Jedes Kind lernt anders – Wie adaptiver Unterricht Vielfalt berücksichtigt

Adaptiver Unterricht verspricht den Lernvoraussetzungen aller Schüler:innen gerecht zu werden. Für die praktische Umsetzung hat Prof. Hanna Dumont konkrete Empfehlungen.

Schülerinnen und Schüler bringen verschiedene Interessen und Fähigkeiten mit in die Schule. Adaptiver Unterricht geht auf diese individuellen Lernvoraussetzungen ein. Aber wie lässt sich dieses Konzept im Schulalltag umsetzen? Prof. Hanna Dumont erklärt, wie bereits kleine Schritte zu einer nachhaltigen Unterrichtsentwicklung führen können. 

Redaktion: Frau Prof. Dumont, um adaptiven Unterricht zu erklären, wird häufig der Vergleich mit einem Garten und seinen verschiedenen Pflanzen verwendet. Welche Parallelen lassen sich zwischen dieser Metapher und dem Schulalltag ziehen?

Prof. Dr. Hanna Dumont: Die grundlegende Annahme ist, dass jedes Kind mit ganz individuellen Eigenschaften und Lernvoraussetzungen ins Klassenzimmer kommt. Ein einheitliches Unterrichtsangebot für alle ist daher wenig lernwirksam – vergleichbar mit einem Gärtner oder einer Gärtnerin, die alle Pflanzen gleich gießen, ohne auf ihre spezifischen Bedürfnisse einzugehen. Während es in der Gartenpflege selbstverständlich ist, auf die unterschiedlichen Anforderungen der Pflanzen zu achten, ist dies im Schulunterricht noch nicht der Standard. Hier dominiert nach wie vor das Prinzip, allen Schülerinnen und Schülern in einem Unterricht dasselbe Angebot zu machen. 

Redaktion: Lernen ist ein sehr individueller Prozess. Wovon hängt dieser ab?

Dumont: Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich nicht nur in ihren Leistungen, sondern auch in vielen anderen relevanten Merkmalen. Besonders wichtig sind dabei motivationale und emotionale Aspekte, aber auch Faktoren wie die kulturelle Herkunft oder die sprachlichen Voraussetzungen, insbesondere die Muttersprache. Die zentrale Idee des adaptiven Unterrichts ist es daher, das Unterrichtsangebot stärker an den individuellen Lernvoraussetzungen auszurichten, um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden.

„Adaptiver Unterricht bedeutet, dass Lernen trotz individualisierter Phasen stets in der Klassengemeinschaft verankert bleibt.“

Prof. Dr. Hanna Dumont

Redaktion: Gleichzeitig bedeutet adaptiver Unterricht nicht individualisierter Unterricht. Worin liegen die Unterschiede?

Dumont: Adaptiver Unterricht ist nicht das einzige Konzept, das auf die Anpassung an unterschiedliche Bedürfnisse abzielt. Interessanterweise variieren die Begriffe je nach Region und wissenschaftlicher Disziplin: In den Niederlanden ist Differentiated Instruction gängig, während im angloamerikanischen Raum Personalized Learning vorherrscht.

Den Begriff Adaptiver Unterricht oder auch Adaptives Lehren und Lernen halte ich für besonders treffend, da das "Adaptive" bereits im Namen verankert ist und verdeutlicht, dass es nicht um eine Individualisierung im Sinne der Vereinzelung geht. Ein zentraler Gedanke dieses Konzepts, der in anderen Begrifflichkeiten manchmal verloren geht, ist die Wechselwirkung innerhalb der Lernumgebung – ähnlich wie im Garten, in dem sich Pflanzen gegenseitig stimulieren und befruchten können.

Adaptiver Unterricht bedeutet, dass Lernen trotz individualisierter Phasen stets in der Klassengemeinschaft verankert bleibt. Neben individuellen Lernformen gibt es immer auch kooperative Lernphasen in kleineren Gruppen, und es wird bewusst darauf geachtet, das Unterrichtsgeschehen regelmäßig zusammenzuführen. Beispielsweise berichten die Schülerinnen und Schüler am Ende einer Stunde über ihre Arbeit oder starten den Tag gemeinsam im Morgenkreis. Zudem gibt es Aufgaben, die die gesamte Gruppe einbeziehen, wobei jedes Kind einen eigenen Schwerpunkt setzt, aber alle gemeinsam an einer kollektiven Aufgabe arbeiten. 

Redaktion: Was bedeutet adaptives Lehren und Lernen für die Praxis?

Dumont: Metaanalysen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler mit geringen Vorkenntnissen eine hohe Strukturierung und Anleitung durch die Lehrkraft benötigen, während leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sich besser entwickeln, wenn sie mehr Freiheiten erhalten.

Genau hier setzt der adaptive Unterricht an: Die Rolle der Lehrperson variiert je nach Vorwissen und individuellem Lernstand. Dabei geht es nicht nur um Unterschiede zwischen Lernenden, sondern auch um Anpassungen im Lernverlauf. Zu Beginn benötigt ein Kind oft eine enge Anleitung und klare Struktur, doch mit wachsendem Verständnis zieht sich die Lehrkraft zunehmend zurück. Ein zentraler Aspekt des adaptiven Unterrichts ist daher die Förderung selbstregulierten Lernens. Die adaptive Unterstützung der Lehrkraft und die Entwicklung der Selbstregulation gehen dabei Hand in Hand: Je weiter der Lernprozess fortschreitet, desto mehr Raum erhalten die Schülerinnen und Schüler, um eigenständig zu arbeiten und Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen. 

Redaktion: Wenn wir beim Gartenvergleich bleiben – Wie erkennen Lehrkräfte, welche Pflanze gerade Wasser benötigt und welche Unterstützung durch eine Rankhilfe braucht?

Dumont: Im adaptiven Unterricht nimmt die lernbegleitende Diagnostik eine zentrale Rolle ein, da sie kontinuierlich und direkt im Lernprozess eingesetzt wird. Anders als traditionelle summative Diagnostik, bei der zum Beispiel Klassenarbeiten am Ende eines Zeitraums die Lernstände abbilden, ermöglicht die lernbegleitende Diagnostik eine deutlich häufigere Rückmeldung. Diese Rückmeldungen geben den Lehrkräften die Möglichkeit, sofort zu reagieren und die Unterstützung individuell anzupassen.

In einigen Ländern wie den USA oder den Niederlanden kommen hierfür standardmäßig computergestützte Tools zum Einsatz, lernbegleitende Diagnostik ist aber auch ohne Software umsetzbar. Lehrpersonen können beispielsweise während Übungsphasen den Lernfortschritt ihrer Schülerinnen und Schüler überprüfen, indem sie durch die Reihen gehen oder Hausaufgaben analysieren. Einzelgespräche mit Schülerinnen und Schülern können helfen, Lernstände besser zu verstehen und bei Bedarf Fehlkonzepte aufzudecken. Das ermöglicht Lehrkräften, gezielt auf Verständnisprobleme einzugehen und die eigenen Erklärungen anzupassen. Viele Lehrkräfte machen eine solche lernbegleitende Diagnostik intuitiv. Es geht darum, dies zu systematisieren und gezielt für die Anpassung des Unterrichts nutzbar zu machen.

Redaktion: Welche Maßnahmen sind notwendig, um adaptiven Unterricht umzusetzen?

Dumont: Adaptiver Unterricht erfordert eine sorgfältige Unterrichtsplanung. Dies gilt insbesondere für sogenannte Makroanpassungen. Das sind größere, planbare Anpassungen des Unterrichtsangebots, die in den Bereich der Binnendifferenzierung fallen. Hier entscheidet die Lehrkraft beispielsweise im Vorfeld, ob sie Aufgaben mit verschiedenen Schwierigkeitsniveaus anbietet oder dieselbe Aufgabe mit differenzierten Komponenten variiert. Auch die Bereitstellung verschiedener Hilfsmaterialien braucht natürlich Vorbereitung.

Neben langfristigen Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung sind aber auch spontane Mikroanpassungen nötig – etwa, wenn eine zusätzliche Erklärung erforderlich ist oder eine Lehrkraft motivierend eingreift, um Lernende zu ermutigen. Adaptiver Unterricht zeichnet sich durch ein Zusammenspiel von Makro- und Mikroanpassungen aus.

Ganz konkret: Adaptive Aufgabenstellung

Ein anschauliches Beispiel ist die Aufgabenstellung, die ich in einer jahrgangsgemischten Klasse mit Schülerinnen und Schülern von der ersten bis zur vierten Klasse zum Thema Wasser beobachten durfte. Während Erstklässlerinnen und Erstklässler Fragen wie „Wie viel Wasser gibt es auf der Welt?“ recherchierten, stellten Lernende der vierten Klasse komplexere physikalische Fragen wie „Was passiert, wenn Wasser verdampft?“. Am Ende trugen alle ihre Erkenntnisse zusammen und profitierten gegenseitig von den Ergebnissen – ein Beispiel für Individualisierung, die nicht zur Vereinzelung führt, sondern den Mehrwert gemeinschaftlichen Lernens betont.

Eine weitere Anpassung besteht darin, gezielt mit kleineren Gruppen zu arbeiten: So kann sich die Lehrkraft etwa mit einer kleinen Gruppe Schülerinnen und Schülern zurückziehen, um zentrale Prinzipien der Bruchrechnung noch einmal detailliert zu erklären. Gleichzeitig können andere Schülerinnen und Schüler selbstständig arbeiten, zum Beispiel mit Noise-Canceling-Kopfhörern, um konzentriert an eigenen Aufgaben zu bleiben.

Dieses flexible Unterrichtsmodell kann von Stunde zu Stunde variieren: Mal arbeiten die Lernenden allein, mal in Gruppen, mal erhalten sie direkte Instruktionen von der Lehrkraft. Diese Vielfalt ermöglicht es, individuelle Lernbedürfnisse bestmöglich zu berücksichtigen. 

Redaktion: Wie wirkt sich die unterschiedliche Aufgabenstellung auf die Selbstwahrnehmung der Schüler:innen aus, die besonders empfänglich für soziale Vergleiche sind?

Dumont: Ich vermute, dass sich Unterschiede im adaptiven Unterricht weniger stark als Problem darstellen. Soweit ich weiß, gibt es dazu keine eindeutigen empirischen Erkenntnisse, aber wenn alle die gleichen Aufgaben bearbeiten, könnten Unterschiede deutlicher sichtbar werden – etwa, wenn manche Schülerinnen und Schüler eine Aufgabe nicht lösen können oder länger brauchen. In einem adaptiven Setting arbeiten hingegen alle an unterschiedlichen Aufgaben, sodass es für die Lernenden oft gar nicht ersichtlich ist, wer welches Niveau bearbeitet.

Spannend ist, dass in den Schulen, die wir beobachtet haben, Heterogenität nicht nur akzeptiert, sondern aktiv wertgeschätzt wurde. Hier ging es nicht darum, Defizite hervorzuheben, sondern Stärken und Schwächen als normale, individuelle Unterschiede anzuerkennen.

Zudem ist es für Kinder hilfreich, wenn ihre Lernfortschritte nicht an den Leistungen der Mitschülerinnen und Mitschüler, sondern an ihrer eigenen Entwicklung gemessen werden. Zudem dürfte ein hoher Grad an konstruktiver Unterstützung durch die Lehrkraft dazu beitragen, dass sich Kinder nicht als „abgehängt” fühlen. Im Idealfall verhindert adaptiver Unterricht genau dieses Gefühl, weil er an den individuellen Voraussetzungen ansetzt. 

Redaktion: Bei Adaptivität geht es auch darum, Schule und Klassenraumkonzepte neu zu denken. Welche Rolle spielen dabei Schulleitungen? 

Dumont: Wir haben bei unseren Schulhospitationen beobachten können, dass die Schulleitung eine entscheidende Rolle spielt. In Schulen, die erfolgreich mit adaptivem Unterricht arbeiten, basiert das Konzept auf einer gemeinsamen schulweiten Strategie. Ohne eine flexible Schulstruktur stößt man schnell an räumliche, organisatorische und personelle Grenzen.

  • Räumliche Flexibilität bedeutet dabei, kleinere Räume für Kleingruppenarbeiten zu schaffen, sowie offene Lernbereiche, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, sich die Schule als Lernraum anzueignen.
     
  • Organisatorische Flexibilität kann bedeuten, Schülerinnen und Schüler flexibel zu gruppieren. Während es meist Stammklassen gibt, werden diese n vielen Schulen regelmäßig neu in Lerngruppen unterteilt, um differenzierte Lernangebote zu ermöglichen. So können beispielsweise zwei Lehrkräfte gleichzeitig mit unterschiedlichen Gruppen arbeiten und gezielter auf die individuellen Bedürfnisse eingehen.
     
  • Auch die zeitliche Organisation spielt eine entscheidende Rolle. Viele adaptiv unterrichtende Schulen verzichten auf klassische 45-Minuten-Takte und setzen stattdessen auf längere Unterrichtsblöcke von 90 Minuten oder mehr. Statt starrer Stundenpläne gibt es oft ein flexibles Raster, in dem Lehrkräfte situativ entscheiden können, wann eine Pause sinnvoll ist.
     
  • Personelle Flexibilität zeigt sich zum Beispiel im Teamteaching. Gerade in Zeiten des Lehrkräftemangels ist dies eine Herausforderung, aber die Vorteile sind enorm. Ob durch zwei gleichberechtigte Lehrkräfte, eine Lehrkraft und sonderpädagogische Fachkraft oder ein multiprofessionelles Team – gemeinsames Unterrichten erleichtert sowohl die Unterrichtsgestaltung als auch die notwendige Vorbereitung, da Aufgaben auf mehrere Schultern verteilt werden.

Redaktion: Die wenigsten Lehrkräfte haben gelernt, adaptiv zu unterrichten. Wie können Lehrkräfte dennoch den Schritt hin zu adaptivem Unterricht gehen?

Dumont: Es gibt keinen klaren Gegensatz zwischen adaptivem Unterricht und nicht-adaptivem Unterricht – vielmehr existieren unterschiedliche Grade der Adaptivität. Für Lehrkräfte, die damit beginnen möchten, ist es wichtig, schrittweise vorzugehen, anstatt alles auf einmal umzustellen, da dies schnell überfordernd sein kann.

Ein guter erster Schritt könnte sein, Hausaufgaben nicht nur auf Vollständigkeit zu prüfen, sondern genauer anzusehen, wie die Aufgaben gelöst wurden. Das wäre eine einfache, aber wirkungsvolle Form der formativen Diagnostik, die sofort umsetzbar ist. Von dort aus kann man gezielt überlegen: Welche Schülerinnen und Schüler brauchen eine zusätzliche Erklärung? Wer profitiert von weiterführendem Material? In der nächsten Übungsphase kann man dann mit kleinen Anpassungen experimentieren und so Schritt für Schritt die Variationen im Unterricht ausbauen.

Redaktion: Wie können (angehende) Lehrkräfte besser auf adaptiven Unterricht vorbereitet werden? 

Dumont: Aus meiner Sicht braucht es dafür die gleichen professionellen Kompetenzen, die alle Lehrkräfte benötigen. Eine besondere Bedeutung haben vermutlich die diagnostischen Kompetenzen. Eine häufige Frage, die ich bei Vorträgen gestellt bekomme, lautet: „Wie soll das denn überhaupt gehen?“ Das ist verständlich, denn wenn man ein Unterrichtsmodell anbietet, das jemandselbst nicht erlebt hat, fällt es schwer, sich vorzustellen, wie es in der Praxis funktionieren könnte. Um diese Frage greifbar zu machen, wollen wir in den nächsten Monaten E-Learning-Videos entwickeln, in denen echter Unterricht gefilmt wird. Lehrkräfte, die schon auf adaptive Weise lehren, kommentieren ihren Unterricht und berichten, wie dieser in der Praxis aussieht. Das ist eine niedrigschwellige Möglichkeit, einen ersten Eindruck zu bekommen.

Zusätzlich ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken notwendig. Ich kann zwar das Grundkonzept des adaptiven Unterrichts erklären, aber entscheidend ist, wie man es im Fachunterricht konkret umsetzt. Es geht darum, fachdidaktisch zu durchdenken, welche Lernverlaufsdiagnostik zur Verfügung steht, welche Fehlkonzepte in einer bestimmten Jahrgangsstufe identifiziert werden müssen und welche typischen Aufgaben im Fach eventuell variiert werden können. Solche Überlegungen erfordern ein koordiniertes Zusammenarbeiten zwischen allen Disziplinen, die in der Lehrkräfteausbildung involviert sind. 

Redaktion: Wie können digitale Tools bei adaptivem Unterricht unterstützen?

Dumont: Digitale Technologien können adaptiven Unterricht erheblich erleichtern, sollten aber stets unterstützend und gezielt eingesetzt werden, anstatt die Verantwortung für das Lernen an die Technologie abzugeben. Ein großes Potenzial liegt in adaptiver Lernsoftware, die sowohl diagnostiziert als auch automatisch passende Aufgaben anbietet. Dies kann vor allem in Routinefächern sinnvoll sein, in denen Grundkompetenzen aufgebaut werden. 

Redaktion: Können sich Lernsoftwares auch kontraproduktiv auswirken?

Dumont: Ein Risiko dieser Technologien besteht darin, dass Lehrkräfte ihre eigene Rolle unterschätzen oder das Gefühl haben, überflüssig zu werden. Ebenso könnte eine zu starke Abhängigkeit von Technologie dazu führen, dass Schülerinnen und Schülern nicht aktiv am Lernprozess teilnehmen. Während manche Kinder sich selbstständig mit digitalen Tools auseinandersetzen können, brauchen andere mehr Anleitung und Motivation, um nicht einfach nur passiv zu klicken.

In den Niederlanden gibt es bereits Entwicklungen, die eine flexible Steuerung solcher Lerntechnologien ermöglichen. Dabei kann entweder die Technologie selbst die nächsten Aufgaben bestimmen, die Lehrkraft gezielt steuern oder sogar die Lernenden Mitverantwortung übernehmen. Eine solche Anpassung kann helfen, digitale Tools sinnvoll in den Unterricht zu integrieren und die Selbstregulation der Lernenden gezielt zu fördern. 

Weiterlesen: Adaptiver Unterricht: Wie er funktioniert und was digitale Medien leisten können
Im Gastbeitrag geben Dr. Leonie Sibley und Prof. Dr. Andreas Lachner praxistaugliche Beispiele für einen digital gestützten adaptiven Unterricht.

Redaktion: Im Rahmen Ihres Forschungsnetzwerkes E-ADAPT beschäftigen Sie sich mit der Umsetzung von adaptivem Unterricht in Deutschland und Europa. Wie wird adaptiver Unterricht in anderen Ländern umgesetzt?

Dumont: Durch unsere Schulhospitationen in Finnland, Estland, England, den Niederlanden und der Schweiz wurde uns besonders bewusst, wie unterschiedlich Bildungssysteme funktionieren – und wie viel Deutschland von anderen Ländern lernen kann. Besonders beeindruckt hat mich der selbstverständliche Umgang mit Technologie im Unterricht. In vielen Ländern wird sie nicht als Allheilmittel gesehen, aber pragmatisch als hilfreiches Werkzeug genutzt – ähnlich wie ein Lehrbuch. Diese Offenheit fehlt in Deutschland oft noch.

Ein weiteres zentrales Learning war, dass sich erfolgreiche Bildungspraktiken nicht einfach von einem Land auf ein anderes übertragen lassen. Die strukturellen Unterschiede sind zu groß: In den Niederlanden beispielsweise genießen Schulen einen hohen Grad an Autonomie, in der Schweiz spielen die pädagogischen Hochschulen eine große Rolle und in Estland legt man viel Wert auf die Zusammenarbeit mit Universitäten, hat aber auch insgesamt eine deutlich kleinere Struktur.

Daraus ergibt sich, dass nicht nur einzelne Lehrkräfte für den Fortschritt verantwortlich sein können. Es braucht systemische Veränderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems. Bevor man erfolgreiche Unterrichtspraktiken aus anderen Ländern übernimmt, müssen unterstützende Strukturen geschaffen werden. In Baden-Württemberg sieht man mit dem IBBW, das Verlaufsdiagnostiken implementieren kann, und dem ZSL, das für die Lehrkräftefortbildung zuständig ist, erste Ansätze, wie solche Prozesse über Multiplikatoren ins Bildungssystem getragen werden können.

Ein großer Erkenntnisgewinn aus E-ADAPT war also: Gute Praxis braucht passende Strukturen. Bildung darf nicht nur als individuelles Problem einzelner Lehrkräfte betrachtet werden, sondern muss systemisch unterstützt werden. 

Redaktion: Frau Professorin Dumont, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Hanna Dumont ist Professorin für Pädagogische Psychologie mit dem Schwerpunkt schulische Lehr-Lern-Prozesse an der Universität Potsdam.

  • Dumont, H., Hofer, S., & Reinhold, F. (2025). Schülermerkmale und adaptiver Unterricht. In Studienbuch Bildungswissenschaften 2 (S. 173–191).