte in Deutschland digitalisierungsbezogene Bestandteile, zum Beispiel hinsichtlich unterrichtsbezogener Kompetenzen, in der Lehrkräfteausbildung Thema gewesen sind. Das ist international weit unterdurchschnittlich. Der Befund wird auch nicht viel besser, wenn man sich nur die jungen, gerade frisch ausgebildeten Lehrkräfte anschaut. Hier haben wir die bis 35-Jährigen separat betrachtet und in dieser Gruppe sind es nur rund 60 Prozent, die angegeben haben, in verschiedenen Bereichen in der Ausbildung bereits gelernt zu haben, wie digitale Medien im Unterricht, im Fachunterricht und insgesamt lernförderlich eingesetzt werden. Man wird sich die Daten natürlich noch viel genauer anschauen müssen. Weiterhin zeigt sich, dass für die Gymnasien kein mittlerer Kompetenzrückgang zu verzeichnen ist. Das gibt Hinweise darauf, dass sich an den nicht gymnasialen Schulformen die Herausforderungen kumulieren und die Bedingungen für ein zukunftsgerichtetes Lehren und Lernen längst nicht optimal sind.

„Für viele Schüler:innen ergibt sich ein großer Bruch zwischen erhoffter und erlebter schulischer Wirklichkeit.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann

Redaktion: Was genau konnten Sie in ICILS bezüglich der Prozesse in den Schulen beobachten? Und welche Hinweise gibt das auf die Entwicklung der digitalen Kompetenzen bei den Schüler:innen?

Eickelmann: Auch hier ist die erhobene Datenlage in ICILS durchaus umfangreich. Wir befragen hierzu sowohl die Schüler:innen, die Lehrkräfte als auch die Schulleitungen. Fangen wir einmal mit den Schüler:innen an. Wir sind jetzt in der Jahrgangsstufe 8 und nur 25 Prozent der Achtklässler:innen in Deutschland geben an, dass sie regelmäßig, mindestens einmal am Tag, digitale Medien in der Schule für schulische Aufgaben nutzen. Mehr als ein Achtel gibt zudem an, nie mit digitalen Medien in der Schule zu lernen. Diese Zahlen hätte ich so nicht erwartet. Zumal die befragten Jugendlichen mehrheitlich, zu 90 Prozent, angeben, motivierter durch das Lernen mit digitalen Medien zu sein. Ihnen mache das Lernen Spaß und sie sehen die Schule in der Verantwortung, ihnen das Lernen mit digitalen Medien zu ermöglichen. Für viele Schüler:innen gibt es einen großen Bruch zwischen erhoffter und erlebter schulischer Wirklichkeit.

Redaktion: Wie hat sich das digitale Engagement der Lehrkräfte entwickelt?

Eickelmann: Es zeigt sich seit ICILS 2018 eine spürbare Trendwende. Während seinerzeit nur circa ein Viertel der Lehrkräfte angaben, digitale Medien im Unterricht zu nutzen, liegen wir in Deutschland nun bei 70 Prozent. Das ist noch nicht Weltspitze, aber ein erheblicher Anstieg, auch vor dem Hintergrund, dass die Anforderungen an Lehrkräfte in den letzten Jahren sicherlich nicht weniger geworden sind. Möglicherweise entfalten sich hier die Entlastungspotenziale der digitalen Möglichkeiten allmählich. Zudem bildet sich etwas die Hälfte der Lehrkräfte in digitalisierungsbezogenen Bereichen regelmäßig fort. Gewünscht werden jedoch mehr Weiterbildungsmöglichkeiten in Bezug auf die Nutzung digitaler Medien zur Individualisierung und zur Nutzung adaptiver Lernsysteme. Das Ergebnis zeigt also einerseits ein stark gestiegenes digitales Engagement der Lehrkräfte und eine zunehmende Normalität im pädagogischen Berufsalltag. Andererseits muss man quantitative Daten auch immer kritisch betrachten. Wir wissen nur, dass digitale Medien häufig genutzt werden. Aus diesen Antworten allein wissen wir jedoch nicht, für was genau und welchen Nutzen die Schüler:innen daraus für sich ziehen könnten. Wird der Laptop aufgeklappt und das schon fast fertige „Tafelbild“ ans Whiteboard projiziert oder wird über eine Präsentationsfläche der Bildschirm des Tablets der Lehrkraft nur geteilt, läuft man Gefahr, Unterricht durch digitale Medien zu deprofessionalisieren. Die Kriterien guten Unterrichts haben jedoch auch in der Digitalität Bestand, und die Möglichkeiten, diese in ihrer Wirksamkeit zu unterstützen, werden durch digitale Medien nochmals ausgeweitet. Das ist aber anspruchsvoll. Wie auch immer: Dass wir in Deutschland die Lehrkräfte nun, nicht zuletzt über die Mittel des Digitalpaktes Schule, weitestgehend mit Dienstgeräten – im Digitalpakt heißen sie Leihgeräte – ausgestattet haben, trägt Früchte. Es kann ja nur genutzt werden, was auch vorhanden ist.

ICILS 2023

Die International Computer and Information Literacy Study (ICILS) ist eine international vergleichende Schulleistungsstudie, die von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführt wird. Ziel der Studie ist es, die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der 8. Jahrgangsstufe zu erfassen und zu vergleichen. Seit 2013 wird ICILS alle fünf Jahre durchgeführt, die jüngste Erhebung fand 2023 statt. 2023 nahmen Bildungssysteme aus 35 Ländern teil, darunter 5300 Schüler:innen aus Deutschland sowie deren Lehrkräfte und Schulleitungen.

Ergebnisse für Deutschland:

  • Kompetenzrückgang: Deutsche Achtklässlerinnen und Achtklässler erzielten im Bereich der computer- und informationsbezogenen Kompetenzen durchschnittlich 502 Punkte. Dies liegt zwar über dem internationalen Mittelwert von 476 Punkten, jedoch zeigt sich im Vergleich zu den vorherigen Erhebungen ein deutlicher Rückgang.
  • Bildungsungleichheit: Die Studie offenbart signifikante Unterschiede in den digitalen Kompetenzen, abhängig von Schulform, sozialer Herkunft und Migrationshintergrund. Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien oder mit Migrationshintergrund schneiden tendenziell schlechter ab.
  • Schulische Ausstattung: Trotz Bemühungen um Digitalisierung teilen sich in Deutschland statistisch gesehen vier Schülerinnen und Schüler ein schulisches Endgerät. Zudem hat ein Drittel der Schülerinnen und Schüler keinen Zugang zu WLAN in der Schule.
  • Lehrkräfteausbildung: Nur etwa ein Drittel der Lehrkräfte in Deutschland gibt an, dass ihre Ausbildung digitale Inhalte umfasste. Bei den jüngeren Lehrkräften unter 35 Jahren sind es rund 60 Prozent.

Redaktion: Die Schulleitungen sind ja für schulische Innovationen zentral. Welche Erkenntnisse bringt uns ICILS hier?

Eickelmann: Um ehrlich zu sein, hadere ich mit unseren Ergebnissen und den Botschaften, die uns die Schulleitungen im Land mitgeben. Man kann über alle großen und kleinen Themen und Fragen hinweg sagen, dass etwa die Hälfte der Schulleitungen in Deutschland – wir sprechen bei ICILS über alle nicht berufsbildenden Schulformen, die Sekundarstufe I anbieten – bei der Entwicklung von Schule und Unterricht das Digitale unterstützt und mit hoher Priorität adressiert. Die guten Beispiele sehen wir auf vielen Veranstaltungen und in zahlreichen Projekten. Die andere Hälfte der Schulleitungen müssen wir uns nochmal genauer anschauen. Es mag gute Gründe geben, warum Schulleitungen andere Schwerpunkte setzen. In der Pandemiezeit hatte ich den Eindruck gewonnen, das zeigten auch seinerzeit die Ergebnisse des Deutschen Schulbarometers, dass der überwiegende Teil der Schulleitungen das Digitale zum Lehren und Lernen forciert hat. Davon ist nicht an allen Schulen etwas übrig geblieben. Was wir aus den verschiedenen Digitalisierungwellen in Schulen auch wissen, ist, dass Transformation Schulleitungsangelegenheit ist und die zugehörigen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten nicht alle delegiert werden dürfen. Die Begleitung der Entwicklungsprozesse und das Einfordern und Begleiten von zukunftsgerichteten Entwicklungen in Schule und Unterricht ist Schulleitungsaufgabe. Ich will den Bogen an dieser Stelle nicht zu weit spannen und es ist klar, dass auch Aufgaben delegiert werden können und müssen. Aber die erfolgreichen Schulen zeichnen sich, auch in anderen Bereichen, durch zielgerichtetes, empathisches und prozessbegleitendes Leadership aus.

Redaktion: Welche konkreten Handlungsfelder sehen Sie für das Bildungssystem und für Schulen insbesondere, um die digitalen Kompetenzen der Schüler:innen zu verbessern?

Eickelmann: Da natürlich klar war, dass diese Frage, die ja ganz zentral ist, nach der Veröffentlichung der Ergebnisse gestellt wird, haben wir zu den „Möglichen Entwicklungsperspektiven aus ICILS 2023 für den schulischen Bildungsbereich in Deutschland“ (Link zu diesem Video unter diesem Interview, Anm. d. Red.) ein kleines, anschauliches YouTube-Video erstellt, das auf sechs Entwicklungsperspektiven hinausläuft. Diese sind:
Erstens: Digitale Kompetenzen der Schüler:innen besser und systematischer fördern, um diese zu reflektiertem und eigenverantwortlichem Handeln in einer von Digitalität geprägten Welt zu befähigen. 
Zweitens: Bildungsungleichheiten nicht als gegeben hinnehmen, sondern dem Digital Divide nun gezielt und mit hoher Dringlichkeit begegnen.
Drittens: Sinnstiftendes und zukunftsorientiertes Lernen der Schüler:innen ermöglichen, Partizipationsmöglichkeiten etablieren und für die (digitale) Transformation von Schule nutzen.
Viertens: An das Engagement und die Bereitschaft der Lehrkräfte anknüpfen und diese auf allen Ebenen, in den Schulen selbst und auf der Systemebene, besser unterstützen.
Fünftens: Schulleitungen stärken und gleichzeitig möglichst flächendeckend in die Verantwortung nehmen, um die digitale Transformation von Schule zu steuern und zu gestalten.
Sechstens: Kontinuierlich geeignete technologische Rahmenbedingungen in Schulen sicherstellen.
Diese sechs Entwicklungsperspektiven aus der Studie sind übrigens, wissenschaftlich aufbereitet, auch im Kapitel IX des Berichtsbandes im Kontext einer Gesamtdiskussion nachlesbar. Der Berichtsband ist frei zugänglich (OpenAccess) und steht als kostenloser Download bereit.

„Es ist schwierig, sich mit Taiwan oder Südkorea zu vergleichen, Gesellschaftssysteme, in denen das Digitale zentral ist und Bildung ein hohes Gut.“

Prof. Dr. Birgit Eickelmann

Redaktion: Was können wir von Ländern lernen, die in der ICILS-Studie besonders gut abschneiden?

Eickelmann: Auch die Frage ist natürlich bei einer international vergleichenden Studie richtig und wichtig. Bei ICILS 2023 fällt aber auf, dass die Spitzenländer sehr unterschiedlich sind. Es ist schwierig, sich mit Taiwan oder Südkorea zu vergleichen, Gesellschaftssysteme, in denen das Digitale zentral ist und Bildung ein hohes Gut ist. Die besonders erfolgreichen europäischen Staaten, Dänemark und Tschechien, geben auch nicht so viele Hinweise allein aus den Daten. Auch hier muss man die Kontexte mitdenken. Beide Länder waren bei den Vorgängerstudien schon top und Dänemark ist bei ICILS 2023 trotz eines nicht unerheblichen Kompetenzrückgangs im eigenen Land immer ganz weit oben im Ländervergleich. Ich würde daher für den Moment raten, verstärkt ins eigene Land zu schauen. Wir haben in Deutschland zahlreiche Schulen, die zukunfts- und schüler:innenorientiert aufgestellt sind und auch Querschnittsthemen wie Demokratiebildung mit digitalisierungsbezogenen Entwicklungen verknüpfen. Die Mittelwerte, die wir in ICILS bilden, machen diese Schulen bei erster Betrachtung unsichtbar, aber es gibt sie und wir können viel von ihnen lernen.

Redaktion: In Thüringen wurde kürzlich das Fach „Medienbildung und Informatik“ eingeführt und Hamburg testet ein Pflichtfach Informatik an ausgewählten Schulen. Halten Sie solche Fächer für einen effektiven Ansatz oder ist es wichtiger, digitale Kompetenzen fächerübergreifend zu integrieren?

Eickelmann: Wir hatten mit der KMK-Strategie aus dem Jahr 2016 ‘Bildung in der digitalen Welt’, die ja einen fächerintegrativen und fächerübergreifenden Ansatz verfolgt, die Hoffnung, dass wir so alle Schüler:innen erreichen können. Blickt man auf die vorgelegten Ergebnisse aus ICILS 2023, muss man leider sagen, dass das nicht ausgereicht hat. Daher begrüße ich die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen sehr. Die Antwort ist also: beides. Fächerintergrativ in den verschiedenen Fächern, auch weil sich das Lernen in den Fachdisziplinen ja auch inhaltlich verändert und die digitalen Möglichkeiten hier noch längst nicht ausgeschöpft sind. Und gleichzeitig gestärkt durch geeignete Fächer und Strukturen, die dafür sorgen, dass wirklich alle Schüler:innen erreicht werden. Der traditionelle Informatikunterricht kann hier nicht alles abdecken, was wir uns vorstellen und wünschen. Auch weil es um eine Transformation des Lernens geht und nicht nur um neue Inhaltsbereiche. Aber er kann, wie meine Kollegin Prof. Ira Diethelm einmal gesagt hat, das „Rückgrat“ für alle Entwicklungen sein. Wir müssen übrigens aufpassen, dass wir nicht ein Fach, egal, wie wir es nennen und ausrichten, vorschieben. Das würde ich dann eine Feigenblattdiskussion nennen, die die eigentlich notwendigen Transformationsprozesse im schulischen Bildungsbereich nur minimal abdeckt. Was wir vielmehr brauchen, ist eine gemeinsame Vision von zukunftsfähiger schulischer Bildung in Deutschland.

Redaktion: Frau Professorin Eickelmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Birgit Eickelmann hat den Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Sie leitet das Nationale Forschungszentrum der Studie International Computer and Information Literacy Study (ICILS). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung unter den Bedingungen der digitalen Transformation sowie in der empirischen Schulforschung.