„Faktisch haben wir wie 2001 einen PISA-Schock“

Der Kompetenzverlust bei Grundschülern ist dramatisch. Im Vorfeld der Fachtagung zum IQB-Bildungstrend in Berlin beleuchten die Mitherausgeber dieses Magazins, Prof. Dr. Ulrich Trautwein und Dr. Thomas Riecke-Baulecke, die Tragweite der Veranstaltung.

Um sich über drängende schulpolitische Fragen auszutauschen, treffen sich am 17. Oktober 2022 in Berlin Verantwortliche aus Politik und Verwaltung mit namhaften Vertretern der Bildungsforschung. Im Mittelpunkt der siebten Veranstaltung dieser Art steht der aktuelle IQB-Bildungstrend, der bei den Viertklässler:innen der Grundschulen des Jahres 2021 eklatante Kompetenzverluste festgestellt hat, die nur zum Teil als Folge der Corona-Pandemie zu erklären sind. Vor diesem Hintergrund betonen die Mitherausgeber dieses Magazins, Prof. Dr. Ulrich Trautwein und Dr. Thomas Riecke-Baulecke, die Bedeutung der Tagung

Redaktion: Herr Riecke-Baulecke, das Thema der Fachtagung hat ja bereits im Juli dieses Jahres Aufsehen erregt. Da wurden erste Ergebnisse des IQB-Bildungstrends bekannt gegeben, mit bedenklichen Befunden zum Lernstand in den vierten Klassen der Grundschulen. Wie ist das bei Ihnen angekommen und wie bewerten sie den diagnostizierten Kompetenzrückstand bei vielen Kindern? 

Dr. Thomas Riecke-Baulecke: Faktisch haben wir wie 2001 einen „PISA-Schock“, mit dem gravierenden Unterschied, dass die Öffentlichkeit diesen Schock angesichts der verschiedenen aktuellen Krisenkonstellationen so nicht wahrnimmt. 2001 mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass rund ein Viertel der Schülerschaft nicht sinnentnehmend lesen und selbst mit einfachen mathematischen Zusammenhängen nicht sachkundig umgehen konnte. Durch große Kraftanstrengungen auf allen Ebenen konnten bis 2012 deutlich Verbesserungen erreicht werden. Deutschland gehörte zu den wenigen Ländern weltweit, die deutliche Fortschritte bei den Schülerleistungen vorweisen konnten. Bei PISA 2015 und 2018 gab es erste Hinweise und auch deutliche Warnungen, dass wir wieder in eine schwierige Lage hineinkommen. Bereits zuvor hatte Jürgen Baumert (ehem. Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Anm. d. Redaktion) im Jahr 2012 in der damaligen Printversion von schulmanagement prognostiziert, dass die erzielten Erfolge wieder versanden werden, wenn angesichts der Veränderungen in der Schülerschaft nicht erneute Kraftanstrengungen unternommen würden. Er hat leider recht behalten. 

Wir müssen selbstkritisch festhalten, dass nicht genügend und auch nicht immer das Richtige zur Förderung schwächerer Schülerinnen und Schüler getan wurde. Wenn 25 Prozent der Schülerschaft beim Beherrschen der Verkehrssprache und im Umgang mit mathemischen Sachverhalten Probleme hat, dann werden Zukunftschancen, Anschlussfähigkeit und Teilhabe eines relevanten Teils der nachwachsenden Generation stark beeinträchtigt. Das ist gegenüber den Kindern und Jugendlichen nicht verantwortbar und für die Gesellschaft als Ganzes nicht akzeptabel, gerade auch mit Blick auf die Stabilität unserer Demokratie. Und auch für die Bewältigung des akuten Fachkräftemangels in Deutschland ist es schließlich entscheidend, dass wir die Sicherung von Basiskompetenzen ins Zentrum schulischer und bildungspolitischer Anstrengungen stellen.

„Wir haben in vielen Bundesländern über viele Jahre eine letztlich wenig nachhaltige „Projektitis“ gesehen.“

Prof. Dr. Ulrich Trautwein

Redaktion: Herr Trautwein, auf der Veranstaltung werden neue länderspezifische Ergebnisse des IQB-Bildungstrends präsentiert und über mögliche Konsequenzen diskutiert. Was sind für Sie dabei die zentralen Fragestellungen?

Prof. Dr. Ulrich Trautwein: Die neuen Befunde aus den Ländern sind von überragendem Interesse und Bezugspunkt für wichtige Fragen. Finden wir überall dieselben langfristigen Trends, die von kurzfristigeren Einflüssen wie der Corona-Pandemie überlagert werden? Oder können sich erneut bestimmte Bundesländer vom langfristigen Trend entkoppeln? 

Die zweite zentrale Frage gilt den notwendigen Maßnahmen. Wir haben in vielen Bundesländern über viele Jahre eine letztlich wenig nachhaltige „Projektitis“ gesehen. Es wurde vieles angeschoben und durchgeführt, aber es war nicht immer empirisch gut fundiert. Vielen Projekten mangelte es an einer konsequenten Strategie und kaum eines wurde gründlich evaluiert. Hier wird es interessant zu sehen, ob und welche Fortschritte zu verzeichnen sind. 

Nicht zuletzt verspreche ich mir von der Tagung auch, dass sie einen Eindruck vermitteln kann, wie gut es tatsächlich gelingt, der Bildung die Aufmerksamkeit und die Priorität in Politik und öffentlichem Diskurs zu verschaffen, die nötig sind für die Lösung der anstehenden Herausforderungen. 

Redaktion: Die Tagung ist hochkarätig besetzt mit namhaften Vertretern aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft. Welche Erwartung verbinden Sie mit dieser Veranstaltung, wie würden Sie die Zielsetzung beschreiben?

Riecke-Baulecke: Ich wünsche mir eine ehrliche und offene Bestandsaufnahme mit dem Blick nach vorn. Kein Bundesland wird behaupten können, alles richtig gemacht zu haben. Wir sollten von Erfahrungen unterschiedlicher Ansätze lernen. Vor allem ist einiges auf den Prüfstand zu stellen. Dazu gehört die Aussage, dass angesichts der wachsenden Heterogenität der Schülerschaft die Probleme nicht verwunderlich seien. Aber das greift mir zu kurz. Es ist doch kein Naturgesetz, dass damit Leistungsdefizite wachsen müssen! Wir sind aufgefordert, ohne Scheuklappen die möglichen Ursachen für die festgestellten Leistungsdefizite zu analysieren, mögliche Lösungsansätze konsequenter als bisher in den Blick zu nehmen und diese dann auch entschlossen umzusetzen.

„Es ist jetzt allerhöchste Zeit, dass wir uns endlich wieder den zentralen inhaltlichen Herausforderungen stellen.“

Dr. habil. Thomas Riecke-Baulecke

Trautwein: Das sehe ich ganz genauso und bin mir mit Herrn Riecke-Baulecke einig, dass es dazu notwendig ist, die Anstrengungen zur Sicherung von Basiskompetenzen nochmals zu intensivieren, und zwar auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das bedeutet nach meiner Einschätzung: Kindergarten, Grundschule und weiterführende Schule müssen in Zukunft in manchen Bereichen ganz anders arbeiten als heute. Und zwar mit einem stärkeren Fokus auf Diagnostik, verlässlicher, systematischer Förderung und darüber hinaus mit adaptiven, personalisierten Bildungsangeboten für alle Schülerinnen und Schüler. Dafür benötigen wir einen entscheidenden nächsten Schritt bei der Digitalisierung, exzellent aus- und fortgebildete Lehrkräfte und Schulleitungen, die fähig und willens sind ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Ich würde mir wünschen, dass dies auf der Tagung klar genug ausgesprochen wird.

Redaktion: Herr Riecke-Baulecke, im Vorgespräch haben Sie kurz erwähnt, dass Sie diese Tagung für die vielleicht wichtigste im bildungspolitischen Veranstaltungskalender des Jahres halten. Warum?

Riecke-Baulecke: Zweieinhalb Jahre Corona-Krisenmanagement haben viel Kraft und Aufmerksamkeit gekostet. Das ist nachvollziehbar, war notwendig und möglicherweise wird uns die Pandemie noch etwas länger beschäftigen als uns lieb ist. Aber daneben ist es jetzt auch allerhöchste Zeit, dass wir uns endlich wieder den zentralen inhaltlichen Herausforderungen stellen. Die veränderte Weltlage stellt uns doch ganz grundsätzlich vor die Aufgabe, die Leistungsfähigkeit unseres Schulsystems zu stärken, denn es bleibt die alte Erkenntnis richtig, dass Wissen unser wichtigster Rohstoff ist, um im Wettbewerb zu bestehen. Und ich bin mir sicher, dass die Veranstaltung gerade mit Blick auf elementare Grundsatzfragen und Probleme unserer Schulpraxis wichtige Impulse setzen wird.

Redaktion: Herr Doktor Riecke-Baulecke, Herr Professor Trautwein, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Statt eines Fazits: Der kurze Blick nach vorn von Prof. Dr. Ulrich Trautwein

„Wie schaffen wir es, dass es jetzt wirklich anders wird?“, fragte Prof. Dr. Ulrich Trautwein zum Abschluss der IQB-Fachtagung am 17. Oktober in Berlin, die sich mit den Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends befasste. Ansatzpunkte für Veränderungen sieht der Bildungsforscher auf mehreren Ebenen.

Zehn-Jahres-Programme
Als Antwort auf die alarmierenden Ergebnisse des IQB-Bildungstrend 2021 fordert Trautwein verpflichtende 10-Jahres-Programme anstatt einer neuen „Projektitis“. Man brauche auch mehr Verbindlichkeit; entsprechend sollte auch im Nationalen Bildungsbericht regelmäßig dokumentiert werden, ob die Bildungsziele erreicht wurden und welche Investitionen von Bund und Ländern wirksam waren.

Bildungspolitik muss Chefsache werden 
Trautwein appelliert zudem an die Politik, die Idee der "Bildungsrepublik Deutschland" ernst zu nehmen. Nicht nur die Kultusministerien sollten für gute Bildung kämpfen – auch der Kanzler und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten seien gefragt, denn nur so bestehe eine Gewähr dafür, dass alle im Land am gleichen Strang ziehen würden. So seien beispielsweise die Sozialministerien bei der Professionalisierung der Kindertageseinrichtungen gefragt und die Wissenschaftsministerien bei der Lehrkräftebildung. 

Überzeugung von Lehrkräften und Erzieherinnen und Erzieher
Frühkindliche Sprachförderung und ein klarer Fokus auf Basiskompetenzen seien nachweislich effektiv, um die langfristigen Teilhabechancen aller Kinder zu fördern. Es gehe nun darum, die wissenschaftlichen Befunde in die Praxis zu überführen. Dabei gilt es die Lehrkräfte und die Erzieherinnen und Erzieher mitzunehmen – etwa für die Implementierung von Fördermaßnahmen. Das gelingt Trautweins Ansicht nach noch zu wenig — bessere Strategien seien gefragt.

Zur Person

Thomas Riecke-Baulecke ist Präsident des Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) in Baden-Württemberg. Zuvor hat er unter anderem das schleswig-holsteinische Institut für Qualitätsentwicklung aufgebaut und 15 Jahre lang geleitet. Von 2002 bis 2021 war er zudem Herausgeber der Zeitschriften schulmanagement und des Schulmanagement-Handbuchs.

Zur Person

Ulrich Trautwein ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen, geschäftsführender Direktor des Hector-Instituts für Empirische Bildungsforschung, Co-Direktor des LEAD Graduate School & Research Network sowie Studiengangsleiter des Weiterbildungsstudiengangs „Schulmanagement und Leadership“ an der Universität Tübingen.