Inklusion – Was das deutsche Schulsystem von Finnland lernen kann

Inklusion ist in Finnland fester Bestandteil des allgemeinen Unterrichts. Individuelle Lernpläne sind dort fest verankert. Was Deutschland davon lernen kann, fasst Benjamin Exner in seinem Gastbeitrag zusammen.
Wie das finnische Schulsystem mit Inklusion umgeht
Finnland verfolgt einen konsequent inklusiven Ansatz. Inklusion wird nicht als Sonderpädagogik verstanden, sondern als zentraler Bestandteil des allgemeinen Bildungssystems. Das Motto „Support for all“ greift diesen Anspruch auf und zeigt, dass die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Bedürfnissen fest in den Alltag des Unterrichts integriert ist.
Umgesetzt wird der Inklusionsansatz durch ein dreistufiges Unterstützungssystem:
Allgemeine Unterstützung: Alle Schülerinnen und Schüler erhalten einen differenzierten Unterricht, regelmäßige Fördergespräche und flexible Anpassungen im Schulalltag. Dafür nutzen Lehrkräfte verschiedene Methoden und Materialien, um auf individuelle Lernstile einzugehen. Regelmäßige Feedback-Gespräche mit Lernenden und Eltern tragen zum Erfolg dieser Maßnahmen bei. Außerdem arbeiten Lehrkräfte eng mit Schulpsycholog:innen sowie Fachkräften für soziale Arbeit zusammen. Zwar sind Letztere mittlerweile an Schulen in Deutschland die Regel, aber die ihnen zur Verfügung stehenden Stunden sind meist begrenzt und Schulpycholog:innen sind selten direkt an den Schulen tätig.
Erhöhte Unterstützung: Bei weitergehendem Bedarf erhalten Lernende zusätzliche Unterrichtsstunden, Kleingruppenförderung und individuelle Lernpläne. Es findet eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus statt.
Spezielle Unterstützung: Für Schüler:innen mit erheblichen und langfristigen Lernproblemen werden individuelle Bildungspläne erstellt. Ein interdisziplinäres Team von Fachkräften aus dem Sonderschulbereich, aus der Schulpsychologie und weiteren Disziplinen betreut die Kinder intensiv. Bei Bedarf werden an den Schulen spezialisierte Klassen für Kinder mit vergleichbaren Bedarfen gebildet, um die Kinder innerhalb dieses Schutzraumes passgenau fördern zu können.
Dieses Unterstützungssystem zeichnet sich durch Flexibilität und bedarfsgerechte Gestaltung aus. Die Förderung ist nahtlos in den Schulalltag integriert. Zudem verzichtet Finnland auf eine frühzeitige Aufteilung der Schüler:innen auf verschiedene Schulformen, was die Inklusion erleichtert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die hohe Wertschätzung des Lehrerberufs in Finnland. Die Ausbildung ist stark an den Ergebnissen der Bildungsforschung ausgerichtet und beinhaltet eine verpflichtende Eignungsprüfung vor Studienbeginn. Zudem wird ein hoher Stellenwert auf den Umgang mit heterogenen Lerngruppen gelegt. Lehrkräfte in Finnland werden kontinuierlich weitergebildet und arbeiten oft in multiprofessionellen Teams.
Was deutsche Schulen aus dem finnischen System übernehmen könnten
Frühzeitige und bedarfsgerechte Unterstützung: Ein gestuftes Unterstützungssystem kann helfen, den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Präventive Maßnahmen wie intensives Coaching durch die Klassenleitung, eine temporäre Erhöhung der Unterrichtszeit in für die Lernenden kritischen Fächern oder Maßnahmen vergleichbar zu Regelungen des Nachteilsausgleiches können größere Probleme verhindern.
Multiprofessionelle Teams: Die Zusammenarbeit von Lehrkräften mit Fachkräften aus Schulpsychologie, Sozialarbeit und anderen Disziplinen sollte intensiviert werden. Dies entlastet Lehrkräfte und bietet Schüler:innen eine ganzheitliche Förderung. Durch den Austausch verschiedener Expertisen kann eine ganzheitliche Förderung gewährleistet werden. Schulen könnten feste Teams etablieren, die gemeinsam Verantwortung für die Schülerschaft übernehmen.
Flexibilität im Unterricht: Anpassungen im Stundenplan, differenzierter Unterricht und individuelle Lernpläne sollten fest im Schulalltag verankert sein. Dies erfordert jedoch entsprechende Ressourcen und Freiräume für Lehrkräfte.
Stärkung der Lehrkräfteausbildung: Die Ausbildung sollte verstärkt auf Inklusion ausgerichtet sein. Lehrkräfte benötigen besondere Kompetenzen im Umgang mit heterogenen Lerngruppen und speziellen Förderbedarfen.
Engere Zusammenarbeit mit Eltern: Regelmäßige Gespräche und eine aktive Einbindung der Eltern in den Förderprozess können den Erfolg der Maßnahmen steigern. Transparente Kommunikation und gemeinsame Zielvereinbarungen schaffen Vertrauen und unterstützen die Entwicklung der Kinder auch außerhalb der Schule.
Investition in Ressourcen: Eine erfolgreiche Inklusion erfordert ausreichende finanzielle Mittel. Es müssen Investitionen in Personal, Räumlichkeiten und Materialien getätigt werden. Klassengrößen sollten reduziert und die Ausstattung der Schulen verbessert werden.
Vertrauen in die Professionalität der Lehrkräfte: Wie in Finnland sollte auch in Deutschland den Lehrkräften mehr Autonomie und Vertrauen entgegengebracht werden, um flexibel auf die Bedürfnisse der Lernenden reagieren zu können. Die Vorschriften zum Schulalltag richten sich häufig nach einem angenommenen “Regelbetrieb”, der so aber aufgrund der zahlreichen Sondersituationen an den Schulen häufig kaum noch stattfindet.
Solche tiefgreifenden Veränderungen können nicht über Nacht realisiert werden. Sie erfordern einen langfristigen politischen Willen, substanzielle Investitionen und einen Wandel in der Bildungskultur. Die Bildungspolitik in Deutschland muss bereit sein, mutige Schritte zu gehen, Schulen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen und Freiräume ermöglichen.
Schulen können jedoch bereits heute aktiv werden, indem sie die vorhandenen Freiräume nutzen, untereinander und mit den lokalen Schulpsychologischen Beratungszentren intensiv kooperieren, um so Synergien zu schaffen und innovative Konzepte zu erproben. Lehrkräfte haben die Möglichkeit, sich weiterzubilden und sich zu vernetzen, um voneinander zu lernen. Auch Eltern sollten ermutigt werden, sich aktiv am Schulleben zu beteiligen und neue Ansätze der Förderung offen zu unterstützen.
Was in Deutschland schiefläuft – am Beispiel Baden-Württemberg
Laut Kultusministerkonferenz wurde im Jahr 2022 bei rund 7,5 Prozent der Schüler:innen in Deutschland ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. In Baden-Württemberg basiert das Konzept der Inklusion darauf, dass alle Kinder, unabhängig ihrer individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse, gemeinsam unterrichtet werden. Eltern haben das Recht, ihr Kind entweder an einer Regelschule oder an einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SPBZ) anzumelden. In der Praxis stehen Schulen jedoch vor erheblichen Herausforderungen bei der Umsetzung dieses Anspruchs.
Aus meiner Erfahrung als Lehrkraft, Ausbilder und Konrektor habe ich festgestellt, dass Eltern oft Hemmungen haben, einen sonderpädagogischen Förderbedarf ihres Kindes zu akzeptieren. Sie scheuen die notwendigen Testungen und bevorzugen häufig die Regelschule, obwohl diese nicht immer die nötige personelle und materielle Ausstattung bietet. Dies führt dazu, dass Lehrkräfte den besonderen Bedürfnissen dieser Schülerinnen und Schüler oft ohne ausreichend Unterstützung gerecht werden müssen.
Ein zentrales Problem dabei ist der Mangel an qualifiziertem Personal. Trotz gesetzlichem Anspruch auf Inklusion kann das Bildungssystem diesem oft nicht entsprechen. Lehrkräfte bemühen sich zwar, geraten aber schnell in Überforderungssituationen, besonders wenn mehrere Kinder mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten in einer Klasse sitzen. Hinzu kommt, dass die Ausbildung der Lehrkräfte in Baden-Württemberg häufig nicht ausreichend auf die Herausforderungen der Inklusion vorbereitet. Fortbildungsangebote sind begrenzt und die notwendige Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Professionen ist nicht immer etabliert. Die Realität zeigt, dass die Qualität der Förderung leidet, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen.