Jungen für das Lesen begeistern: Forschungserkenntnisse für die Praxis

Schulen können die Lesemotivation durch Vielfalt und passgenaue Angebote aktiv unterstützen

Studien zeigen, dass Jungen seltener freiwillig lesen, eine geringere Lesemotivation aufweisen und bei nationalen sowie internationalen Vergleichsstudien wie IGLU oder PISA im Bereich Lesekompetenz oft hinter Mädchen zurückbleiben. Prof. Dr. Ina Brendel-Kepser forscht zu Gender und Leseförderung und gibt im Projekt boys & books konkrete Empfehlungen, wie die Lesemotivation von Jungen – und Mädchen – gezielt gefördert werden kann.

Redaktion: Frau Professorin Brendel-Kepser, dass Lesen wichtig ist, gilt gemeinhin als selbstverständlich. Wenn Sie die Bedeutung des Lesens in einem kurzen ‚Klappentext‘ zusammenfassen müssten – was würden Sie schreiben?

Professorin Brendel-Kepser: Lesen ist unser Schlüssel zur Welt. Es öffnet Zugänge zu Wissen, fördert Selbstvergewisserung und Weltverstehen. Es zeigt, wie scheinbar Fremdes im Text mit dem eigenen Leben in Verbindung stehen kann, regt zum Austausch an und ist zugleich individuell wie sozial. Lesen stärkt Empathie, Kritikfähigkeit und kulturelle Teilhabe – und ist deshalb unverzichtbar.

Redaktion: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit Gender- und Leseförderung. Studien wie IGLU oder PISA zeigen immer wieder, dass Jungen seltener lesen und im Bereich Lesekompetenz schlechter abschneiden als Mädchen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Brendel-Kepser: Die Leseforschung bietet verschiedene Erklärungen für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Lesekompetenz. Aus neurobiologischer Sicht werden sie mit zeitlich versetzter Hirnreifung begründet. Soziokulturelle Ansätze hingegen sehen Lesen als weiblich konnotierte Praxis und verweisen auf eine mangelnde Passung zwischen schulischer Lesekultur und den Interessen vieler Jungen. Diese erleben Lesen oft als fremdbestimmt, wenig sinnlich und sozial wenig anerkannt – besonders, wenn männliche Lesevorbilder fehlen und Lesen im Umfeld als „unmännlich“ gilt. 

Gleichzeitig darf Geschlecht nicht als alleinige Ursache gelten. Leseschwächen treten häufiger im Zusammenspiel mit Faktoren wie sozialem Status, Migrationshintergrund oder Schulform auf. Zudem kann der sogenannte Stereotyp Threat dazu führen, dass Jungen – aus Angst, dem Klischee zu entsprechen – tatsächlich schlechter abschneiden. Umgekehrt zeigt sich: Haben Jungen eine hohe Lesemotivation und ein positives Selbstkonzept, lesen sie ebenso gut wie Mädchen.

Redaktion: Im Projekt boys & books steht die Leseförderung von Jungen im Mittelpunkt. Was sind die zentralen Ziele des Projekts – und wie setzt es diese in der Praxis um?

Brendel-Kepser: Das Projekt „boys & books – Leseempfehlungen (nicht nur) für Jungen“ richtet sich an Lehrkräfte, Eltern und außerschulische Literaturvermittlerinnen und Literaturvermittler. Auf der gleichnamigen Plattform finden sie aktuelle Lektüretipps aus der populären Kinder- und Jugendliteratur – etwa Abenteuer, Krimis, Comics oder Fantasy –, die besonders bei Jungen und Wenig-Leserinnen und Wenig-Lesern beliebt sind, aber oft im Vermittlungsalltag übersehen werden. Eine Jury aus Expertinnen und Experten wählt zweimal jährlich zwanzig sogenannte Top-Titel für die Altersgruppen 8+, 10+, 12+ und 14+ aus. Die Auswahl basiert auf empirischen Erkenntnissen zu Lesevorlieben und orientiert sich an Kriterien wie Textzugänglichkeit und Themenvielfalt. Ausführliche Rezensionen sowie Hinweise zur Nutzung im Unterricht oder als Freizeitlektüre begleiten die Empfehlungen. Die Top-Titel-Poster sind kostenlos erhältlich. Darüber hinaus bietet die Jury bundesweit Vorträge zur gendersensiblen Leseförderung an.

Redaktion: Was wissen wir heute aus der empirischen Forschung über die Lesegewohnheiten  von Jungen – etwa in Bezug auf bevorzugte Textsorten, Lesemedien oder Leseanlässe?

Brendel-Kepser: Bekannt geworden sind die Geschlechterunterschiede beim Lesen als Fünf Achsen der Differenz, dazu zählen Lesequantität, Lesestoffe, Lesemodalitäten, Lesefreude und Lesekompetenz. Diese wurden durch aktuelle internationale Studien weiter differenziert. Bei den Lektürepräferenzen zeigt sich: Mädchen bevorzugen eher realistische Geschichten mit innerer Handlung und Identifikationspotenzial, während Jungen stärker zu actionreichen Abenteuern, fantastischen Stoffen, humorvoller Literatur und Sachtexten neigen. 

Gleichzeitig gibt es deutliche Schnittmengen: Laut TAMoLi-Studie, die schülerseitige Leseinteressen untersucht, zählen Science-Fiction/Fantasy, Abenteuer, Krimis und Horror zu den beliebtesten Genres beider Geschlechter – sowohl in der Freizeit als auch für Schullektüren. Diese Vorlieben spiegeln sich jedoch kaum in der Lektüreauswahl von Lehrkräften wider. Damit unterstreicht der Befund die didaktische Relevanz der boys & books-Top-Titel-Listen, die gezielt populäre Kinder- und Jugendliteratur in den Fokus rücken.

Redaktion: Welche Faktoren prägen die Lesesozialisation von Jungen heute und welche Rolle spielen dabei Gleichaltrige und dominante Geschlechterbilder?

Brendel-Kepser: Digitale Spiele, YouTube und soziale Netzwerke prägen das Aufwachsen in der mediatisierten Kindheit und Jugend. Sie bieten mit ihren schnellen, interaktiven Formaten passgenaue Gratifikationen für Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse – und setzen damit andere Maßstäbe für Aufmerksamkeit und Tempo als das vertiefte Lesen. Vor allem bei Jungen führt dies häufig dazu, dass Lesen in der mittleren Kindheit und Jugend durch audiovisuelle Medien verdrängt wird. Verstärkt wird dieser Trend durch Peergroups, in denen Lesen wenig präsent ist – besonders in bildungsfernen Milieus. Umso wichtiger ist es, neben der schulischen Leseförderung auch Lesemotivation, lesekulturelle Kompetenzen und ein stabiles Leseselbstkonzept gezielt zu stärken. 

Redaktion: Welche Modelle oder Konzepte der Leseförderung gelten aus heutiger wissenschaftlicher Sicht als besonders wirksam – und worin liegen ihre jeweiligen Stärken?

Brendel-Kepser: Effektive Leseförderung ist individuell und orientiert sich an den spezifischen Problemen der Schülerinnen und Schüler. Eine ausführliche Diagnostik bildet die Basis für evidenzbasierte Maßnahmen. Basale Lesefähigkeiten können etwa durch Lautlesetandems verbessert werden, die Lesegeschwindigkeit und Automatisierung fördern. Das Konzept „Wir werden Textdetektive“ trainiert verschiedene Lesestrategien, um die Texterschließung zu stärken. Schwieriger messbar sind die Förderung der Lesemotivation und ein positives Leseselbstkonzept. Das Projekt „Eigenständiges Lesen“ fördert lesekulturelle Kompetenzen, insbesondere die Fähigkeit, passenden Lesestoff selbst zu finden und auszuwählen.

Redaktion: Der schulische Literaturkanon ist nach wie vor stark männlich dominiert. Dennoch tun sich gerade Jungen schwer mit dem Lesen. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären – und welche Alternativen oder Ergänzungen wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Brendel-Kepser: Obwohl der Literaturkanon männlich geprägt ist, erreichen viele dieser Texte Jungen nicht – sie wirken lebensfern, hochliterarisch und wenig relevant. Für eine wirksame Leseförderung sollte daher die populäre Jugendkultur stärker einbezogen werden: Serienliteratur, Comics, Mangas, transmediales Erzählen und Medienverbünde schaffen Anschluss an jugendliche Lebenswelten und können als Türöffner zum Lesen wirken. Auch Sachbücher mit attraktiven Text-Bild-Kombinationen und Themenvielfalt sprechen unterschiedliche Interessen an. Zusätzlich bieten interaktive Formate wie Gamebooks, Rätsel- oder Escape-Bücher neue Zugänge, indem sie Jugendliche aktiv in den Verlauf der Geschichte einbinden.

Weiterlesen:  Wer mit Comics lernt, kann sich Schulstoff besser merken - das Projekt Comixplain untersucht, was Comics im Unterricht leisten können.

Redaktion: Welche konkreten Erkenntnisse oder bewährten Ansätze aus dem Projekt boys & books lassen sich aus Ihrer Sicht sinnvoll in Schule und Schulbibliotheken übertragen?

Brendel-Kepser: Einige Leseempfehlungen eignen sich direkt für den Unterricht, andere für freie Lesezeiten oder als Anregung für die Freizeit. Die Rezensionen der Expertinnen und Experten bieten detaillierte Hinweise zu Genre, Thema, Textschwierigkeit, Gestaltung und Medienbezug sowie didaktische Anknüpfungspunkte. Das Kriterienraster unterstützt Lehrkräfte dabei, die Passung von Text und Lesenden zu prüfen. Zusätzlich profitieren Schulen von unseren Beratungs- und Fortbildungsangeboten für Lehrkräfte.

Redaktion: Was braucht es neben einer Leseförderung im Schulalltag, um nachhaltige Lesemotivation aufzubauen?

Brendel-Kepser: Lesemotivation entsteht selten durch verpflichtende Schullektüren, doch die Schule trägt eine zentrale Verantwortung: Sie muss vielfältige, ansprechende Lesestoffe bieten und den kompetenten Umgang damit fördern – besonders weil viele Kinder außerhalb der Schule wenig Kontakt zu Büchern haben. 

Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche verschiedene Leseformen und Genres kennenlernen, um eigene Vorlieben und Lesegenuss zu entwickeln. Positive Leseerfahrungen im Alltag – in Familie, Peergroup und Freizeit – sind entscheidend. Niedrigschwellige, selbstbestimmte Leseorte wie Leseclubs, Bibliotheken, Buchhandlungen oder andere Einrichtungen der Jugendhilfe bieten dafür ideale Rahmenbedingungen. Dort wird Lesen als sozialer und sinnstiftender Prozess erlebt, der Begeisterung weckt und weiterträgt.

Redaktion: Frau Professorin Brendel-Kepser, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Ina Brendel-Kepser ist Professorin für Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Leseförderung, literarische Sozialisation sowie Social Reading und Writing. Sie verantwortet das Transferprojekt boys & books.