Jenseits von Ziffernnoten: Warum eine alternative Prüfungspraxis immer wichtiger wird
Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel und Dr. Christiane Ruberg schildern in ihrem Gastbeitrag den Mehrwert von alternativen Leistungsbeurteilungen und warum sie heute mehr denn je gebraucht werden.

Klausuren und Tests reichen nicht mehr aus: Um der Vielfalt der Lerngruppen in heutigen Klassenzimmern zu begegnen, sind neue, inklusiv und unterstützend wirkende Prüfungsformate vonnöten. Wie diese aussehen und welche Vorteile sie mit sich bringen, das beschreiben Professorin Silvia-Iris Beutel und Dr. Christiane Ruberg in diesem Gastbeitrag.
Schulen stehen heute mehr denn je vor einer Reihe von Herausforderungen: Sie müssen Integration und Inklusion verbessern, Kinder und Jugendliche auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten und ihnen auch Möglichkeiten außerhalb des Unterrichts bieten, Probleme der Welt zu erforschen und Lösungen für sie zu finden (Beutel & Ruberg 2023a). Dabei spielen Alternativen der Leistungsbeurteilung eine zentrale Rolle. Sie sind mittlerweile in allen Bundesländern in Gesetzen, Erlassen und Verordnungen umgesetzt und sollen transparent und nachvollziehbar Schülerinnen und Schüler an Routen des Lernens, an Kriterien des Erfolgs, am Gewinn von Feedback beteiligen.
Welche alternativen Verfahren sich bereits bewährt haben
Von der Grundschule bis in die Oberstufe hinein gibt es inzwischen gut erprobte Instrumente und Verfahren. Sie sind diagnostisch wie didaktisch unverzichtbarer Teil eines pädagogischen Qualitätsmanagements für den Umgang mit der Vielfalt an Lernvoraussetzungen und Lerninteressen der zu Unterrichtenden. Dazu gehören etwa Logbücher, individuelle Gelingensnachweise, zu denen sich Schülerinnen und Schüler selbstständig in Lernzeiten anmelden können, Lerncheck-Alternativen als entwicklungsbezogenes Feedback und Kompetenzlandkarten. Sie sind Teil eines Repertoires, um Lernwege zu visualisieren, Fortschritte aufzuzeigen und bei auftretenden Schwächen Unterstützungsangebote bereit zu halten.
Welche Vorteile die neuen Wege der Leistungsbeurteilung bringen
Alternativen in der Leistungsbeurteilung helfen dabei, Selbst- und Fremdeinschätzung abzugleichen und sind unverzichtbar, um das Lernen differenziert zu organisieren. Das ist auch in gemischten Jahrgängen und schulübergreifender Kooperation von großem Vorteil. Eine neue Prüfungskultur sollte auch darauf achten, dass sie den unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedingungen gerecht wird, die die Forschung immer wieder bei den nachwachsenden Generationen nachweist: Vielfalt ist in allen Lerngruppen an jeder Schule gegenwärtig und bedarf eines Prüfungsportfolios, das dafür konstruktive Lösungen bietet, die Fehlerquote der tradierten Ziffernbenotung verringert und über klassische Formate der Leistungserbringung wie Klausuren und Tests hinausreicht.
Das sind die zentralen Merkmale einer neuen Prüfungskultur
Nicht nur im Hinblick auf die Förderung von Zukunftskompetenzen, sondern auch angesichts der Herausforderungen im Bildungssystem, den festgestellten Lernrückständen und psychosozial wie emotional erkennbaren Bedürfnissen der Heranwachsenden, ist eine Abkehr von traditionellen Prüfungsformaten hin zu einer inklusiven und unterstützenden Prüfungspraxis naheliegend. Zentrale Aspekte für eine neue Prüfungspraxis sind persönliche Rückmeldungen basierend auf klaren Kriterien sowie die Unterstützung von Selbstregulation und Metakognition: also den Fähigkeiten, sich selbst zu organisieren und das eigene Lernen zu reflektieren. Wenn Schülerinnen und Schüler sich individuelle Ziele setzen können und deren Erreichen regelmäßig bewertet wird, kristallisiert sich heraus, wie sie lernen und wo sie stehen. Das gibt ihnen mehr Möglichkeiten, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen (Beutel & Ruberg 2023b). So können die Bildungserfolge der Lernenden unter Berücksichtigung ihrer spezifischen sozialen Umstände gewürdigt sowie im Rahmen „inklusiver Begabungsförderung“ (Fischer & Beutel 2023, S. 28) aufgenommen werden.
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Das System der Ziffernnoten ist seit vielen Jahren umstritten. Jun.-Prof. Nicolas Hübner erläutert im Interview, warum er es trotz begründeter Kritik derzeit nicht für ratsam hält, Schulnoten flächendeckend abzuschaffen.
Wie digitale Tools neue Prüfungsansätze unterstützen können
Die Förderung von Selbstregulation und metakognitiven Strategien gilt als wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches Lernen. Schmitz et al. (2007) beschreiben einen dreistufigen Prozess, der die Planung, Ausführung und Reflexion des Lernens umfasst. Das ist selbst während einer Prüfung möglich. Zusätzlich zum Fachwissen kann darin überprüft werden, wie gut jemand über die Aufgaben nachdenkt, wie er lernt, und wie er Fehler korrigieren kann, indem sie reflektiert und dokumentiert werden. Die Integration dieser Strategien in den Prüfungsprozess kann durch digitale Werkzeuge wie E-Portfolios und Mind-Mapping-Tools ergänzt werden.
Welchen Einfluss eine alternative Leistungsbeurteilung auf die Motivation der Lernenden haben kann
Aktuelle Studien verdeutlichen einen Mangel an adäquater Lernunterstützung insbesondere für Schülerinnen und Schüler in sozial herausfordernden Lagen. Hinzu kommt, dass die traditionelle Prüfungspraxis von vielen Beteiligten als psychisch belastend erlebt wird (Robert Bosch Stiftung 2023). Vor allem für leistungsschwächere Kinder und Jugendliche kann es motivierend sein, wenn man ihre persönlichen Fortschritte betont – wenn der Fokus auf dem Vergleich mit sich selbst liegt statt auf dem mit anderen (Lohbeck 2017). Außerdem zeigen internationale Studien, dass der Einsatz von entwicklungsorientierten Bewertungen, die dazu ermutigen, das eigene Lernen zu beobachten und selbstregulierende Lernmethoden anzuwenden, positive Auswirkungen auf die Lernergebnisse hat. (Meisels et al. 2003). Ein Schlüsselaspekt ist die Teilhabe der Schülerinnen und Schüler am Bewertungsprozess, die nicht nur die Lernmotivation steigert, sondern auch das Arbeitsverhalten und das leistungsbezogene Selbstkonzept positiv beeinflussen kann (Keuler 2019; Frisch 2019; Holtappels 2004).
Wie sich die diagnostische Qualität von Rückmeldungen verbessern lässt
Entwicklungsorientierte Prüfungsverfahren, die eine kontinuierliche und kriterienbasierte Rückmeldung ermöglichen, gehen nicht automatisch mit einer erhöhten Diagnosequalität einher (Bohl 2022). Entscheidend ist, dass Lehrkräfte grundlegende Kenntnisse über Diagnoseverfahren, Kriterien und Vergleichsmaßstäbe haben und gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen datengestützten Standards entwickeln und nutzen (Beutel & Ruberg 2024). Zudem müssen Lehrkräfte wissen, wie sie Lernende partizipativ in die Instrumente und Verfahren einbinden können. Dabei gilt es vor allem, nicht den Blick auf den einzelnen Lernenden in seinem individuellen und sozialen Kontext zu verlieren.
Fazit: Die Befähigung der Lernenden steht im Mittelpunkt
Alternativen der Lernbegleitung und eine neue Prüfungspraxis in der Leistungsbeurteilung fördern die Sichtweise, dass es in der Schule vor allem um die Schülerinnen und Schüler, ihr Erfolgserleben und ihre Kompetenzen zur Bewältigung der Herausforderungen des modernen Lebens geht. Dies steht im Einklang mit der demokratischen und pädagogischen Ansicht, dass Prinzipien wie Inklusion, Menschenrechte und Nachhaltigkeit das Verständnis von Lernen und Leistung beeinflussen sollten. So werden Lernende zu mehr als Empfängern von Wissen – sie können ihren Lernprozess aktiv mitgestalten und Verantwortung übernehmen.