„Die Entwicklung ist auf jeden Fall ernüchternd"

Prof. Dr. Petra Stanat, Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung (IQB), kommentiert im Interview die Ergebnisse des aktuellen IQB-Bildungstrends.

Die auf der IQB-Fachtagung am 17. Oktober 2022 veröffentlichten neuen Daten zum IQB-Bildungstrend 2021 zeigen: In fast allen Bundesländern hat sich das Kompetenzniveau von Viertklässler:innen in Deutsch und Mathematik verschlechtert. Welche Rolle spielt die Pandemie und wie ist die Lage in den einzelnen Bundesländern? Das beantwortet die Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Prof. Dr. Petra Stanat.

Redaktion: Prof. Stanat, bereits im Sommer diesen Jahres wurden erste Ergebnisse des aktuellen IQB-Bildungstrends vorgestellt. Demnach ist das Kompetenzniveau bei Schüler:innen der vierten Klasse insgesamt gesunken und zwar bundesweit. Im Fach Deutsch verfehlten fast 19 Prozent der getesteten Schüler:innen die Mindeststandards, im Fach Mathematik sogar 22 Prozent. Jetzt liegen die Daten für die einzelnen Bundesländer vor. Welches Bild ergibt sich daraus? 

Prof. Dr. Petra Stanat: In fast allen Ländern erreichen die Viertklässler und Viertklässlerinnen im Jahr 2021 ein deutlich geringeres Kompetenzniveau in den Fächern Deutsch und Mathematik als im Jahr 2016. Schon zwischen 2011 und 2016 zeichnete sich in den meisten Kompetenzbereichen, mit Ausnahme des Lesens, ein Abwärtstrend ab. Dieser hat sich anschließend noch einmal deutlich verschärft. Nur in Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz sind die Ergebnisse weitgehend stabil geblieben, allerdings auf unterschiedlichem Niveau. Denn die Entwicklungen über die Zeit sind das eine, die im Jahr 2021 dann erreichten Ergebnisse das andere. Je nachdem, wo ein Land gestartet ist, kann das letztlich erreichte Niveau trotz ungünstiger Entwicklungen mehr oder weniger gut ausfallen. In Bayern und Sachsen beispielsweise erreicht weiterhin ein höherer Anteil der Schülerinnen und Schüler die Bildungsstandards als in Deutschland insgesamt.

Redaktion: Wie ist es zu erklären, dass es Bayern, aber auch Sachsen besser gelingt, die Regel- und Mindeststandards in Deutsch und Mathe zu sichern? 

Stanat: Unsere Bildungstrends liefern Beschreibungswissen und nur sehr begrenzt Erklärungswissen. Worauf Unterschiede zwischen Erhebungszeitpunkten oder zwischen Ländern zurückzuführen sind, lässt sich anhand der Daten allein also nicht feststellen – hier können wir nur spekulieren. Bayern und Sachsen haben in den Schulleistungsstudien von vornherein sehr gut abgeschnitten, sowohl in der Grundschule als auch in der Sekundarstufe I. In dieser Hinsicht scheinen die Schulsysteme dieser Länder also gut zu funktionieren. Aber auch sie sind von den ungünstigen Veränderungen der letzten Jahre nicht ganz verschont geblieben.

„Das Beispiel Hamburg zeigt: Veränderungen sind möglich, sie erfordern aber einen langen Atem.“

Prof. Dr. Petra Stanat

Redaktion: Besonders interessant ist ja der Befund für Hamburg. Dort ist es gelungen, das Kompetenzniveau nahezu zu halten. Wie bewerten Sie das?

Stanat: Tatsächlich stellt sich die Befundlage für Hamburg völlig anders dar. Die Entwicklung, die wir für dieses Land sehen, ist wirklich bemerkenswert. In den ersten Ländervergleichsstudien bildete Hamburg gemeinsam mit Berlin und Bremen noch das Schlusslicht. Damals wurde teilweise argumentiert, die Ergebnisse solcher Untersuchungen seien nicht informativ, weil sie immer dasselbe zeigen würden: Die Stadtstaaten sind unten, die Flächenländer sind oben. Hamburg hat nun aber gezeigt, dass auch in einem Stadtstaat gute Ergebnisse erzielt werden können. Es lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen, worauf diese Veränderung zurückzuführen ist, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es etwas mit der Strategie der datengestützten Qualitätsentwicklung zu tun hat, die das Land im Laufe der letzten 20 Jahre etabliert hat. Diese umfasst eine ganze Reihe von aufeinander abgestimmten Elementen. Dazu gehören auch Rückmeldungen über die Lernentwicklung der Schüler und Schülerinnen mit dem System KERMIT, die Schulleitungen und Lehrkräfte zwischen der zweiten und neunten Jahrgangsstufe fast jährlich erhalten und – ganz wichtig – die Etablierung verbindlicher Strukturen, die den Umgang mit den Ergebnissen organisieren. Die „Kultur des Hinschauens“, wie der ehemalige Leiter des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ), Norbert Maritzen, den Hamburger Weg einmal bezeichnet hat, dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler verbessert haben. Das Beispiel Hamburg zeigt: Veränderungen sind möglich, sie erfordern aber einen langen Atem.

Redaktion: Häufig wird ja argumentiert, dass die sozioökonomische Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ist und von daher auch die Schulleistungen quasi zwangsläufig unterschiedlich ausfallen müssen. Lässt sich damit alles erklären?

Stanat: Die Zusammensetzung der Schülerschaft spielt durchaus eine Rolle – alles andere wäre auch überraschend – , aber sie erklärt bei Weitem nicht alles. Mit Zusatzanalysen haben wir geschätzt, wie sich die Ergebnisse im Jahr 2021 verändern würden, wenn die Schülerschaft in den einzelnen Ländern so zusammengesetzt wäre wie in Deutschland insgesamt, und zwar im Hinblick auf den sozioökonomischen Hintergrund, den Zuwanderungshintergrund und den Sprachgebrauch in der Familie. Die Ergebnisse zeigen, dass die Länderergebnisse durch diese sogenannten Adjustierungen näher zusammenrücken. Da in Sachsen beispielsweise relativ wenige Schüler und Schülerinnen einen Zuwanderungshintergrund haben, fallen die adjustierten Mittelwerte hier deutlich weniger günstig aus als die nicht adjustierten Mittelwerte und vor allem in Bremen ist es umgekehrt. Aber die Länderunterschiede verschwinden durch die Adjustierung keineswegs vollständig, sie sind weiterhin groß.

„Es macht einen Unterschied, ob 19 Prozent der Grundschulkinder zugewandert sind oder nur 4 Prozent.“

Prof. Dr. Petra Stanat

Redaktion: Die Kompetenzunterschiede zwischen dem Land mit dem höchsten und dem Land mit dem niedrigsten Mittelwert sind beträchtlich. In Deutsch beträgt der Rückstand fast ein, in Mathe gut drei Viertel eines Schuljahres. Wird damit nicht der Verfassungsauftrag, in ganz Deutschland für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen, mit Füßen getreten?

Stanat: Nein, das kann man so nicht sagen, eben weil sich die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler zwischen den Ländern so stark unterscheidet. Es macht einen Unterschied, ob 19 Prozent der Grundschulkinder zugewandert sind oder nur 4 Prozent und ob 56 Prozent der Kinder höchstens manchmal zu Hause Deutsch sprechen oder nur 23 Prozent. Deshalb ist der Ländervergleich weniger wichtig als die Entwicklung innerhalb der Länder, also etwa wie sich der Anteil der Kinder, die die Mindeststandards verfehlen, verändert hat. Die Reduktion dieses Anteils sollte ein wichtiges Ziel in jedem Land sein, unabhängig davon, wie sich die Schülerschaft zusammensetzt.

Redaktion: Mit Blick auf die Ergebnisse ist ja eine Frage besonders relevant: Handelt es sich bei den festgestellten Kompetenzverlusten vor allem um Auswirkungen der Corona-Pandemie oder um einen langfristigen Negativtrend? Wie lautet Ihre Antwort?

Stanat: Auch diese Frage lässt sich anhand unserer Daten nicht mit Sicherheit beantworten, aber es spricht doch einiges dafür, dass die pandemiebedingten Einschränkungen des Schulbetriebs eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Zum einen sind fast alle Bundesländer von den Einbußen betroffen, und dies in fast allen Kompetenzbereichen. Zum anderen haben auch Studien in anderen Staaten deutliche Hinweise darauf gefunden, dass die Corona-Pandemie die schulische Lernentwicklung beeinträchtigt hat. Besonders eindrücklich zeigen dies Ergebnisse des Bildungsmonitorings in den USA, wo beispielsweise in Mathematik das von Neunjährigen erreichte Kompetenzniveau zwischen 1971 und 2020 kontinuierlich angestiegen, zwischen 2020 und 2022 dann aber abrupt abgefallen ist. Das ist sehr wahrscheinlich ein Effekt der Corona-Maßnahmen, von dem sicher auch Deutschland nicht verschont geblieben ist. Anders als in den USA hatten wir aber in Deutschland schon vor 2020 einen negativen Trend, der sich möglicherweise auch ohne die Pandemie fortgesetzt hätte, wenn auch wahrscheinlich weniger stark.

Redaktion: Die IQB-Studie zeigt deutlich, dass von diesem Negativtrend vor allem Schülerinnen und Schüler aus sozioökonomisch schwächeren Familien betroffen sind. Mit anderen Worten: Die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland hat weiter zugenommen. Was läuft hier schief?

Stanat: Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die pandemiebedingten Einschränkungen im Schulbetrieb die Lernentwicklung von Kindern aus sozioökonomisch schwächeren und zugewanderten Familien besonders stark beeinträchtigt haben. Dies unterstreicht noch einmal, dass diese Schüler und Schülerinnen in ganz besonderem Maße auf schulische Förderung angewiesen sind. Wenn wir die Kopplung zwischen familiärer Herkunft und Lernerfolg reduzieren wollen, muss noch mehr darauf geachtet werden, dass möglichst alle Kinder solche basalen Kompetenzen wie Lese- und Schreibflüssigkeit erwerben und sie die Mindeststandards erreichen, die für erfolgreiches Weiterlernen grundlegend sind. Wir berichten zwar in den IQB-Bildungstrends regelmäßig, wie viele Schüler und Schülerinnen die Mindeststandards verfehlen, in der Schul- und Unterrichtsentwicklung spielen sie bislang aber kaum eine Rolle. Das sollte sich ändern.

Redaktion: Der Präsident des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung in Baden-Württemberg, Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke, wertet ihren Befund als „zweiten Pisa-Schock“. Wie sehen Sie es?

Stanat: Ich weiß nicht, ob ich den Begriff „Schock“ verwenden würde, denn wir haben aufgrund der Befunde aus anderen Staaten doch geahnt, dass sich die lange Phase des Fern- und Wechselunterrichts auf die Ergebnisse auswirken würden. Aber die Entwicklung ist auf jeden Fall ernüchternd. Zwischen den Jahren 2016 und 2021 liegt ja nicht nur das Pandemiejahr, sondern ein Zeitraum von insgesamt fünf Jahren und es ist nicht davon auszugehen, dass bis März 2021 eine positive Entwicklung stattfand, die dann durch die pandemiebedingten Einschränkungen zunichte gemacht wurde. Wahrscheinlich hätten wir also ohne Corona bestenfalls eine Stagnation im Vergleich zum Jahr 2016 gesehen, und auch das wäre nicht zufriedenstellend gewesen. 

„Meines Erachtens müssen wir uns stärker mit der Frage beschäftigen, wie die Mindeststandards besser erreicht werden können.“

Prof. Dr. Petra Stanat

Redaktion: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem aktuellen IQB-Trend? Was ist jetzt vorrangig zu tun, um den Negativtrend umzukehren?

Stanat: Eine Schlussfolgerung habe ich schon genannt: Meines Erachtens müssen wir uns stärker mit der Frage beschäftigen, wie die Mindeststandards besser erreicht werden können, die grundlegend für weitere Bildungsprozesse und Teilhabe sind. Um den Anteil der Schülerinnen und Schüler zu reduzieren, der die Mindeststandards nicht erreicht, sollte sich die Entwicklung von Unterrichts- und Förderkonzepten, die Entwicklung von Lehr-Lernmaterial, die Unterstützung von Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung stärker als bisher auch an diesen Kompetenzzielen orientieren. Wichtig ist zudem, dass die Sprachförderung weiter verbessert wird, denn der Abwärtstrend ist für den Bereich Zuhören besonders groß und mündliches Sprachverstehen ist für das Lernen in allen Fächern zentral. Und vor allem müssen Kinder mit ungünstigen Lernvoraussetzungen auch schon in der Kita gezielter gefördert werden. Dieses Potenzial wird noch zu wenig genutzt.

Redaktion: Frau Professorin Stanat, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Petra Stanat ist seit 2010 Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin, das unter anderem mit der Weiterentwicklung, Operationalisierung und Überprüfung der nationalen Bildungsstandards betraut ist. Die Professorin für Empirische Bildungsforschung ist als gefragte Expertin unter anderem Mitglied in mehreren Gremien, etwa dem Beirat für die Umsetzung von Empfehlungen zur Steigerung der Qualität von Bildung und Unterricht in Berlin oder dem wissenschaftlichen Beirat des Instituts des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören soziale, zuwanderungsbezogene und geschlechtsbezogene Disparitäten im Bildungserfolg, Bedingungen und Förderung des Bildungserfolgs von Heranwachsenden mit Zuwanderungshintergrund, Zweitsprachförderung und Lesekompetenz sowie Bildungsqualität und Bildungsmonitoring.

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrend können hier heruntergeladen werden