Langeweile: Wie sie entsteht und welche Strategien für Motivation sorgen
Dr. Lisa Stempfer, Bildungspsychologin an der Universität Wien, erforscht, wann Schüler:innen Langeweile empfinden. Und wie sich diese gezielt verringern lässt.
Da nicht jedes Thema für alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen spannend sein kann, lässt sich Langeweile im Schulalltag kaum vermeiden. Allerdings können Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, sobald sie die Ursachen dafür erkennen, gezielt Strategien einsetzen, um diese zu mindern. Entscheidend ist dabei vor allem, den Schülerinnen und Schülern die Bedeutung des Themas aufzuzeigen – unabhängig von Prüfungen und Noten.
Redaktion: Frau Stempfer, Langeweile wird im Bildungskontext oft übersehen. Wie sind Sie auf das Thema aufmerksam geworden und was hat Ihr Interesse an diesem Bereich geweckt?
Dr. Lisa Stempfer: Es stimmt, dass Langeweile von der Forschung lange übersehen wurde. Das liegt zum einen daran, dass Langeweile eine „leise“ Emotion ist und gelangweilte Schülerinnen und Schüler kaum „stören“. Dabei ist der Anteil der gelangweilten Personen gerade im Bildungskontext hoch – und die negativen Konsequenzen werden immer noch stark unterschätzt. Bei all den Herausforderungen im Bildungskontext kann der Eindruck entstehen, dass Langeweile die geringste Sorge ist. Dabei kann Langeweile ein Symptom von Bildungsverdrossenheit sein und Kinder und Jugendliche zu Verhalten motivieren, das für sie selbst, ihre Bildungskarriere und ihr Umfeld schädlich ist.
Redaktion: Gibt es eine allgemein akzeptierte Definition von Langeweile? Welchen Zweck hat die Emotion?
Stempfer: Es gibt eine Definition, die in der Langeweile-Forschung sehr gebräuchlich ist: „Langeweile ist das unangenehme Gefühl, eine bedeutungsvolle Tätigkeit ausüben zu wollen, aber nicht zu können“ (Eastwood et al., 2012). Das ‚Wollen, aber nicht können‘ in dieser Definition weist auf einen zentralen Konflikt hin, der für Langeweile typisch ist. Wir streben danach, sinnhaft und selbstbestimmt mit unserer Umwelt zu interagieren. Gelingt uns dies, erleben wir uns als wirksam und fühlen uns gut. Langeweile weist uns darauf hin, dass dieser Prozess gestört ist.
In der heutigen Zeit, in der Selbstoptimierung und Produktivität als erstrebenswert gelten, neigen wir dazu, uns möglichst schnell abzulenken. Wir empfinden Langeweile als lästig oder unwichtig. Das ist jedoch nicht richtig – Langeweile ist in vielerlei Hinsicht eine außerordentliche Emotion, die zentral für das menschliche Streben nach einem sinnerfüllten Leben ist, denn sie macht uns darauf aufmerksam, dass wir den aktuellen Status quo verändern sollten. Gleichzeitig sorgt Langeweile dafür, dass wir müde und träge werden; unsere Gedanken schweifen ab und wir scheinen uns nicht aus diesem Zustand erlösen zu können. Diese Diskrepanz gibt der Wissenschaft bis heute Rätsel auf.
„Sobald Schülerinnen und Schüler den Lernstoff als relevant (‚Ich will lernen‘) und kontrollierbar (‚Ich kann lernen‘) bewerten, sind sie der Langeweile einen guten Schritt voraus.“
Dr. Lisa Stempfer
Redaktion: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Lernende Langeweile empfinden?
Stempfer: Es gibt zahlreiche Faktoren, die das Entstehen von Langeweile in der Schule begünstigen. Dazu gehören die individuellen Interessen und Begabungen der Schülerinnen und Schüler, Faktoren der Lernumgebung – zum Beispiel das Ausmaß an Autonomie – , die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden und die Unterrichtsqualität. Da sich die individuellen und situativen Bedingungen jedoch nicht für alle Schülerinnen und Schüler verallgemeinern lassen, ist die individuelle Bewertung der Situation entscheidend. Langeweile entsteht vor allem, wenn Schülerinnen und Schüler eine Situation als über- oder unterfordernd wahrnehmen – also das Gefühl haben, wenig Kontrolle zu besitzen. Außerdem spielt es eine Rolle, ob sie die Situation als unwichtig oder bedeutungslos ansehen. Sobald Schülerinnen und Schüler den Lernstoff als relevant –‚Ich will lernen‘ – und kontrollierbar –‚Ich kann lernen‘ – bewerten, sind sie der Langeweile einen guten Schritt voraus.
Redaktion: Welche Rolle spielt die Lehrkraft im Zusammenhang mit Langeweile?
Stempfer: Lehrpersonen spielen eine zentrale Rolle für Emotionen, Lernerfolg und Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler. Sie vermitteln nicht nur Inhalte, sondern auch Arbeitshaltungen. Lernförderliche Bedingungen wie etwa eine strukturierte Klassenführung, Klarheit in den Instruktionen und das Fördern von Autonomie gelten als motivationsförderlich beziehungsweise als Schutzfaktoren gegen das Auftreten von Langeweile. Neben den Merkmalen des Unterrichts sind auch die Emotionen der Lehrpersonen selbst relevant. Im Sinne der Emotionsansteckung, im Englischen ‚emotion contagion‘, kann Langeweile bei Lehrpersonen zu vermehrter Langeweile bei Schülerinnen und Schülern führen. Umgekehrt gilt, dass auch der Enthusiasmus der Lehrpersonen gegen Langeweile schützen kann. Wichtig hierbei ist, dass Schülerinnen und Schüler die Emotionen der Lehrperson richtig deuten können. Studien zeigen, dass diese diagnostischen Kompetenzen sowohl bei Lehrpersonen als auch bei Schülerinnen und Schülern nicht ausreichend ausgeprägt sind. Beide Parteien tun sich also schwer damit, die Emotionen der anderen richtig einzuschätzen. Das liegt sicherlich auch daran, dass Langeweile im Unterricht oft maskiert wird – niemand will sich die eigene Langeweile anmerken lassen.
Redaktion: Was schlagen Sie vor?
Stempfer: Es ist wichtig anzuerkennen, dass Langeweile normal ist und selbst durch den perfekten Unterricht nicht immer verhindert werden kann, denn nicht jedes Thema kann zu jeder Zeit für alle Kinder – und die Lehrkraft – von leidenschaftlicher Lernfreude geprägt sein. Es ist durchaus als positiv anzusehen, dass sich die Interessen der Schülerinnen und Schüler in ihrer Schullaufbahn spezialisieren. So entwickeln Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Profil und verfolgen individuelle Ziele – und das geht manchmal eben mit Langeweile in anderen Fächern einher. Ein offenerer Umgang mit schulischer Langeweile zwischen Lehrpersonen und Lernenden könnte dabei helfen.
Redaktion: Gibt es Hinweise darauf, dass bestimmte Fächer oder Unterrichtsformen häufiger mit Langeweile in Verbindung gebracht werden?
Stempfer: So wie man über die Schönheit sagt, dass sie ‚im Auge des Betrachters‘ liegt, kann dies auch für die Langeweile formuliert werden – was für manche Schülerinnen und Schüler spannend ist, empfinden andere als todlangweilig. Es ist daher umso wichtiger, dass Lehrpersonen den Lernenden überzeugend vermitteln, warum Lerninhalte wichtig sind – unabhängig von Prüfungen und Noten.
Langeweile steigt über die Schullaufbahn hinweg an
Obwohl es noch zu wenige längsschnittliche Studien gibt, gibt es Hinweise darauf, dass das Ausmaß an erlebter Langeweile über die Schullaufbahn hinweg ansteigt und in der Hochschulzeit wieder sinkt. Als Grund hierfür wird das Zusammenspiel von biologischen und gesellschaftlichen Effekten angenommen. Kognitive Fähigkeiten wie Selbstregulation und Impulskontrolle sind in der Jugend noch nicht vollständig entwickelt. Dazu kommt, dass die Lebensbedingungen von Schülerinnen und Schülern allgemein relativ fremdbestimmt sind. Beides ein Prädiktor für Langeweile. Wenn die Entscheidungsfreiheit und Autonomie im jungen Erwachsenenalter steigen, nimmt auch die Langeweile wieder ab.
Redaktion: Wie wirkt sich Langeweile langfristig auf die schulische Laufbahn aus?
Stempfer: Wir wissen aus der Forschung, dass Schülerinnen und Schüler, die etwa Mathematik langweilig finden, sich schon relativ früh keine Karriere in diesem Feld mehr vorstellen können. Zudem hängt stärkere schulische Langeweile auch mit dem Schule-Schwänzen und sogar mit Schulabbrüchen zusammen. Schulische Langeweile kann also durchaus langfristige Auswirkungen auf die Bildungslaufbahn haben. Insbesondere ein rapider Anstieg an schulischer Langeweile sollte daher als ein Warnzeichen verstanden werden.
Redaktion: Wie wichtig ist das Eigeninteresse von Schülerinnen und Schülern für ihr Lernen?
Stempfer: Wenn sich Schülerinnen und Schüler für ein Thema interessieren, sind sie wahrscheinlich weniger gelangweilt. Interesse allein reicht in der Regel jedoch nicht aus, um erfolgreich zu lernen. Dafür müssen Lernende auch die notwendigen Fähigkeiten mitbringen, ihre Interessen zu verfolgen. Das hört sich leicht an, erfordert jedoch kognitive Kompetenzen wie Konzentration, Aufmerksamkeit und Selbstregulation. Studien zeigen, dass höhere kognitive Leistungen meist mit geringerer Langeweile einhergehen. Die Erklärung dahinter ist, dass es Menschen mit einer schnellen Auffassungsgabe meist auch besser gelingt, sich tiefgehend mit Themen jeglicher Art zu befassen. Dadurch erleben sie sich selbst als wirksame Akteure – etwas, das uns im Allgemeinen Freude bereitet. Es gibt allerdings auch Hinweise darauf, dass unterforderte Schülerinnen und Schüler – zum Beispiel aufgrund von Hochbegabung – verstärkt unter Langeweile leiden. Insbesondere, wenn im Unterricht nicht auf ihre individuellen Erfordernisse eingegangen wird.
Redaktion: Kann die Anpassung des Unterrichts an das jeweilige Lernniveau der Schülerinnen und Schüler Abhilfe schaffen?
Stempfer: Differenzierter Unterricht, wie diese Praxis auch genannt wird, hat das Potenzial, Lernende in Lernsituationen zu versetzen, die ihren individuellen Bedürfnissen optimal entsprechen. Das erhöht das Ausmaß an Kontrolle, ermöglicht den inhaltlichen Zugang zum Thema und das Erleben von Lernfortschritten, was einen Belohnungseffekt auslösen und weiter motivieren kann. Allerdings ist die praktische Umsetzung von differenziertem Unterricht mit Herausforderungen verbunden und birgt einen großen zeitlichen und organisatorischen (Mehr-)Aufwand für Lehrpersonen. Mehr Ressourcen und Unterstützung in der Umsetzung von differenziertem Unterricht wären daher wünschenswert.
„Das Vermitteln von Wert und Interesse sowie das Vermeiden von Unter- oder Überforderung gelten als Schutzfaktoren gegen das Auftreten von Langeweile.“
Dr. Lisa Stempfer
Können wir uns „zu Tode langweilen”?
Grundsätzlich gilt, dass Langeweile ein nützliches Signal und ein natürlicher Bestandteil unseres Alltags ist. Der richtige Umgang mit Langeweile kann problematischere Entwicklungen in der Regel abfedern. Eine viel zitierte Studie weist jedoch auf einen Zusammenhang zwischen Langeweile und einer geringeren Lebenserwartung hin. Menschen, die chronische Langeweile erleben, sich also für nichts mehr begeistern können, leiden vermehrt unter Depressionen – dieser Zusammenhang lässt sich bereits bei Jugendlichen beobachten. Dabei scheint insbesondere ‚Trait-Langeweile‘ relevant zu sein. Damit ist die Tendenz gemeint, sich häufiger und intensiver zu langweilen als Andere. Diese Eigenschaft wurde neben Depressionen auch mit Angststörungen, Delinquenz und anderen risikoreichen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht.
Redaktion: Welche Strategien können Lehrende und Lernende anwenden, um Langeweile zu reduzieren?
Stempfer: Langeweile entsteht in Situationen von Unter- und Überforderungen, insbesondere, wenn die Inhalte nicht relevant erscheinen. Das Ziel sollte daher immer sein, ein optimales Maß an Herausforderungen herzustellen und die Relevanz der Inhalte zu vermitteln. Zudem sollten Lehrpersonen dafür sorgen, die Lernumgebungen motivationsförderlich zu gestalten. Das heißt, Lehrpersonen sollten genügend Raum für Autonomie lassen, soziale Eingebundenheit ermöglichen, motivationsförderliches Feedback [siehe Infobox] bereitstellen und das Erleben von Kompetenz gewährleisten, etwa indem der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben nur leicht über dem individuellen Fähigkeitsniveau liegt.
Motivationsförderliches Feedback
Motivationsförderliches Feedback bezeichnet eine Form von Rückmeldung, die darauf abzielt, das Engagement, die Leistungsbereitschaft und die intrinsische Motivation von Schülerinnen und Schülern zu stärken. Eine wesentliche Rolle spielt dabei, wie das Feedback formuliert wird und welche Aspekte der Leistung oder des Verhaltens dabei hervorgehoben werden. Bei der Zuschreibung von Erfolg sollten internale, das heißt auf auf die eigene Person bezogene Attribute berücksichtigt werden, zum Beispiel durch Aussagen wie: „Das kannst du schon sehr gut!“. Misserfolge dagegen sollten variabel attribuiert, also durch veränderbare Attribute wie Anstrengung oder Arbeitsstrategie adressiert werden. Beispiele hierfür sind: „Hier musst du noch etwas mehr Zeit investieren“ oder „Diesen Aspekt hast du noch nicht genau genug gelernt.“
Für Schülerinnen und Schüler gilt, dass sich die kognitive Neubewertung als effektive Strategie in Studien herauskristallisiert hat. Dabei machen sich Lernende die Relevanz der Inhalte selbst bewusst. Die Crux ist, dass bestimmte Copingstrategien im Umgang mit Langeweile oft bereits zur Gewohnheit geworden sind. Hilfreiche Strategien sollten in Schulen daher konkret thematisiert werden. Zudem sollten Schülerinnen und Schüler ansprechen dürfen, wenn Lehrmethoden oder Inhalte ihnen zu langweilig sind. Der Umgang mit Langeweile im Klassenzimmer sollte Teamwork zwischen Lernenden und Lehrpersonen sein.
Redaktion: Haben Sie in Ihrer Forschung Hinweise darauf gefunden, dass Langeweile auch positive Effekte haben kann, zum Beispiel in Bezug auf Kreativität?
Stempfer: Dass Langeweile mit Kreativität zusammenhängt, wurde in den Medien vielfach rezipiert. Tatsächlich gibt es aber zu wenig Forschung zu diesem Thema, um diese Schlussfolgerung zu ziehen. In einer Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse zu Langeweile und Kreativität kommen wir im Gegenteil zu dem Schluss, dass Langeweile nicht mit Kreativität zusammenhängt. Die wenigen Studien, die es bisher zu diesem Thema gibt, sind aber sehr heterogen – es gibt also sowohl Hinweise auf positive als auch auf negative Zusammenhänge. Wenn man bedenkt, dass Langeweile zunächst Motivation reduziert, wir uns nur schwer konzentrieren können, müde oder rastlos werden und uns unwohl fühlen, kann man davon ausgehen, dass wir in einem solchen Zustand nicht zu kreativen Leistungen in der Lage sind. Allerdings hat Langeweile auch funktionale Effekte: Sie motiviert uns, die Situation zu ändern. Je nach Persönlichkeit führt das zu unterschiedlichen Reaktionen. Kreative Menschen neigen in der Regel dazu, der Langeweile mit kreativen Aktivitäten zu begegnen, während weniger kreative Menschen auf andere Strategien zurückgreifen.
Redaktion: Welche Handlungsempfehlungen zum Umgang mit gelangweilten Schülerinnen und Schülern können Sie geben?
Stempfer: Meine Empfehlung ist, keine Angst vor der Langeweile zu haben und das Thema offen zu besprechen. Dabei ist es wichtig, Unter- und Überforderungslangeweile zu differenzieren und die Verantwortung aller Beteiligten herauszustreichen. Eltern, Lehrkräfte und Lernende sollten beim Thema Langeweile zusammenarbeiten; es muss deutlich werden, dass es nicht um Schuldzuweisungen geht. Dafür braucht es Vertrauen. Langeweile einzugestehen kann bedeuten zuzugeben, dass man Inhalte nicht versteht oder Schwierigkeiten hat, deren Wert zu erkennen. Auch für Lehrkräfte kann das Eingeständnis von Langeweile mit Scham verbunden sein – strenge ich mich genug an? Liegt es daran, dass mir mein Beruf nicht genug Freude bereitet? Oft sind persönliche Empfindungen von Langeweile von vielen Vorurteilen begleitet. Die Bildungspolitik ist gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen diese Offenheit gelingen kann – zum Beispiel durch Schulungsangebote für Eltern und Lehrpersonal zum richtigen Umgang mit Langeweile.
Redaktion: Frau Doktorin Stempfer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Dr. Lisa Stempfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsinteressen gehören: Langeweile im Kontext von Lernen und Leistung, Schüler:innen-Lehrer:innen-Interaktionen und innovative Verfahren zur Messung von Emotionen.