KI sinnvoll in den Unterricht integrieren: Darum lohnt sich ein Blick in die Niederlande

Im Bildungsbereich könnten Schüler:innen davon profitieren, wenn Forschung und Wirtschaft KI-Anwendungen gemeinsam entwickeln

Gerade im Bildungsbereich verschwinden wissenschaftliche Projekte und Anwendungen oft wieder in der Schublade, sobald ihre Förderphase endet. In den Niederlanden geht das National Education Lab AI (NOLAI) einen anderen Weg: Hier arbeiten Wissenschaft, Schulpraxis und Wirtschaft zusammen, um evidenzbasierte KI-Projekte langfristig in den Unterricht zu integrieren. Nico Tuncel hat sich vor Ort ein Bild davon gemacht.

Im Hörsaal der Radbound-Universität in Nijmegen herrscht gespannte Aufmerksamkeit. Am Pult steht Professor Johan Jeuring – Experte für KI in der Bildung. Er präsentiert die Arbeit des National Education Lab AI (NOLAI), einem Vorzeigeprojekt der Niederlande. Jeurings Botschaft ist klar: KI-Integration braucht mehr als Technologie. Sie erfordert vor allem eine durchdachte Strategie der Zusammenarbeit. NOLAI setzt deshalb auf eine enge Partnerschaft zwischen Wissenschaft, Bildungseinrichtungen und Wirtschaft.

Am NOLAI kooperieren Forschung und Wirtschaft

Dass die Vernetzung von Akteuren entscheidend für nachhaltige Innovationen im Bildungsbereich ist, betont auch Inge Molenaar, Professorin für Bildung und Künstliche Intelligenz und Direktorin des National Education Lab AI, in ihrer Studie „Towards hybrid human-AI learning technologies“. Dazu entwickelte sie zwei Modelle, die als gemeinsame Wissensgrundlage für Forschende, Lehrkräfte, Unternehmen und politische Entscheidungsträger dienen sollen.

Das erste Modell, das „Detect Diagnose Act“-Framework, beschreibt zunächst, wie KI im Unterricht funktioniert: Die KI sammelt und analysiert Lerndaten von Schülerinnen und Schülern und schlägt auf dieser Basis pädagogische Maßnahmen vor. Damit macht das Modell deutlich, welche Rolle KI im Bildungsbereich übernehmen kann und welche nicht.

Das zweite Modell, das Automatisierungsmodell, zeigt sechs Stufen der Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Lernenden und KI-Systemen – von vollständiger Kontrolle durch die Lehrkraft bis hin zu weitgehender Automatisierung. Molenaar hebt besonders die vierte Stufe hervor, die sie als „bedingte Automatisierung“ bezeichnet. Hier übernimmt die KI bestimmte Aufgaben, etwa die Analyse von Lerndaten oder das Anbieten individueller Lernempfehlungen. Die Lehrkraft bleibt jedoch in der Lage, jederzeit steuernd einzugreifen.

Die zentrale Schlussfolgerung der Studie ist, dass KI nicht die Lehrkraft ersetzt, sondern sie gezielt unterstützt. Besonders die „bedingte Automatisierung“ bietet laut Molenaar die beste Balance zwischen technischer Effizienz und pädagogischer Kontrolle. Ihre beiden Modelle sollen dabei helfen, einen informierten Austausch zwischen Bildungspraxis, Wissenschaft, und Wirtschaft zu ermöglichen. Die differenzierte Betrachtung ermöglicht es politischen Entscheidungsträgern, sinnvolle Rahmenbedingungen für den KI-Einsatz zu definieren, Unternehmen, passende Technologien zu entwickeln, und Bildungsfachleuten, die Integration von KI in den Unterricht zu erleichtern.

So entwickelt das NOLAI KI-Anwendungen

Jedes Projekt am NOLAI startet mit einer zentralen Frage: Was benötigen Schulen? In enger Abstimmung mit Bildungseinrichtungen wird ermittelt, welche KI-Technologien Lehrkräfte und Lernende tatsächlich unterstützen können. In der Konzeptphase werden zunächst pädagogisch-didaktische Grundlagen erarbeitet, bevor die technische Entwicklung beginnt. Anschließend durchlaufen Prototypen Testphasen an Schulen und werden kontinuierlich optimiert. Die abschließende Validierung erfolgt an verschiedenen Schulstandorten: Erfüllt die Technologie die Anforderungen? Wie bewerten Lehrkräfte und Lernende die Nutzung? Die Erkenntnisse münden in einen Abschlussbericht. Zeigt sich ein Potenzial für den breiten Einsatz, entwickelt NOLAI in Zusammenarbeit mit Unternehmen Strategien für die Markteinführung.

Welche KI-Anwendungen den Unterricht schon heute unterstützen

Die erfolgreiche Zusammenarbeit zeigt sich in konkreten Projekten, die Künstliche Intelligenz gezielt für den Bildungsbereich nutzbar machen. Ein Beispiel ist die Entwicklung KI-gestützter Leseförderungssysteme mit automatischer Spracherkennung. Die Software analysiert gesprochene Texte, gibt gezieltes Feedback zur Aussprache und unterstützt Schülerinnen und Schüler dabei, ihre Sprachflüssigkeit zu verbessern. Gleichzeitig erhalten Lehrkräfte detaillierte Einblicke in die Kompetenzentwicklung ihrer Klassen.

Ein weiteres Projekt nutzt Virtual Reality, um Vorschulkinder mit Bildungsrückständen beim Wortschatzerwerb zu fördern. In immersiven Lernumgebungen – von Berglandschaften bis hin zu Wüstendünen – erleben sie neue Begriffe im passenden Kontext, was das Lernen besonders anschaulich macht.

Trotz dieser Fortschritte steht die Forschung zum Einsatz (generativer) KI im Unterricht noch am Anfang. Erste Studien zeigen jedoch vielversprechende Ansätze: KI kann Lernaufgaben generieren (Küchemann et al., 2023), diese bewerten (Latif & Zhai, 2024), als Tutor fungieren (Limo et al., 2023) und Lehrkräfte bei der Unterrichtsplanung unterstützen (Lee & Zhai, 2024). Auch beim automatisierten Feedback zeigen sich positive Effekte hinsichtlich inhaltlicher Korrektheit und Nützlichkeit (Wedenig et al., 2023).

Dennoch bleiben zentrale Fragen offen. Neumann et al. (2024) untersuchen beispielsweise, wie Lernende fehlerhafte KI-Antworten erkennen, wie sie KI-generiertes Feedback wahrnehmen und welche Kompetenzen Lehrende sowie Lernende für einen sinnvollen KI-Einsatz benötigen. Zudem müssen mögliche Risiken berücksichtigt werden: Eine Studie von Michael Gerlich (2025) legt nahe, dass die Fähigkeit zum kritischen Denken durch den Einsatz von KI beeinträchtigt werden könnte. Dass weitere empirische Forschung notwendig ist, um das transformative Potenzial von KI für den Unterricht fundiert zu nutzen, steht daher außer Frage. 

Wie Deutschland mit KI-Anwendungen in der Bildung umgeht

In Deutschland steckt die systematische Integration von Künstlicher Intelligenz in Schulen noch in den Anfängen. Die Jugendstudie „Pioniere des Wandels – Wie Schüler:innen KI im Unterricht nutzen möchten“ der Vodafone Stiftung Deutschland zeigt jedoch, dass viele Jugendliche großes Potenzial in KI sehen: 73 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler betrachten ihren Einsatz im Unterricht als Chance, 69 Prozent halten sie für wichtig für ihre berufliche Zukunft. Dennoch ist das Thema an nur 38 Prozent der Schulen tatsächlich angekommen. Während KI im Unterricht also noch selten genutzt wird, greifen 74 Prozent der Jugendlichen in ihrer Freizeit bereits auf KI-Anwendungen zurück – am häufigsten auf ChatGPT (46 Prozent), Google Lens (25 Prozent), Apple Siri (24 Prozent) und Snapchat My AI (19 Prozent). 

Gleichzeitig wird in Deutschland die Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft traditionell kritisch betrachtet. Zwar gibt es bereits Kooperationen mit Unternehmen, doch sie stehen unter besonderer Beobachtung, um ungewollten Einfluss auf den Unterricht zu vermeiden. Die Idee, Schulen mit KI fit für die Zukunft zu machen und dabei die finanzielle sowie fachliche Expertise von Unternehmen zu nutzen, klingt vielversprechend – wirft jedoch auch Fragen auf. Wo liegt die Grenze zwischen sinnvoller Unterstützung und der Einflussnahme externer Akteure auf das Bildungssystem?

Die Erfahrungen aus den Niederlanden zeigen jedoch, dass eine erfolgreiche KI-Integration in Schulen nicht allein von der Technologie abhängt, sondern vor allem von einer systematischen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Schulpraxis, Wirtschaft und Politik. Die Chancen sind groß: Richtig eingesetzt kann KI Lehrkräfte entlasten und Lernende gezielt fördern. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Deutschland sich an den Niederlanden orientiert und einen ähnlich kooperativen Weg einschlägt.

  • Küchemann, S., Steinert, S., Revenga, N., Schweinberger, M., Dinc, Y., Avila, K. E., & Kuhn, J. (2023). Physics task development of prospective physics teachers using ChatGPT. Physical Review Physics Education Research, 19, 20128 
  • Latif, E., & Zhai, X. (2024). Fine-tuning chatgpt for automatic scoring. Computers and Education: Artificial Intelligence, 100210 
  • Limo, F. A. F., Tiza, D. R. H., Roque, M. M., Herrera, E. E., Murillo, J. P. M., Huallpa, J. J., & Gonzáles, J. L. A. (2023). Personalized tutoring: ChatGPT as a virtual tutor for personalized learning experiences. Przestrzeń Społeczna (Social Space), 23(1), 293–312 
  • Gerlich, M. (2025). AI Tools in Society: Impacts on Cognitive Offloading and the Future of Critical Thinking. Societies, 15(1), 6 
  • Molenaar, I. (2022). Towards hybrid human‐AI learning technologies. European Journal of Education, 57(4), 632-645 
  • Neumann, K., Kuhn, J., & Drachsler, H. (2024). Generative Künstliche Intelligenz in Unterricht und Unterrichtsforschung–Chancen und Herausforderungen. Unterrichtswissenschaft, 52(2), 227-237 
  • Vodafone Stiftung Deutschland. (2024). Pioniere des Wandels: Wie Schüler KI im Unterricht nutzen möchten. 
  • Wedenig, H. H., Franz, A., Kaminski, J. J., Holzhausen, Y., & Peters, H. (2023). KI-gestützte Kommentierung und Feedback für Test-enhanced Learning mit Multiple-Choice-Fragen im Medizinstudium. Jahrestagung der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA), 14, 16–9