Bildung zwischen Digitalität und Nachhaltigkeit: Wie Schule Zukunft gestalten kann

"Wir befinden uns in einer Phase der doppelten Transformation, die uns in eine digitalisierte und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Zukunft führen wird." (Acatech 2024, 5) Nicht nur national, sondern auch auf europäischer Ebene wird der Trend der "Digitainability" - des digitalen Aufbruchs wie auch der Transformation zur ökologischen Nachhaltigkeit - aufgegriffen und die Zielperspektive eines "gleichsam grüneren wie digitaleren Europa" formuliert (ebd.).
Die diesem Konzept inhärente Verantwortlichkeit geht unmittelbar mit einem klaren Auftrag für neue Bildungskonzepte einher (Leinfelder 2013, 283, Hoiß 2019, 13). Dieser Auftrag bedeutet jedoch weit mehr als eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen Klima und Umwelt im schulischen Rahmen, verbunden mit einem instrumentellen Einsatz digitaler Technologien. Im Bildungsbereich ist es unumgänglich, die beiden prägenden Aspekte unserer Zeit im Sinne eines Auftrags zur Transformation zusammen zu denken. Wird Nachhaltigkeit als Voraussetzung verstanden, um Lebensgrundlagen dauerhaft zu erhalten, und Digitalisierung, um auch in einer komplexen, wachsenden Gesellschaft Teilhabe und Wohlstand für alle zu ermöglichen, brauchen wir in der Breite ein anderes Verständnis davon, was und vor allem wie Kinder und Heranwachsende zukünftig lernen.
Gemeinschaftliches Lernen
In der Kultur der Digitalität (Stadler 2016) entstehen Bildungserfahrungen vermehrt aus gemeinschaftlichen Aushandlungsprozessen. Digitale Medien sind dabei inhärenter Bestandteil einer aktiven, sinnstiftenden Auseinandersetzung im sozialen Kontext (vgl. Allert & Richter, 2016). Kinder und Jugendliche benötigen deshalb mehr Lernumgebungen, die ihnen Zeit und Gelegenheiten bieten, sich kreativ und produktiv mit relevanten Themen auseinanderzusetzen. Digitale Medien kommen zum Einsatz, um sie zum Nachdenken über die Welt, zum kritischen Reflektieren und zum kommunikativen Austausch anzuregen. Vielfältige Beteiligungsoptionen und sinnvolle Unterstützungsmaßnahmen können dabei die Passung zu schulischen Bildungsgelegenheiten vor allem für Kinder und Jugendliche mit heterogener Lernausgangslage erhöhen (vgl. Hauck-Thum & Heinz, 2021). Im Rahmen der Austauschprozesse wird die Basis für eine kritische und reflektierte Meinungsbildung gelegt (vgl. Giesinger, 2007). Diese Kompetenz ist von besonderer Relevanz, da es nicht darum gehen darf, Lernende zum Zweck gesellschaftlicher Transformation zu instrumentalisieren (vgl. Singer-Brodowski, 2016). Heranwachsende haben vielmehr das Recht auf eine unabhängige Meinungsbildung und benötigen Anregungen zur kritischen Reflexion "über die Herkunft bestimmter Diskurse und der im Lehr-Lern-Setting dargebotenen Nachhaltigkeitsexpertise" (Parker, 2008, S. 55f.). Wenn Schule und Unterricht weiterhin primär auf der Vorstellung beruht, dass Lernen vor allem die Weitergabe von feststehendem Wissen an isolierte Individuen sei (vgl. Allert & Asmussen, 2017, S. 49), bleibt das Ziel, kritisches und reflektiertes Denken zu fördern, für viele Kinder unerreichbar (Hauck-Thum 2023).
CultureNature Literacy
Mit dem Konzept CultureNature Literacy (CNL) wird ein Bildungsansatz vorgestellt, der kulturelle Bildung mit Umweltbildung verzahnt, um im Anthropozän handlungsfähige und hoffnungsvolle Zukünfte zu gestalten. Das Anthropozän beschreibt das geologische Zeitalter, das die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und den biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozessen auf der Erde sichtbar werden lässt. Industrielle Aktivitäten verfügen ebenso wie natürliche Prozesse im Erdsystem über große Wirkmacht mit biophysikalischen Folgen von erdgeschichtlicher Bedeutung (vgl. Renn et al., 2018). "Dazu zählen der Klimawandel, der Verlust der Biosphären-Integrität, der stratosphärische Ozonabbau, die Ozeanversauerung, die Änderung biogeochemischer Flüsse (Phosphor-, Stickstoffkreisläufe), der Landnutzungswandel, die Süßwassernutzung, der atmosphärische Aerosolgehalt sowie die Einführung neuer Substanzen und Lebensformen." (Hoiß, 2019, S. 8f.)
Die Themen Umwelt und Klimawandel werden in der gesellschaftlichen Diskussion vielfach im Kontext von Katastrophen wahrgenommen: von Artensterben über Flutkatastrophe und Gletscherschmelze bis Viruspandemie und Waldbrand. Lehrende wollen und brauchen jedoch Mut machende Zukunftsbilder, nicht Katastrophenszenarien. Gegen Zukunftsangst und Klimasorge setzt CultureNature Literacy auf kulturelle Nachhaltigkeit – also auf Bildungsprozesse, die zu einer Kultur der Nachhaltigkeit beitragen und positive, gestaltbare Zukunftsvisionen eröffnen. CultureNature Literacy versteht sich als Fähigkeit zur reflektierten Teilhabe an medialer Kommunikation und zählt im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zu den zentralen gesellschaftlichen Aufgaben, um Kinder dazu zu befähigen, kritisch zu denken und zukunftsgerecht zu handeln (vgl. Leinfelder, 2013, S. 289ff). Bei der Gestaltung kompetenzförderlicher Lehr- und Lernsettings sind zentrale Merkmale zu beachten:
Authentizität und Relevanz
Komplexe Weltprobleme lassen sich nicht in künstlich konstruierten Schulbuchaufgaben erfahren. Lernen an realen Problemstellungen macht Lernprozesse relevant und zukunftstauglich. Es liefert nicht nur fachliches Wissen, sondern übt das Navigieren in unbekannten Situationen, das Recherchieren, das kritische Bewerten von Informationen und Quellen und das kreative Entwickeln von Lösungen. Diese Fähigkeiten sind unverzichtbar, um komplexe Probleme gemeinschaftlich in einem Team zu lösen, das unterschiedliche Perspektiven bündelt.
Ambiguität
Gemeinschaftliches Lernen sollte nicht versuchen, Komplexität künstlich zu vereinfachen, sondern Lernende dazu befähigen, mit Komplexität zu arbeiten. Indem Unsicherheit im Lernprozess zugelassen wird, lernen junge Menschen, sich davon nicht lähmen zu lassen, sondern zu improvisieren und dabei neugierig und flexibel zu bleiben. Diese innere Haltung ist die Voraussetzung, um im späteren Leben in einer komplexen Welt handlungsfähig und resilient zu sein. Ambiguitätstoleranz rückt als zukunftsrelevante Fähigkeit in den Blick, da sie dazu beiträgt, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit konstruktiv zu ertragen (Transfer für Bildung e.V. 2022).
Selbststeuerung und Flexibilität
Damit notwendige Aushandlungsprozesse unter Heranwachsenden gelingen, muss die Klasse oder Gruppe Schritt für Schritt lernen, sich selbst zu steuern, Feedbackschleifen einzubauen und während der Gespräche auf Änderungen agil zu reagieren. Die Fähigkeit zur Selbststeuerung des eigenen Lernens entspricht dem pädagogischen Leitziel einer Förderung der Mündigkeit des Menschen (Pätzold, 2008, 5) und dient gleichzeitig als Basis lebenslangen Lernens (Konrad 2024, 23). Für die Lehrkraft bedeutet dies, Kontrolle zu teilen und Vertrauen in die Fähigkeit der Lernenden zu haben, ihren Lernprozess mitzugestalten. Gleichzeitig benötigt die Lehrkraft hohe diagnostische Kompetenz, um rechtzeitig gezielt unterstützen zu können, ohne die Eigensteuerung der SchülerInnen zu untergraben.
Soziale und kulturelle Gestaltungskraft
Bildung in einer komplexen Welt zielt nicht allein auf Wissensvermittlung, sondern darauf, Heranwachsende zu befähigen, ihre soziale und kulturelle Umwelt mitzugestalten. Lernprozesse sollten deshalb Räume eröffnen, in denen kreative Ideen entwickelt, erprobt und umgesetzt werden können – sei es im sozialen Miteinander oder im gemeinschaftlichen kulturellen Ausdruck. Kreativität in der Kultur der Digitalität beschreibt die Fähigkeit des Individuums, sich als Teil der Gemeinschaft wahrzunehmen, durch den Gebrauch kreativer und produktiver Praktiken daran zu partizipieren und gleichzeitig von dieser wahrgenommen und anerkannt zu werden (Hauck-Thum & Heinz 2021). Individuelle Kreativität wandelt sich zunehmend zur gemeinschaftlichen Kreativität, die aus co-kreativen Prozessen erwächst.
Fazit
Gemeinschaftliches Lernen ist eine Notwendigkeit, um den komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kompetent begegnen zu können. Diese können nicht länger mit Denk- und Lernweisen des vergangenen Jahrhunderts bearbeitet werden. Lernende sollten von Anfang an befähigt werden, als TeamplayerInnen und MitgestalterInnen zu agieren, die sowohl wissensdurstig als auch wertebewusst sind, die offen auf Unbekanntes zugehen und gemeinsam handeln können. In diesem Verständnis geht Bildung aus veränderten Lehr- und Lernprozessen hervor, in denen Zukunft als in der Gemeinschaft gestaltbar erlebt wird.
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