Künstliche Intelligenz in der Schulentwicklung – das Vorbild Niederlande
Prof. Inge Molenaar berichtet, wie weit das Thema künstliche Intelligenz im Unterricht in den Niederlanden vorangeschritten ist
Wie integriert man künstliche Intelligenz (KI) in den Unterrichtsalltag an Schulen? Die Niederlande sind hier bereits einige Schritte weiter als Deutschland. Wie das dem Nachbarland gelungen ist und welche Schritte als Nächstes anstehen, erklärt Prof. Inge Molenaar von der Radboud University Nijmegen im Interview.
Redaktion: Frau Prof. Molenaar, wie weit ist die Integration von künstlicher Intelligenz an den Schulen in den Niederlanden vorangeschritten im Vergleich zu Deutschland?
Prof. Inge Molenaar: Ich denke, es gibt einen relativ großen Unterschied zwischen Deutschland und den Niederlanden, wenn es um das Vorhandensein entsprechender Technik an den Schulen geht. Schülerinnen und Schüler in den Niederlanden arbeiten häufiger mit digitalen Endgeräten, die meisten Kinder in Grundschulen nutzen Tablets, Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen haben ihre eigenen digitalen Geräte. Fast jede Form von Lehr- und Lernmaterial ist bereits digitalisiert, was auch während der Coronapandemie sehr hilfreich war. Damit haben wir ein sehr gutes Ausgangsniveau, um die Implementation von künstlicher Intelligenz an den Schulen voranzutreiben, und stehen im europäischen Vergleich an führender Stelle. Wir benutzen bereits großflächig adaptive Lerntechnologien – abgekürzt ALT – in der Grundschule. Sie passen das Lernmaterial an die Bedürfnisse der Lernenden an und geben direktes Feedback, ob etwas richtig oder falsch ist. ITS (intelligente tutorielle Systeme, Anm. d. Redaktion) sind dagegen noch wenig oder gar nicht im Einsatz. Im Kontrast zu ALT personalisieren ITS auf mehreren Ebenen, passen das Material an, geben ausführliche Rückmeldungen und ermöglichen vollständig personalisierte Lernverläufe.
Redaktion: Dass die niederländischen Schulen so weit voraus sind, ist nicht über Nacht passiert. In Ihrem Vortrag auf der KI-Fachtagung in Berlin erwähnten Sie, dass die Niederlande bereits seit 2014 großflächig an der Digitalisierung der Schulen arbeiten.
Molenaar: Das ist richtig. Wichtig hierbei ist, dass dieser Prozess bereits von Beginn an wissenschaftlich begleitet und die entsprechende Technik im konstruktiven Dialog mit den Praktikern an den Schulen immer wieder angepasst und optimiert wurde. Dabei wurde beispielsweise danach gefragt, wie die Schulen die Technik und Programme einsetzen, warum gewisse Optionen nicht genutzt werden, welche Programme oder Funktionen Schwierigkeiten bereiten. Es ging also um technische Veränderungen, aber auch um didaktische Verbesserungen. Oft wird angenommen, die Technologie in die Schulen zu bringen sei ausreichend. Das Gegenteil ist richtig – denn mit der Technik vor Ort beginnt die Arbeit erst: das Lernen, die Entwicklung, die Feinjustierung, die Innovation.
Redaktion: Wie war die Reaktion der Öffentlichkeit in den Niederlanden auf die jüngsten KI-Entwicklungen wie ChatGPT? In Deutschland ist man dem Thema von Schulseite aus zunächst recht kritisch begegnet.
Molenaar: Bei uns gab es zunächst eine ähnliche Reaktion. Hauptsächlich weil viele realisiert haben, dass Schülerinnen und Schüler nun ihre Hausarbeiten von der KI erledigen lassen können. Es gab also diese Erkenntnis, dass die bisher genutzten, behutsam entwickelten Lehr- und Lernprozesse von künstlicher Intelligenz wie ChatGPT zu großen Teilen ausgehebelt werden. Einige Schulen haben daraufhin versucht, diese Programme zu verbannen, bevor sie verstanden haben, dass das nicht funktioniert. Also begannen viele Schulen, anders mit dem Thema umzugehen und sich Fragen zu stellen wie: Wie kann man Hausaufgaben so verändern, dass sie nicht oder nur schlecht von KI generiert werden können – etwa durch persönliche Fragen oder bestimmte Verknüpfungen, die KI nicht so einfach lösen kann. Gleichzeitig wurde das Thema ins Lehren integriert und wurde mit den Schülerinnen und Schülern diskutiert: Wie sollte man mit Programmen wie ChatGPT arbeiten? Was kann so ein Programm leisten und was nicht? Schülerinnen und Schüler haben auch von sich aus gefragt: Ich werde mit solchen Systemen für den Rest meines Lebens arbeiten. Wie kann ich lernen, mit ihnen umzugehen, wenn meine Lehrkräfte mir das nicht beibringen?
Redaktion: Welche Risiken und Herausforderungen sehen Sie beim Thema KI in der Schule?
Molenaar: Natürlich denken wir darüber nach, was KI in der Schule für die Privatsphäre und die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler bedeutet. Viele der Daten gehen ja über Server direkt in die USA. Können wir also Puffer entwickeln, sodass wir Daten schützen und hier in Europa behalten und uns diese KI-Tools dennoch zur Verfügung stehen? Gleichzeitig geht es beim Thema Risiken dieser Technik im Bildungssystem auch um das Thema Eigenständigkeit, also die Frage: Wie stellen wir sicher, dass KI-Systeme nicht die Individualität und Menschlichkeit einschränken? Wie verhindern wir, dass Schülerinnen und Schüler selbst beim Lernen gewissermaßen zu Robotern werden? Wie gelingt es uns, dass Lehrkräfte up to date bleiben und verstehen, wie KI funktioniert und wie sie damit hybriden Unterricht gestalten können? Diese Themen werden durch Professionalisierungsprogramme und den Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Bildungspraxis im Rahmen des National Education Lab AI in den Niederlanden adressiert.
Redaktion: Sie erwähnten bereits, dass die Niederlande Europa in Sachen KI in der Schule anführen. Wo sehen Sie Europa im weltweiten Vergleich bezüglich der Integration von KI in Schulen?
Molenaar: Wir haben in Europa das große Problem, dass wir eine sehr diverse, fragmentierte Bildungslandschaft haben. Allein in Deutschland gibt es 16 Bundesländer mit eigenen Voraussetzungen, darüber hinaus all die weiteren Länder mit unterschiedlichen Sprachen, Curricula und Märkten. Deswegen ist es für das National Education Lab AI sehr wichtig, dass wir einen europäischen Heimatmarkt entwickeln, sodass unsere Entwicklungen und Fortschritte im Bereich KI hier nachhaltig wachsen können. Denn diese eigenen Entwicklungen brauchen wir. Bei meinem Besuch in China habe ich realisiert, wie schnell dort die Entwicklung von KI voranschreitet. Gleichzeitig ist deren Einsatz ebenda nicht die Art von KI und nicht die Art von Lehrmethodik, die wir in Europa wollen – es ist aber eine, die stark entwickelt wird und mit chinesischer Sicherheitstechnik ausgestattet bereits ihren Weg an europäische Schulen gefunden hat. Das muss uns besorgt stimmen. Und auch vonseiten der USA kommen Entwicklungen, die nicht unseren Werten und unserem System entsprechen. Daher ist es wichtig, dass wir in Europa Fortschritte machen, die Kontrolle behalten und unseren eigenen Weg gehen.
„Wer sagt, dass Unterricht von KI geprägt sein muss? Für mich ist die Rolle der Lehrkraft sehr entscheidend.“
Prof. Inge Molenaar
Redaktion: Wie sehen Sie die Rolle der Lehrkraft in einem Unterricht, der von künstlicher Intelligenz geprägt ist?
Molenaar: Wer sagt, dass Unterricht von KI geprägt sein muss? Für mich ist die Rolle der Lehrkraft sehr entscheidend. Lehrkräfte stehen wie in Deutschland auch in den Niederlanden wegen des Lehrkräftemangels unter hohem Druck. Während Lehrkräfte zunächst sehr darauf bedacht waren, in Bezug auf KI die Kontrolle zu behalten, höre ich inzwischen immer öfter, dass Lehrkräfte in KI eine hilfreiche Unterstützung sehen, mit der man dem Lehrkräftemangel begegnen kann. Ich bin kein großer Fan dieser Sichtweise, weil es Lehrkräfte braucht, um sicherzustellen, dass KI in der richtigen Art und Weise an der Schule genutzt wird. Es geht um die richtige Balance zwischen von der Lehrkraft geleitetem Unterricht und KI-Input. Dafür brauchen wir ein Ökosystem, in dem ein Dialog darüber möglich ist, wie KI im Unterricht eingesetzt wird – aus der Perspektive der Lehrkraft. Wenn Lehrkräfte rar sind und es nur noch darum geht, die besten Resultate zu erzielen, gerät das System und auch die Balance, die es für guten Unterricht mit KI braucht, unter Druck.
Redaktion: Welche positiven Entwicklungen und Möglichkeiten bringt das Thema KI an der Schule? Und was sind die nächsten Schritte, die nun im Umgang mit KI unternommen werden müssen?
Molenaar: Es gibt viele aufregende und kreative Beispiele dafür, wie KI den Unterricht bereichern kann. Zum Beispiel durch dialogisches Schreiben mit einer KI oder die Erkundung der verschiedenen Pflanzen in der natürlichen Umgebung mit einer KI, die Ihnen die Art der Pflanze, die Familie und die Beziehungen zwischen ihnen verrät. Doch um die Lehrkräfte dahin mitzunehmen, ist es wichtig, sie dort abzuholen, wo sie heute stehen. Wir sind in den Niederlanden sehr zufrieden mit dem Stand der Digitalisierung, nun geht es darum, die Computerprogramme smarter zu machen. Dazu gehört ein sensibleres, ausführlicheres Feedback der Systeme, die Möglichkeit von anpassbaren Aufgaben, den Ausbau der Tools an weiterführenden Schulen, wo die Anforderungen für KI-Technologien komplexer werden und auch mehr Forschung erfordern. Das sind alles Schritte, die wir in den nächsten zwei bis drei Jahren angehen werden. Wenn man herauszoomt, muss man zudem sagen, dass wir bisher nur in einer Sache gut sind: darin, zu verstehen, wie ein Kind Wissen entwickelt. Doch der Fokus auf kognitive Entwicklung reicht nicht aus, dies ist nur ein Teil der Bildung. Auch die soziale und emotionale Entwicklung gehört dazu, Selbstregulation ebenso. Nicht alle wichtigen Elemente des Lernens können in Einsen und Nullen erfasst werden: Sicherlich können nicht all die Intuition und all die Kenntnisse von Lehrerinnen und Lehrern in KI-Systeme integriert oder gar ersetzt werden. Wir haben noch viele Schritte vor uns. Es ist notwendig, gemeinsam mit Schulen, Lehrkräften und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu forschen, um in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen.
Redaktion: Frau Professorin Molenaar, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Inge Molenaar ist Professorin für Behavioural Science Institute und Orthopedagogics: Learning and Development an der Radboud University Nijmegen in den Niederlanden. Sie interessiert sich insbesondere für die Schnittstelle zwischen Bildung und Technologie und wie man individualisierte Systeme entwickeln kann, die auf die jeweiligen Bedürfnisse der Studierenden eingehen.