Wissenschafts-Praxis-Transfer: Und täglich grüßt das Murmeltier

Ich habe 2018 mit meiner Promotion begonnen. Jahre des Studiums lagen hinter mir, gepaart mit der für mich damals bahnbrechenden Einsicht, dass die empirische Bildungsforschung nur so vor Erkenntnissen überquoll. Warum aber wussten dann meine Eltern nichts vom tertiären Herkunftseffekt? Oder warum glauben so viele Lehrkräfte immer noch daran, dass es Lerntypen gibt? Ganz zu schweigen von der schmerzhaften Erkenntnis, dass man als Wissenschaftler:in von den Schulen ja gar nicht mit offenen Armen empfangen wird. Wissenschaft trifft Praxis. Beziehungsstatus: Es ist kompliziert.
Im Herbst 2019 habe ich für meinen damaligen Chef und Erstbetreuer meiner Doktorarbeit (ja, die gibt es immer noch - ich bin dran, Anand) einen Vortrag vorbereitet. Der Titel des Vortrages lautete: Von Daten zu Taten. Im Kern ging es darum, wie der Transfer von der Bildungsforschung in die Schulpraxis gelingen kann und was es braucht, damit der Wunsch Wirklichkeit wird.
Fünf Jahre später sitze ich in einem Webinar von Bildung.Table. Es ist gut besucht, ich sehe viele bekannte und vertraute Gesichter. In über 60 Minuten diskutieren sehr geschätzte Personen wie Hans Anand Pant, Martina Dietrich, Cordula Heckmann und Thorsten Kühne über Themen, die ich schon im Herbst 2019 gehört habe. Und ganz gleich, wie sehr ich mich dagegen wehre - irgendwie fühle ich mich wie in diesem weihnachtlich anmutenden Film mit Bill Murray. Und dabei bin ich Anfang 30. Wie muss es sich für Wissenschaftler:innen anfühlen, die sich seit mehreren Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigen? Dass sich die Diskussionen wiederholen, zeigen diese beiden Zitate. Eines stammt aus dem Jahr 2006, das andere aus dem Jahr 2019. Was glaubt ihr, welches ist welches?
- „Trotz der verstärkten Transferaktivitäten und partieller Transferforschung erweist sich die Transferproblematik nach wie vor als virulent. So gibt es Anzeichen dafür, dass den Entwicklungsprogrammen in der Regel keine breitfächrigen Transfereffekte unterstellt werden können.“
- „Es gibt bisher allerdings keine auch nur annähernd überzeugende Theorie des Transfers von schulischen Innovationen und auch kaum Forschung dazu.“
Ich wünschte, ich könnte das kleine Quiz ähnlich spektakulär wie Günther Jauch auflösen und eine Menge Geld an die richtige Antwort knüpfen. Doch für heute belasse ich es bei einem Gefühl. Seid ihr überrascht oder würdet ihr bestätigend nicken, wenn ich sage, dass das erste Zitat fast 20 Jahre alt ist (Nickolaus, Ziegler & Abel, 2006, S. 9) und das zweite aus dem Jahr 2019 (Rolff, 2019, S. 49) stammt? Kein Wunder also, dass die Analogien zur Transferthematik so vielfältig wie kreativ sind: Neuer Wein in alten Schläuchen, Evergreen Transfer - oder eben Und täglich grüßt das Murmeltier. Aber warum eigentlich?
Viele kluge Menschen haben sich dazu schon viele schlaue Gedanken gemacht. Daher sind die folgenden Punkte nicht neu, aber man kann sie meines Erachtens gar nicht oft genug betonen:
Bildungswissenschaft und Transfer passen (noch) nicht zusammen...
… aber bemühen sich. Das Thema hat in der bildungspolitischen Programmatik Aufwind bekommen, was sich in aktuellen Forschungsprojekten wie LemaS-Transfer und QuaMath widerspiegelt. Trotzdem zeigt sich nach wie vor ein Transferstrategie-Defizit: Der Transfer wird nicht systematisch als wissenschaftliche Leistungsdimension betrachtet. Um diesem Defizit zu begegnen, begrüße ich den Schritt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, standardmäßig in den Projektanträgen eine Transferüberlegung zu fordern. Egal, wie qualitativ hochwertig diese Transferüberlegungen auch sein mögen – aber hey, ein Schritt ist ein Schritt. Viel zentraler finde ich, dass wir uns intensiver mit den Grundlagen auseinandersetzen, was wir unter Transfer verstehen. Von welchem Wissen und welchen Evidenzen sprechen wir eigentlich, wenn wir Transfer meinen? Welche Transferformate passen zu welchen Transfergegenständen? Sind Transfer und Vermittlungsaktivitäten Aufgaben der empirischen Bildungsforschung? Der Landesinstitute? Oder ist es Aufgabe der Lehrkräfte, sich entsprechend weiterzubilden? Eine stärkere Investition in den Ausbau der Implementations- und Transferforschung könnte Antworten liefern, statt im Murmeltiermodus die immer gleichen Fragen zu stellen.
Karriere und Transfer passen (noch) nicht zusammen
Doch Bildungswissenschaften und Transfer können nur so gut zusammengehen, wie es die Rahmenbedingungen zulassen. Im Wissenschaftssystem werden nach wie vor hochrangige Publikationen und das Einwerben von Drittmitteln belohnt, weniger die erfolgreiche Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Bildungspraxis,- politik und -verwaltung. Dies führt vor allem für Wissenschaftler:innen ohne Professur zu einem Dilemma: Sie müssen wählen zwischen Publikationen und Drittmittelakquise oder der praktischen Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse.
Kurzfristigkeit und Transfer werden nie zusammenpassen
Dieser Punkt wird meiner Erfahrung nach viel zu wenig beachtet. Forschungsprojekte haben oft begrenzte Laufzeiten, was dazu führt, dass ähnliche Fragen in verschiedenen Projekten immer wieder neu gestellt werden, anstatt auf vorhandenem Wissen aufzubauen. Ganz abgesehen davon, wie gelingend und nachhaltig Transfervorhaben mit einer 3 – 5-jährigen Laufzeit überhaupt sein können. Es würde mich nicht wundern, wenn in BiSS-Transfer, LemaS-Transfer, SchuMaS, lernen:digital und sicher auch in der Begleitforschung zum Startchancen-Programm dieselben (Transfer-)Fragen diskutiert werden. Ganz zu schweigen davon, dass der überwiegende Teil der Wissenschaftler:innen keine Ausbildung im Projektmanagement hat, aber plötzlich mittendrin ist. Wie hilfreich wäre es da, ganz im Sinne von Open Science, in einer zentralen Datenbank Projektergebnisse, Erfahrungen und bewährte Methoden systematisch zu sammeln und für zukünftige Forschung sowie für die gesamte Bildungsgemeinschaft zugänglich zu machen. Dies würde nicht nur vermeiden, dass in jedem neuen Projekt das Murmeltier zu Besuch kommt, sondern auch die Möglichkeit bieten, auf früheren Erkenntnissen aufzubauen und diese weiterzuentwickeln.
Eine radikale, für die Politik geradezu aberwitzige Alternative wäre es, mehr Dauerstellen im System zu schaffen. Statt sich ständig auf neue Drittmittelprojekte zu bewerben und die ohnehin schon überlastete Personalverwaltung weiter mit Neu- und Umsetzungsanträgen zu befeuern, könnten sich unbefristete Wissenschaftler:innen für neue Drittmittelprojekte abordnen lassen und ihre Expertise weitergeben. Und unter uns: Wenn man sich seit über 20 Jahren mit ähnlichen Transferfragen beschäftigt, wie innovativ kann dann Fluktuation sein? I’m looking at you, WissZeitVG.
Und ich hoffe, ich lehne mich damit nicht zu weit aus dem Fenster, aber nach meiner Recherche gibt es aktuell nicht eine einzige Transfer-Professur in der empirischen Bildungsforschung. Wäre ein Forschungspreis für Transfer nicht sehr erfrischend?
Ein Gutes hat das Murmeltieren: Ich muss mir auch in fünf Jahren keine Sorgen darum machen, dass mein Promotionsthema nicht mehr aktuell sein wird. Ich hoffe trotzdem, früher fertig zu sein.
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