Schule als sicherer Ort: Wie wir queere Jugendliche wirksam schützen können

Ich falle gleich mit der Tür ins Haus, nur für den Fall, dass sich nach den ersten Zeilen noch jemand fragt, ob das Folgende wirklich sooo relevant ist:
Etwa 25 % aller Suizidversuche unter Jugendlichen betreffen queere Jugendliche. Das bedeutet, dass queere Jugendliche drei- bis viermal so häufig versuchen, sich das Leben zu nehmen im Vergleich zu nicht queeren Jugendlichen (Clark et al., 2014; Krüger et al., 2022; Marshal et al., 2011). Diese Information muss sicher erst einmal verdaut werden, zumindest erging es mir so, als ich diese Zahl zum ersten Mal gelesen habe.
Was bedeutet queer?
Queer verweist in der Queer Theory auf Praktiken und gesellschaftliche Positionen, die zweigeschlechtliche und heterosexuelle Normen in Frage stellen. Ursprünglich ein englisches Schimpfwort für lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen, wird queer in Deutschland heute häufig als Sammelbegriff für „lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter*“ verwendet. Es gibt auch Menschen, die sich selbst als queer bezeichnen, jedoch nicht als lesbisch, schwul, bi, trans* oder inter*. Sie können oder wollen sich nicht in ausschließende Kategorien wie Frau/Mann, homosexuell/heterosexuell oder transgeschlechtlich/cisgeschlechtlich einordnen.
Ich möchte in dieser Kolumne nun keine Einführung oder einen Crash-Kurs über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt geben, dafür reicht der Platz nicht aus. Vielmehr möchte ich in den nachfolgenden Zeilen zwei ganz konkrete Ansatzpunkte mitgeben, was man als pädagogische Fachkraft tun kann, um das Leben von queeren Jugendlichen ein Stück weniger schmerzhaft und ein Stück sicherer zu machen. Oder anders ausgedrückt: How to be an Ally.
Allyship meint, dass Menschen in vorteilhaften Positionen (und heterosexuell zu sein, ist vorteilhaft) diese nutzen, um unterrepräsentierte oder benachteiligte Gruppen zu unterstützen.
Diskriminierungserfahrungen ernst nehmen
Eine im Jahr 2024 veröffentlichte Studie zum Alltag von queeren Jugendlichen (14 – 27 Jahre) in Bayern bringt es auf den Punkt: In allen Lebensbereichen sind queere Jugendliche in hohem Maß von Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen betroffen. 9 von 10 queeren Jugendlichen haben mindestens einmal Diskriminierung erlebt. Am häufigsten berichteten die Jugendlichen von institutioneller Diskriminierung – etwa durch die fehlende Sichtbarkeit von queeren Lebensrealitäten in Schulbüchern, Lehrmaterialien und im Unterricht. Auch wurde ihnen der Zugang zu queeren Lehrmaterialien verwehrt (Heiligers, Frohn, Timmermanns, Merz & Moschner, 2024).
Das deckt sich mit weiteren Studienergebnissen, und ich möchte ganz klar sagen:
- Wenn mehr als die Hälfte der Jungen und ein Fünftel der Mädchen die Vorstellung eines schwulen oder bisexuellen Freund:in unangenehm findet (Klocke, 2012),
- wenn 95 % der 15- bis 17-jährigen queeren Schüler:innen aus Angst vor Ab- und Zurückweisung ihre geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung in der Schule verstecken (European Union Agency for Fundamental Rights, 2020),
- wenn die Hälfte der 16- bis 29-Jährigen erleben, dass Lehrkräfte kaum klarmachen, dass abwertende Begriffe wie „schwul“ als Schimpfwort nicht okay sind (Küpper, Klocke, & Hoffmann, 2017).
- wenn queere Jugendliche, insbesondere trans* Jugendliche, häufiger Opfer von Mobbing und Gewalt (in Schulen) werden (Ahuja et al., 2015; Friedman et al., 2011; Earnshaw et al., 2020),
- wenn queere Jugendliche absichtliches oder unabsichtliches Ansprechen mit falschen Namen (zum Beispiel Deadnaming), Infragestellen oder Kontaktabbruch und Ausgrenzung sowie Gerüchte, Lügen, Imitieren und Lächerlichmachen erfahren (Heiligers, Frohn, Timmermanns, Merz & Moschner, 2024),
wie willkommen, sicher und akzeptiert kann man sich dann in einer Schulklasse oder in einer Institution fühlen? Wenn man schon als Kind oder jugendliche Person nicht so angenommen wird, wie man (perfekt) ist, wie sicher wird man sich dann jemals fühlen? Wann werden die nagenden Gedanken aufhören? Die immer begleitende Angst vor Ablehnung, vor Ausgrenzung, vor Gewalt? Wann darf man endlich man selbst sein?
Die Folge(n) dieses sogenannten Minoritätenstresses sind: Verminderter Selbstwert, Angststörung, Depression, Selbstverletzung, Substanzmissbrauch und Suizid. Aus Angst vor erneuter Diskriminierung vermeiden und distanzieren sich queere Jugendliche vom als bedrohlich empfundenen Kontext Schule, mit negativen Folgen für ihre Bildungs- und Zukunftsoptionen (Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2019; Pfister, 2024; Plöderl, 2020).
Ein erster Schritt hin zu einem Ally kann es demnach sein, die Lebensrealitäten von queeren Jugendlichen und Erwachsenen anzuerkennen, zu akzeptieren und ihnen zu glauben.
Schule sicherer machen
Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte können bei all dem einen entscheiden Beitrag leisten, dass sich queere Schüler:innen sicher fühlen. Nicht nur das Kindes- und Jugendalter ist entscheidend für die Suizidprävention von queeren Jugendlichen, auch ein unterstützendes Schulklima lässt sich als protektiver Faktor identifizieren (Ancheta et al., 2020; Peter, Taylor & Campbell, 2016). Jetzt wäre es einfach zu sagen, dass vor allem queere Lehrkräfte Akzeptanz vorleben und offen mit ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Orientierung umgehen sollten. Doch wenn die letzten Zeilen eines gezeigt haben, dann dass anders sein oft mit Schmerz begleitet ist. Es darf meines Erachtens nicht nur die Aufgabe von queeren Lehrkräften sein, Repräsentation zu schaffen, vielmehr sollte es die Aufgabe von heterosexuellen und cis-geschlechtlichen Lehrkräften sein, Akzeptanz vorzuleben, diversitätssensible Bildung zu fördern und sich als Ally stark zu machen.
All das bedeutet unter anderem, sich mit den eigenen Einstellungen, Haltungen und Handlungen auseinanderzusetzen (siehe mehr hinzu: Ballhaus, 2021). Wie verlief die eigene sexuelle bzw. geschlechtliche Erziehung und Sozialisation? Welche Werte und Normen wurden mir vermittelt und wie haben diese mich und mein Lehrkräftehandeln beeinflusst? Kenne ich solche Gedanken wie: „Ich habe ja nichts gegen ‚sowas‘, aber warum müssen ‚die‘ sich ‚so‘ küssen?“
Ebenso kann ich als pädagogische Fachkraft meine eigenen Materialien überprüfen. Wie wird Geschlecht in meinen (Unterrichts-)Materialien dargestellt? Bieten meine Materialien Identifikationspotenziale für alle Schüler:innen?
Und auf Schulebene können die schulinternen Strukturen, Konzepte und Abläufe überprüft werden. Welche Regeln, Gesetze, Abläufe und Strukturen fördern eine diversitätssensible und inklusive Schule? Und welche fördern Diskriminierungen? Gibt es All-Gender-Toiletten? Wie nehme ich die Diskussion um All-Gender-Toiletten wahr? Diversitätssensible Bildung ist anstrengend, und ja, da geht es auch ans Eingemachte.
Nun ist es leider so, dass der Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in pädagogischen Kontexten noch zu oft unbesprochen und die Vermittlung derselbigen von Stereotypen und Falschinformationen geprägt ist. Um dem entgegenzuwirken, haben Hannah Sawall, Daniela Schubert, Annika Spahn und Kim Lis Bieker im Rahmen des Queer Lexikon ein unfassbar gutes und kostenloses Kartenset herausgebracht, welches ich allen pädagogischen Fachkräften, neben der Handreichung von Ballhaus (2021), wärmstens ans Herz legen möchte. Mit 69 Karten wird eine kognitive und emotionale Auseinandersetzung mit queerem Leben ermöglicht und damit eine diskriminierungssensible und -arme Haltung gefördert. Das Kartenset ist sowohl für die pädagogische Arbeit mit jungen Menschen ab 14 Jahren, z. B. im Unterricht und in der außerschulischen Jugendarbeit, als auch für die Lehre an Hochschulen und für pädagogische Weiterbildungsangebote konzipiert. Das Queer Lexikon ist die größte deutschsprachige Online-Anlaufstelle zu sexueller, romantischer und geschlechtlicher Vielfalt und ein wichtiger Ort für viele Menschen, die nach umfassenden und verlässlichen Informationen über queere Themen suchen.
Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung, ja fast schon Mahnung abschließen. In den letzten Jahren ist eine besorgniserregende Entwicklung zu beobachten. In den USA werden queere Rechte zunehmend abgebaut, trans*feindliche Gesetze verabschiedet und Diversity-, Equity- und Inclusion-Programme (DEI) systematisch demontiert. Aber auch hier in Deutschland wächst der politische als auch gesellschaftliche Druck auf queere Menschen. Rechte Parteien hetzen gegen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt und fordern die Streichung queerer Themen aus den Lehrplänen. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass wir in pädagogischen Kontexten Räume schaffen, in denen queeren Jugendlichen gezeigt wird: Du bist nicht „falsch“. Du bist nicht allein. Du bist richtig, genauso wie du bist. Darum braucht es sichtbare Vorbilder, Räume, die Schutz bieten und Lehrkräfte, die Haltung zeigen.
Ich selbst bekomme täglich zu spüren, wie normalisiert Queerfeindlichkeit mittlerweile ist. Ich erhalte Beleidigungen, Gewaltandrohungen bis hin zu Mordfantasien – nur weil ich als queere Wissenschaftlerin sichtbar bin und mich nicht verstecke. Weil ich das fordere, was für heterosexuelle Menschen selbstverständlich ist:
Ich möchte mich sicher fühlen, wenn ich meiner Frau auf der Straße einen Kuss gebe.
Zum Thema:
- Lisa Niendorf auf der Biko 2025 im Gespräch mit Podcast-Host Alex Putzier von Basline Schule.
- Alle Kolumnen von Lisa Niendorf finden Sie HIER.