KI und Co.: Wie die Digitalisierung des Unterrichts nach didaktischen Standards gelingen kann
Prof. Julia Knopf über die Integration von Künstlicher Intelligenz und digitalen Medien im Unterricht

Digitale Medien und Künstliche Intelligenz bieten enorme Chancen für den Unterricht – doch wie setzt man sie sinnvoll ein? Professorin Julia Knopf, Expertin für digitale Lehr- und Lernprozesse, spricht im Interview über den richtigen Zeitpunkt für den Einsatz digitaler Tools, den reflektierten Umgang mit KI und praxisnahe Beispiele für verschiedene Fächer.
Redaktion: Frau Professorin Knopf, in der aktuellen Diskussion um digitale Lehr- und Lernprozesse stellt sich oft die Frage, ab wann digitale Tools und Geräte im Unterricht sinnvoll sind. Manche argumentieren, dass Kinder erst analog grundlegende Fähigkeiten erlernen sollten. Wie sehen Sie das?
Prof. Dr. Julia Knopf: Die erste Frage, die man sich hier stellen muss, ist: Was verstehe ich eigentlich unter digital? Digitale Medien und Angebote umfassen ein weites Feld – gehören beispielsweise Hörspiele schon dazu? Oder digitale Stifte, die analoge Bücher erweitern? Diese Vielfalt macht es notwendig, genau zu überlegen, wie digitale Tools in den Unterricht eingebunden werden können. Ich denke, es gibt kein „zu früh“, wenn man einen erweiterten Begriff digitaler Angebote hat. Bleiben wir etwa beim Hörspiel, beim Hörbuch oder bei erweiterten Bilderbuch-Angeboten: Solche Medien lassen sich bereits in der Kita und im Kindergarten sehr gut einsetzen. Gerade im Deutschunterricht, aber auch in anderen Fächern wie den Naturwissenschaften, bieten sie wertvolle Ergänzungen: Neben dem direkten Erleben in der Natur können Experimente durch kurze digitale Clips ergänzt werden, die Kinder dann in der Realität nachstellen. Für mich stellt sich nicht die Frage, ab wann man digitale Medien einsetzt, sondern vielmehr, wie man sie sinnvoll kombiniert. Das Ziel ist es, verschiedene Zugänge – auditiv, haptisch und visuell – so zu verbinden, dass eine nachhaltige Kompetenzentwicklung gefördert wird.
Redaktion: Welche konkreten Anwendungsbeispiele sehen Sie für den Einsatz digitaler Medien schon im Grundschulalter?
Knopf: Ein zentraler erster Zugang liegt für mich im auditiven Bereich. Ich nutze sehr gerne digitale Möglichkeiten, insbesondere KI-gestützte Tools, um individuelle Hörtexte zu erstellen. Diese helfen, auditive Fähigkeiten zu schulen und können leseschwache Kinder oder Schüler:innen mit Deutsch als Zweitsprache unterstützen, indem sie Inhalte akustisch verfügbar machen oder Texte in vereinfachter Sprache bereitstellen. Die digitalen Möglichkeiten zur Erstellung solcher Audiotexte haben sich durch KI-Tools erheblich verbessert und bieten inzwischen vielfältige Chancen zur Differenzierung.
Ein zweiter relevanter Bereich ist das Verfassen von Texten. Wir müssen uns bewusst machen, dass bereits Grundschüler:innen KI-Tools wie ChatGPT, Perplexity oder Claude nutzen, um Texte generieren zu lassen. Statt dies zu verbieten, bieten sie eine wertvolle Gelegenheit, Schreibprozesse zu reflektieren: Was schreibt die KI? Welche Passagen sind sinnvoll? Wo müssen Schüler:innen aktiv ausbessern? Eine mögliche Aufgabe wäre es, KI-generierte Erlebniserzählungen zu vergleichen, zu bewerten und anschließend zu überarbeiten, sodass ein bewusster Umgang mit Sprache gefördert wird. In diesem Sinne kann die KI als eine Art Schreibpartner im Unterricht eingebunden werden.
Ein drittes Beispiel ist der Einsatz von Apps als Ergänzung zum klassischen Bilderbuch. Gerade dort, wo Bücher Leerstellen lassen, können digitale Angebote durch auditive und visuelle Elemente neue Interpretationsansätze bieten und das Verständnis durch interaktive Komponenten vertiefen.
„Wir können nicht verhindern, dass Schüler:innen KI nutzen, aber wir können ihnen beibringen, es klug zu tun.“
Prof. Dr. Julia Knopf
Redaktion: Haben Sie keine Bedenken, dass KI dazu führen könnte, dass Schüler:innen wichtige Kompetenzen „überspringen“, sich das Denken abnehmen lassen und sich zu sehr auf KI verlassen?
Knopf: Ich verstehe diese Ängste, aber ich halte sie für fehlgeleitet. Ja, KI kann Aufgaben automatisieren, aber sie kann auch herausfordern. Wenn wir Schüler:innen beibringen, mit KI richtig umzugehen, dann müssen sie sich mit Sprache, mit Inhalt und mit Struktur auseinandersetzen. Schüler:innen müssen befähigt werden, KI-Ergebnisse zu bewerten und gegebenenfalls zu korrigieren. Dazu gehört unter anderem das Erkennen von KI-Halluzinationen, also fehlerhaften oder erfundenen Informationen. Ein weiterer zentraler Punkt ist der Umgang mit Prompting. Die Qualität der KI-Antworten hängt maßgeblich davon ab, wie gut eine Anfrage formuliert ist. Das bedeutet, dass Schüler:innen lernen müssen, präzise Fragen zu stellen und sich mit verschiedenen Formulierungen auseinanderzusetzen. Das allein ist eine wertvolle sprachliche und analytische Übung. Lehrkräfte sollten KI als Chance begreifen, Schüler:innen kritisches Denken, Medienkompetenz und einen reflektierten Umgang mit digitalen Tools beizubringen. Dies gelingt jedoch nur, wenn Lehrkräfte selbst in diesem Bereich gut geschult sind. Daher braucht es kontinuierliche Fortbildungen, um Lehrkräften die Sicherheit zu geben, KI sinnvoll und didaktisch gewinnbringend in den Unterricht einzubinden. Letztlich müssen wir anerkennen, dass Schüler:innen bereits auf KI zugreifen – ob im Unterricht oder zu Hause. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten sie davon abhalten. Viel sinnvoller ist es, KI bewusst in den Lernprozess zu integrieren, sodass Schüler:innen lernen, mit ihr umzugehen, sie kritisch zu hinterfragen und gezielt als Unterstützung zu nutzen. Wir können nicht verhindern, dass Schüler:innen KI nutzen, aber wir können ihnen beibringen, es klug zu tun.
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Redaktion: Wenn wir einen Blick über die Grenzen Deutschlands werfen: Wie wird die Integration digitaler Geräte in den Unterricht in anderen Ländern gehandhabt?
Knopf: Es gibt einige Länder, die schon früh tragfähige Konzepte zur Nutzung digitaler Endgeräte im Unterricht entwickelt haben. Häufig werden Island, Finnland, Dänemark oder Schweden als Vorbilder genannt. Diese Länder haben nationale Strategien erarbeitet, die nicht nur Geräteempfehlungen enthalten, sondern auch klare Leitlinien für den pädagogischen Einsatz digitaler Medien vorgeben. Allerdings erleben wir derzeit eine gegenläufige Entwicklung: Einige dieser Länder, die lange als Vorreiter galten, ziehen sich nun teilweise von digitalen Endgeräten im Unterricht zurück. Doch hier muss man genau hinsehen. Es gibt einen Unterschied, ob digitale Geräte nur in den Pausen verboten werden – was durchaus sinnvoll sein kann, um soziale Interaktionen zu fördern – oder ob sie auch im Unterricht ausgeschlossen werden, weil es an durchdachten Konzepten fehlt. Ich sehe häufig, dass Verbote eher aus Unsicherheit oder fehlenden Fortbildungen resultieren als aus einer fundierten pädagogischen Überlegung.
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Redaktion: Sind Sie gegen pauschale Verbote von zum Beispiel Smartphones an Schulen?
Knopf: Eine Schule braucht keine pauschalen Verbote oder Freigaben, sondern präzise Anwendungsbeispiele. Es geht nicht um die Frage „Dürfen wir digitale Geräte einsetzen oder nicht?“, sondern um die Frage „Wie setzen wir sie konkret ein?“ Wenn ich einer Lehrkraft zeigen kann, wie ein Tablet gezielt im Deutschunterricht der dritten Klasse genutzt wird, um Schreibkompetenzen beim Verfassen einer Bildergeschichte zu fördern, dann hat sie eine klare Vorstellung davon, wie Digitalisierung im Klassenzimmer funktionieren kann. Aber dieser Prozess ist extrem kleinschrittig. Allein in einer einzigen Jahrgangsstufe gibt es unzählige Kompetenzen, die vermittelt werden müssen, und für viele davon gibt es digitale Unterstützungsangebote. Es ist utopisch zu glauben, dass wir für jede Kompetenz eine perfekte digitale Lösung haben können. Mein Ansatz ist daher: Wir müssen praxisnahe Beispiele geben, um die Kreativität der Lehrkräfte zu fördern und ihnen konkrete Wege aufzeigen, wie sie digitale Endgeräte gezielt und didaktisch sinnvoll in den Unterricht einbinden können.
„Wir müssen nicht alles nachahmen oder uns auf Instagram und TikTok ‚anbiedern‘. Aber wir müssen wissen, was dort passiert – unabhängig vom eigenen Alter oder der eigenen Mediennutzung.“
Prof. Dr. Julia Knopf
Redaktion: Können Sie solche konkreten Anwendungsbeispiele nennen?
Knopf: Das erste Beispiel ist Lesen To Go. Hier geht es darum, Kindern – insbesondere in der Primarstufe – einen echten Zugang zur Literatur zu ermöglichen. Wir sprechen oft davon, dass Lesen nicht die Lieblingsbeschäftigung aller Kinder ist, und genau da setzt diese Plattform an. Sie richtet sich sowohl an Lehrkräfte als auch an Eltern und unterstützt dabei, Kindern einen niederschwelligen, aber motivierenden Zugang zu Büchern zu bieten. Auf der Seite gibt es nicht nur klassische Buchtipps, sondern auch Empfehlungen für Lese-Apps und praxisnahe Projekte, etwa Lese-Rallyes oder interaktive Lesespuren. Darüber hinaus beantworten wir häufige Fragen von Eltern: Ist es normal, wenn mein Kind lieber auf dem Tablet liest? Wie kann ich mein Kind zum Lesen motivieren? Durch diesen crossmedialen Ansatz – also die Verknüpfung von Apps, Büchern und digitalen Angeboten – schaffen wir neue Möglichkeiten, Kinder für das Lesen zu begeistern.
Das zweite Beispiel ist School2Go, eine KI-gestützte Software für die Unterrichtsvorbereitung. Diese Plattform haben wir speziell für Lehrkräfte entwickelt und kürzlich auf der Didacta vorgestellt. Anders als generische KI-Tools, die oft trivialisierte Unterrichtsvorschläge wie Quizze oder Memorys generieren, liefert School2Go didaktisch fundierte Ergebnisse. Die Software basiert auf Lehrplänen, ermöglicht differenzierte Unterrichtsvorbereitung, kann Inhalte in verschiedene Sprachen übersetzen und sogar passgenaue Bilder generieren. Die Idee dahinter ist, dass Lehrkräfte nicht nur Zeit sparen, sondern auch gezielt dabei unterstützt werden, qualitativ hochwertige Unterrichtsmaterialien zu erstellen, die sich direkt an den Anforderungen des Schulalltags orientieren.
Das dritte Beispiel ist das You Code Girls-Projekt. Programmieren wird in vielen Ländern bereits verpflichtend in den Lehrplan integriert, und mit diesem Projekt möchten wir gezielt Mädchen und junge Frauen für das Coden begeistern – allerdings über einen anderen Zugang. Unser Ansatz ist nicht, eineinhalb Stunden Scratch-Übungen durchzuarbeiten, sondern wir setzen auf Interessenorientierung. Die Teilnehmerinnen können beispielsweise ein Taylor-Swift-Konzert programmieren, eine Frühlingslandschaft digital gestalten oder Animationen mit Tieren erstellen – eben genau das, was sie anspricht. Auf diese Weise entwickeln sie spielerisch eine Affinität für das Programmieren und den kreativen Umgang mit Technologie. Uns geht es nicht darum, alle zu Softwareentwicklerinnen zu machen, sondern eine generelle Offenheit für digitale Technologien zu schaffen.
Redaktion: Ein Thema, das rund um die Bundestagswahl und den digitalen Auftritt populistischer Parteien wie der AfD immer wieder diskutiert wird, ist Medienkompetenz. Wie kann sie effektiv an Schulen vermittelt werden?
Knopf: Entscheidend ist, dass Medienkompetenz in die bestehenden Fächer eingebunden wird. Gerade jetzt wäre es enorm wichtig, mit Schüler:innen konkret zu analysieren, wie sich beispielsweise extreme Inhalte in TikTok-Videos erkennen lassen. Aber das darf nicht an einer einzigen Wochenstunde Medienkompetenz hängen bleiben. Wenn Medienkompetenz wirklich vermittelt werden soll, dann muss sie sich in den konkreten Unterrichtskontext einfügen – in den MINT-Fächern genauso wie in Sprache, Literatur oder Sport. Besonders deutlich wird das in Sozialkunde oder dem Politikunterricht. Wenn man sich anschaut, wie sich politische Parteien auf TikTok präsentieren, dann dürfte es seit Wochen kaum ein relevanteres Thema im Unterricht geben. Hier bieten sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive zahlreiche Ansätze, um Mechanismen zu analysieren, Strategien zu hinterfragen und eine kritische Reflexion zu fördern. Für mich bedeutet das: Lehrkräfte müssen sich aktiv mit diesen Medien auseinandersetzen, sich fortbilden und mit offenen Augen in diesen digitalen Räumen unterwegs sein. Wir müssen nicht alles nachahmen oder uns auf Instagram und TikTok „anbiedern“. Aber wir müssen wissen, was dort passiert – unabhängig vom eigenen Alter oder der eigenen Mediennutzung. Denn es ist die Lebensrealität der Schüler:innen, und wenn wir sie dabei nicht begleiten, überlassen wir das Feld anderen.
Redaktion: Sie haben auf der Didacta gesagt, dass noch viel mehr Kommunikation mit Lehrkräften nötig ist, um Digitalisierung nach didaktischen Standards umzusetzen. Was möchten Sie Lehrkräften und Schulleitungen mitgeben, die bereits motiviert sind und ihren Unterricht entsprechend verbessern möchten?
Knopf: Der wichtigste erste Schritt ist die Aufklärung und Sensibilisierung für digitale Technologien – insbesondere für KI. Ich empfehle Schulen dringend, KI-Aufklärungsworkshops für alle Lehrkräfte anzubieten. In unserer School-to-Go-Academy haben wir festgestellt, dass dies der beste Einstieg ist. Es geht nicht darum, dass jede Lehrkraft sofort zur KI-Expert:in wird, sondern darum, Neugier zu wecken und Ängste abzubauen.
Der zweite zentrale Schritt ist, Lehrkräfte genau dort zu unterstützen, wo sie konkrete Herausforderungen haben – also in der Unterrichtsvorbereitung und der Differenzierung. Gerade hier bietet KI enormes Potenzial: Lehrkräfte können mit KI-Unterstützung passgenaue Materialien erstellen, diese an verschiedene Lernniveaus anpassen und Inhalte effizient differenzieren. Das spart Zeit und erhöht die Unterrichtsqualität. Ein dritter großer Punkt ist die rechtliche Unsicherheit. Auf der Didacta war eine der meistgestellten Fragen: Wie sieht es mit Datenschutz und DSGVO aus? Hier müssen Schulen klare Regeln festlegen und sich an DSGVO-konforme Plattformen halten. Es ist wichtig, schulintern eine Orientierung zu schaffen, damit Lehrkräfte wissen, was sie bedenkenlos nutzen können.
Und schließlich ein ganz wesentlicher Punkt: fachspezifische Maßnahmen statt allgemeiner Digitalisierungskonzepte. Digitalisierung muss im jeweiligen Fach konkret nutzbar sein – sei es in den MINT-Fächern, in den Sprachen oder in den Gesellschaftswissenschaften. Schulen sollten daher regelmäßige Innovationsformate etablieren, in denen Lehrkräfte sich über aktuelle Entwicklungen austauschen, denn deren Geschwindigkeit ist enorm. Beispielsweise gibt es gerade interaktive Podcasts, bei denen man mit KI spricht, die in Echtzeit reagiert. Solche Entwicklungen muss man beobachten: Ist ChatGPT noch das beste Tool? Sollte man stattdessen Claude oder Perplexity nutzen? Jeder bekommt hier und da Infos mit – entscheidend ist, dass diese systematisch gesammelt und bewertet werden. Deshalb mein Rat an Schulen: Etablieren Sie ein festes Format, alle zwei Wochen oder einmal im Monat, in dem neue digitale Trends und Innovationen vorgestellt und gemeinsam diskutiert werden. Digitalisierung ist kein einmaliges Projekt, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Wer nicht dranbleibt, wird von der Entwicklung überholt.
Redaktion: Frau Professorin Knopf, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person
Prof. Dr. Julia Knopf ist Lehrstuhlinhaberin für Fachdidaktik Deutsch an der Universität des Saarlandes und geschäftsführende Leiterin des Forschungsinstituts Bildung Digital (FoBiD). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Entwicklung und Implementierung digitaler Lehr- und Lernprozesse, insbesondere im Deutschunterricht. Sie berät Schulen, Unternehmen und politische Institutionen zur digitalen Transformation im Bildungsbereich und engagiert sich in verschiedenen Gremien, darunter als Vorstandsmitglied des Didacta Verbands.





