Kolumne

Wenn KI das Lernen überholt: Eine Gefahr für die Bildung

Eine Kolumne von Florian Nuxoll über Skill Skipping und über die Notwendigkeit, den Lernprozess selbst stärker in den Fokus zu rücken.

Künstliche Intelligenz (KI) ist längst in unserem Alltag angekommen und verändert viele Lebensbereiche – auch das Lernen. 

Als Lehrer benutze ich KI-Tools täglich. Sie helfen mir, Ideen für den Unterricht zu finden, Mustertexte für den Englischunterricht zu schreiben (ChatGPT) und zu verbessern (Deepl Write), und selbst bei Diagrammen greife ich auf ihre Unterstützung zurück (napkin.ai). Diese Technologien haben meine tägliche Arbeit effizienter gemacht und mir mehr Raum für die kreative Gestaltung des Unterrichts gegeben. Aber während ich diese Werkzeuge bewusst und gezielt einsetze, gibt es einen Bereich, der mir zunehmend Sorgen bereitet: Wie gehen die Schülerinnen und Schüler mit dieser Technologie um?

KI kann eine Bereicherung für den Lernprozess sein, z. B. um Texte zusammenzufassen, Verbesserungsvorschläge zu erhalten oder Argumente zu strukturieren. Aber was passiert, wenn die Technologie nicht zur Unterstützung des Lernens eingesetzt wird, sondern als Abkürzung? Was, wenn es nicht mehr darum geht, Kompetenzen zu entwickeln, sondern nur noch darum, Ergebnisse zu liefern?

Ich denke da an meine Nichte, die mir kürzlich erzählte, dass sie – wie viele ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler – ihre Geografie-Hausaufgaben im Leistungskurs einfach von einer KI erledigen lässt. Der Lehrer hat es nie gemerkt und die Ergebnisse waren befriedigend bis gut, manchmal sogar sehr gut. Aber das eigentliche Problem liegt tiefer:

Schülerinnen und Schüler können sich dem Lernprozess entziehen. Sie geben zwar das Endprodukt ab, aber der Weg dorthin, das eigentliche Lernen, findet nicht statt. Ich nenne das „Skill Skipping“

Lernen bedeutet nicht in erster Linie, ein fertiges Produkt zu haben. In der Schule geht es nicht nur darum, einen guten Text, ein beeindruckendes Poster oder eine überzeugende Präsentation abzuliefern. Es geht vor allem darum, sich Wissen selbst anzueignen und Kompetenzen zu erwerben – durch Recherchieren, kritisches Denken und eigenständiges Formulieren. Der Lernprozess ist das, was nachhaltige Bildung ausmacht. Wenn Schülerinnen und Schüler KI nutzen, um diesen Prozess zu überspringen, verlieren sie genau das: die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und wirklich zu lernen.

Im Berufsleben ist es oft unwichtig, wie man zu einem Ergebnis kommt – was zählt, ist das Endprodukt. Eine Ingenieurin muss nicht erklären, ob sie für ihre Berechnungen einen Taschenrechner, eine komplexe Software oder ihre Kopfrechenkünste benutzt hat, solange die Berechnungen stimmen. Ein Bäcker wird daran gemessen, ob seine Brötchen schmecken, nicht daran, wie er sie zubereitet hat. In der Bildung ist das anders: Hier zählt vor allem der Weg, nicht das Ziel.

Die Herausforderung für die Schulen und übrigens auch für die Hochschulen besteht nun darin, diese Gefahr für das Lernen zu erkennen und darauf zu reagieren. Es reicht nicht, den Schülerinnen und Schülern einfach zu sagen: „Lasst das!“ Viele werden – wie es viele von uns in ihrem Alter auch getan hätten – den bequemeren Weg suchen, wenn sie ihn finden können. Stattdessen müssen wir den Unterricht so gestalten, dass der Lernprozess wieder stärker in den Mittelpunkt rückt. Das bedeutet: weniger Fokus auf das Endprodukt und mehr Raum für den Weg dorthin. Die Methode „Flipped Classroom“ kann dabei helfen: Die Wissensaneignung findet z. T. zu Hause statt und die kognitive Aktivierung, das Schreiben und das Diskutieren im Unterricht.

Natürlich brauchen wir Phasen, in denen die Schülerinnen und Schüler im Unterricht mit Tablets oder Notebooks arbeiten und lernen, wie man generative KI richtig einsetzt. Gleichzeitig müssen wir Phasen schaffen, in denen digitale Werkzeuge bewusst ausgeschlossen werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen die Möglichkeit haben, ohne die Krücke der KI selbstständig zu denken, zu recherchieren und zu schreiben. Denn auch im digitalen Zeitalter bleibt die Fähigkeit zum eigenständigen Denken eine der wichtigsten Kompetenzen, die wir unseren Schülerinnen und Schülern mit auf den Weg geben können.

Die Möglichkeiten der KI sind vielfältig, dürfen aber nicht die Grundlagen des Lernens verdrängen. Es liegt in unserer Verantwortung, den Einsatz dieser Technologie so zu steuern, dass sie den Lernprozess fördert und nicht verkürzt. Das sind wir unseren Schülerinnen und Schülern schuldig – und letztlich auch der Gesellschaft, in die sie hineinwachsen.

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  • KI-erstellter Podcast zum Thema „Skill Skipping" von Florian Nuxoll

    Mit Hilfe einer KI habe ich meinen Kolumnentext in eine englischsprachige Podcastfolge umgewandelt. Hören Sie selbst: